Auf Neu-Pompeii, einem das unbewohnte System des Sterns ASTA umkreisenden Asteroiden

Neu-Pompeii war ein großer Asteroid, mit einem Äquatorumfang von knapp über viertausend Kilometern. Er gehörte zu den wenigen, allen Sonnensystemen eigenen Brocken, die es verdienen, Planetoid genannt zu werden; er war ziemlich rund, runder als die meisten Planeten, und sein Kern bestand aus besonders dichtem Material, was ihm zusammen mit seiner starken Zentrifugalkraft eine Schwere von 0,7 g verlieh. Daran mußte man sich erst gewöhnen, und die Leute neigten dazu, alles schneller zu machen und sich großartig zu fühlen, aber da es sich um eine Ferienwelt in Staatsbesitz handelte, war das nur gut.

Die Umlaufbahn war relativ stabil, viel mehr kreisförmig als elliptisch, wenngleich Tag und Nacht schwer auszuhalten waren; zweiunddreißigmal Sonnenauf- und -Untergang in fünfundzwanzig Weltrats-Standardstunden riefen Störungen im inneren Uhrwerk der Menschen hervor.

Die Unbehaglichkeit wurde teilweise ausgeglichen durch die Tatsache, daß die Hälfte des gesamten Planetoiden von einer riesigen Glocke aus sehr dünnem und leichtem Kunststoff eingehüllt war; die Glocke war ein guter Lichtreflektor und trübte den Blick, so daß es lediglich dunkler, dann heller und wieder dunkler zu werden schien, ganz ähnlich wie auf viel schöneren und natürlicheren Welten an einem teilweise bewölkten Tag. Die Leuchtwirkung erzeugte dünnes — weniger als einen Millimeter dickes — Gazematerial in halbflüssiger Form zwischen den beiden Schichten der Glocke. Alle kleinen Löcher wurden sofort abgedichtet. Selbst ein großes konnte notfalls lange genug geschlossen werden, um Sicherheitskuppeln um die Bevölkerungszentren im Inneren entstehen zu lassen. Komprimierte Luft, ergänzt durch die überall gepflanzte üppige Vegetation, hielt die Umwelt stabil.

Theoretisch war das ein Ort für Parteiführer auf Neuer Ausblick, um sich für eine Weile den Belastungen zu entziehen. Tatsächlich wußten von der Existenz der Ferienwelt nur wenige Leute. Diese waren alle Antor Trelig tief verbunden, der schließlich Parteivorsitzender war. Da der Asteroid durch Computer-Kampfsysteme sowohl auf nahen natürlichen Kleinasteroiden als auch in Spezialschiffen geschützt war, konnte niemand näher als auf ein Lichtjahr heran, ohne zerfetzt zu werden, es sei denn, Antor Trelig oder seine Leute hatten den Besuch gebilligt.

Auch politisch war der Planetoid unangreifbar; es hätte einer Mehrheitsentscheidung des Rates bedurft, gegen Treligs diplomatische Immunität und Souveränität dort einzudringen, und Trelig kontrollierte den größten Stimmenblock im Rat.

Als man Nikki Zinder nach Neu-Pompeii brachte, achtete sie kaum auf ihre Umgebung. Alles, woran sie denken konnte, waren Ben und sein Versprechen, er werde sie holen. Man brachte sie in einem behaglichen Zimmer unter; stille, gesichtslose menschliche Diener brachten Nahrung und räumten das Geschirr ab. Sie lag fast den ganzen Tag herum, preßte Kissen an sich und bildete sich ein, er sei bei ihr. Sie benützte gefundene Bleistifte und Papier dazu, zahllose Bilder von ihm zu zeichnen, die alle nicht sehr gelungen waren und ihn als engelhaften Supermann zeigten. Sie beschloß, für ihn abzunehmen, um ihn zu überraschen, aber seine Abwesenheit zusammen mit der immensen Vielfalt natürlicher Nahrung, die sie angeboten bekam, führte gerade zum Gegenteil. Jedesmal, wenn sie an ihn dachte, aß sie, und sie dachte unaufhörlich an ihn. Schon vorher übergewichtig, hatte sie nach Ablauf von sechs Wochen fast achtzehn Kilogramm zugenommen. Sie bemerkte es eigentlich nicht.

Zu verschiedenen Zeiten machte man Aufnahmen von ihr und ließ sie sogar etwas in einen Rekorder sprechen. Es machte ihr nichts aus. Es war ihr nicht wichtig.

Die Zeit war bedeutungslos für sie; jede Minute war schrecklich und endlos, solange er nicht da war. Sie schrieb kindliche Liebesgedichte an ihn und unendlich lange Briefe, die man ihm zuzustellen versprach.

Es dauerte acht Wochen, bis Gil Zinder alle zur Einstellung des Projekts erforderlichen Prozeduren abgeschlossen hatte und sich auf den Umzug vorbereitete. Yulins Rolle bei den ganzen Ereignissen war ihm noch immer unbekannt, aber er wurde etwas argwöhnisch, als der jüngere Mann sich mit solchem Übereifer erbot, am neuen Projekt Treligs mitzuarbeiten. Was Trelig anging, so überzeugte er Zinder davon, daß seine Tochter wenigstens noch lebte, indem er verschlüsselte Botschaften und Fingerabdruck- und Netzhautidentifikation zu den Aufnahmen lieferte. Die Tatsache, daß sie die Texte abgelesen hatte, störte ihren Vater nicht; das sagte ihm, daß sie noch immer normal lesen konnte, und daß Trelig sein Wort hielt und sie mit Schwamm versorgen ließ.

Zur endgültigen Verbringung des Computerzentrums nebst Konsole nach Neu-Pompeii mußte Obie, der die Wirklichkeit verändern oder beeinflussen konnte, von der Anlage getrennt werden. Und als sie es taten, machten sie eine verblüffende Entdeckung.

Zetta, die sie jünger und hübscher gemacht hatten, blieb so, wie sie geworden war, aber nun erkannte sie plötzlich, daß man sie verändert hatte. Die alten Gleichungen wurden wiederhergestellt, als Obie mit dem Mechanismus brach; sie blieb verwandelt, weil sie die Maschine dazu benützt hatten, sie zu verwandeln — aber jetzt wußte sie, daß sie verwandelt worden war.

Sie ging natürlich mit, so daß keine Gefahr bestand, irgendeine dritte Person, die das Potential des Geräts erkannte, würde die Neuigkeit verbreiten; aber Ben machte sich Sorgen.

Aus gutem Grund.


* * *

Nikki Zinder saß in ihrem Zimmer auf Neu-Pompeii. Sie aß und träumte wie üblich in den Tag hinein, als es plötzlich schien, daß ein Nebel sich von ihrem Gemüt hob und sie mit kristallener Klarheit zu denken begann.

Sie schaute sich im Zimmer um, das die Unordnung langen Bewohnens zeigte, als sähe sie es zum erstenmal. Sie schüttelte den Kopf und versuchte sich darüber klarzuwerden, was geschehen war.

Sie fühlte sich so, als hätte plötzlich die Wirkung eines Rauschgifts nachgelassen. Sie erinnerte sich, eingeschlafen zu sein, dann fiel ihr ein, daß sie sich rettungslos in Ben verliebt hatte, der sie mitgenommen und Leuten übergeben hatte, von denen sie hierhergebracht worden war. Sie verstand aber überhaupt nichts und fand auch keinen Zugang. Was sich zugetragen hatte, war traumhaft, so, als sei es mit jemand anderem geschehen.

Sie stand von dem kleinen Tisch auf, der noch mit Speisen beladen war, und schaute an sich hinunter. Sie konnte riesige Brüste und gerade noch etwas von der Wölbung darunter sehen, aber nicht ihre eigenen Füße. Ihr Atem stockte. Sie ging zu einem Schrankspiegel und betrachtete sich.

Sie hätte am liebsten geweint. Sie watschelte mehr, als daß sie ging, ihre Beine waren wund vom Aneinanderreiben der Schenkel bei jeder Bewegung. Ihr Gesicht war noch voller geworden, und sie hatte mehrere Kinne. Ihr Haar war stets lang gewesen, aber nun war es ungekämmt, zerzaust und verfilzt.

Und was das Schlimmste war, sie hatte Hunger.

Was ist mit mir geschehen? fragte sie sich, dann sank sie zusammen und weinte. Ihrer Panik tat das gut, aber sie fühlte sich nicht weniger elend.

»Ich muß hier weg, muß Daddy anrufen«, murmelte sie, dann fragte sie sich, ob er sie so, wie sie jetzt aussah, überhaupt noch liebte. Es gab aber sonst kaum eine Möglichkeit, und sie suchte nach Kleidung. Ich brauche wohl ein Zelt für zwölf Personen, dachte sie dumpf.

Sie fand ihr altes Nachthemd, sauber gewaschen und zusammengefaltet, und versuchte es anzuziehen. Es war zu eng und reichte bei weitem nicht tief genug hinunter. Schließlich gab sie es auf und dachte nach. Sie entdeckte das zerknitterte Laken auf dem Bett und vermochte es mit einigen Schwierigkeiten herunterzuziehen. Sie faltete es zusammen und verknotete es, so daß es wenigstens als Hülle dienen konnte. Dann fand sie auf dem Schreibtisch eine Büroklammer. Sie bog sie auseinander, gebrauchte sie als Nadel und konnte das Laken um sich festbinden.

Sie blieb am Schreibtisch stehen und blickte auf einen halbfertigen vielseitigen Brief. Es war tatsächlich ihre Handschrift, aber er las sich wie ein irrer erotischer Mischmasch. Sie konnte nicht glauben, daß sie ihn geschrieben hatte, trotz einer vagen Erinnerung daran, zuvor ähnliches verfaßt zu haben.

Sie ging zur Tür und lauschte. Es schien sich nichts zu rühren. Sie drückte auf die Taste, und die Tür ging auf. Vor ihr befand sich ein Korridor, ausgelegt mit einer Art Fell, der in der einen Richtung an vielen Türen vorbeiführte. In der anderen war es zu einer Aufzugtür nur ein kurzer Weg. Sie huschte darauf zu, versuchte den Lift zu rufen, sah aber an der Ruftafel, daß er codiert war. Sie schaute sich um, entdeckte hinter einem Raum, der als Wäschekammer zu dienen schien, eine Treppe und stieg hinauf. Die Wahl war leicht — es ging nur aufwärts.

Nach nur ungefähr zwei Dutzend Stufen keuchte sie schon, fühlte sich schwindlig und war außer Atem. Nicht nur das zusätzliche Gewicht spielte eine Rolle, sie hatte auch praktisch keinerlei Bewegung gehabt — wie lange? In über acht Wochen unaufhörlichen Essens hatte sie pro Woche über drei Kilogramm zugenommen.

Keuchend, während ihr Herz so schnell schlug, daß sie es spüren konnte, stieg sie weiter. Erneut wurde ihr schwindlig, ihr Kopf schmerzte sie, und sie konnte kaum weitergehen. Einmal erfaßte sie ein so starkes Schwindelgefühl, daß sie beinahe ausrutschte und stürzte. Als sie hinunterschaute, entdeckte sie, daß sie kaum zwölf Meter hoch gestiegen war. Sie kam sich vor, als hätte sie einen hohen Berg erklettert, und begriff, daß sie nicht mehr lange weitermachen konnte. Schließlich noch ein Absatz, noch eine Biegung, und sie sah eine Tür. Nach Luft ringend, mußte sie die letzten Meter beinahe kriechen.

Die Tür ging auf, und ein kleiner Mann mit Rattengesicht sah sie halb verächtlich, halb angewidert an.

»So, so, so«, sagte er.»Wo wollen wir denn hin, Flußpferdchen?«


* * *

Sie war so erschöpft, daß sie von drei Männern zum Aufzug zurück- und in ihr Zimmer getragen werden mußte. Ihren Fragen und Reaktionen entnahmen die drei, daß der Bann, unter dem sie gestanden hatte, gebrochen war. Aus einer gehorsamen Schwachsinnigen war eine nahezu hysterische Gefangene geworden.

Der Mann mit dem Rattengesicht gab ihr eine Spritze zur Beruhigung, und das half ein wenig. Während das Mittel zu wirken begann, rief er über eine Sprechanlage vor ihrem Zimmer an, um über ihren neuen Zustand zu berichten und Anweisungen einzuholen. Das dauerte nicht lange, und er kehrte ins Zimmer zurück und betrachtete sie. Sie atmete immer noch schwer, sah ihn aber an und flehte:»Würde mir, bitte, jemand sagen, wo ich bin und was hier vorgeht?«

Das Rattengesicht lächelte gemein.

»Sie sind der Gast von Antor Trelig, Hoher Rat und Parteivorsitzender von Neuer Ausblick, auf seinem Privatplanetoiden Neu-Pompeii. Sie sollten sich geehrt fühlen.«

»Geehrt?«fauchte sie.»Das ist ein Mittel, meinen Vater unter Druck zu setzen, nicht wahr? Ich bin eine Geisel!«

»Kluges Ding, was?«sagte der Mann.»Nun ja, Sie sind während der vergangenen zwei Monate sozusagen hypnotisiert gewesen, und jetzt müssen wir so mit Ihnen fertig werden, wie Sie sind.«

»Mein Vater —«, begann sie zögernd,»wird doch — er ist doch nicht…?«

»Er wird binnen einer Woche mit seinem ganzen Stab und allem hier sein«, erwiderte der Mann.

Sie drehte den Kopf zur Seite.

»O nein!«stöhnte sie. Dann dachte sie einen Augenblick daran, wie es sein würde, wenn er sie so sah.

»Ich möchte lieber sterben, als daß er mich so sieht«, sagte sie.

»Keine Sorge«, erwiderte der Mann grinsend.»Er liebt Sie auch so. Ihr Zustand ist die Nebenerscheinung einer Droge, die wir Ihnen zur Sicherheit gegeben haben. Normalerweise geben wir nur eine genau bemessene Menge Schwamm, aber wir mußten dafür sorgen, daß nichts passierte, um Ihr Gehirn zu schädigen, solange wir Ihren alten Herrn brauchen, und wir haben es gewissermaßen übertrieben. Eine Überdosis führt bei den einzelnen Leuten zu ganz unterschiedlichen Folgen. In Ihrem Fall haben Sie gefressen wie ein Pferd. Immer noch besser als umgekehrt, glauben Sie mir. Besser als andere Reaktionen auf Überdosierung, die z.B. auf die Hormone wirken, so daß die Mädchen ganz behaart werden und tiefe Stimmen kriegen, oft noch Schlimmeres.«

Sie wußte nicht, was Schwamm war, aber sie hatte die Vorstellung, daß man sie mit einer Droge süchtig gemacht hatte, die, wenn man sie nicht behandeln würde, ihr den Verstand zerfressen würde.

»Mein Daddy kann mich heilen«, sagte sie trotzig.

»Vielleicht«, meinte der Mann achselzuckend.»Ich weiß es nicht. Ich arbeite hier nur. Aber wenn er es kann, dann tut er es nur, weil der Chef es ihm erlaubt, und inzwischen werden Sie weiter auseinandergehen. Keine Sorge — manche mögen das.«

Die Worte und der Tonfall beunruhigten sie.

»Ich esse keinen Bissen mehr«, schwor sie.

»O doch«, sagte er, schickte die beiden anderen Männer hinaus und stellte die Tür allein auf äußere Betätigung durch Code.»Sie werden nicht aufhören können. Sie werden um Essen betteln — und wir müssen Sie doch bei Laune halten, nicht?«

Er schloß die Tür.

Sie brauchte nur drei Minuten, um sich zu vergewissern, daß die Tür nicht aufging, und sie war so sehr Gefangene wie zuvor, nur wußte sie es jetzt.

Und dann nagte der Hunger in ihr.

Sie versuchte einzuschlafen, aber der Hunger ließ es nicht zu. Er verzehrte sie, ausgelöst von der Überdosierung der Droge, die verschiedene Bereiche des Gehirns beeinflußte.

Der kleine Mann hatte recht gehabt; binnen einer Stunde glaubte sie zu verhungern und konnte an nichts anderes mehr denken als an Essen.

Die Tür ging auf, und ein Tisch voll Speisen wurde von einer Person hereingeschoben, die Nikki als die schönste Frau empfand, die sie je gesehen hatte. Die Serviererin lenkte sie einen Augenblick vom Essen ab, erstens, weil es menschliche Bedienung war, kein Roboter, und zweitens, weil die Frau so atemberaubend schön war. Dann stürzte sie sich auf die Nahrung, und die andere Frau wandte sich mit trauriger Miene zum Gehen.

»Warten Sie!«rief Nikki.»Sagen Sie — arbeiten Sie hier, oder sind Sie auch eine Gefangene?«

»Wir sind hier alle Gefangene«, erwiderte die Frau mit trauriger, melodischhoher Stimme.»Selbst Agil — der Sie gefunden und zurückgebracht hat. Agil und ich — nun, wir wissen aus erster Hand über Schwammüberdosierung und Antor Treligs Sadismus Bescheid.«

»Er schlägt Sie?«entfuhr es Nikki.

»Nein, das ist das wenigste, was in dieser Schreckenskammer vorgeht. Sehen Sie«, schloß sie und drehte sich an der Tür langsam um,»ich bin ein richtiger Mann. Und Agil ist meine Schwester.«

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