Jack L. Chalker Exil Sechseck-Welt

In den Gaemesjun-Labors, Makeva


Es war nicht die Tatsache, daß Gilgam Zinders Laborassistentin einen Pferdeschwanz hatte, die am sonderbarsten erschien; das wahrhaft Seltsame war, daß sie ihren Zustand nicht als merkwürdig oder ungewöhnlich zu empfinden schien.

Zinder war hochgewachsen und dünn, ein hagerer Mann mit grauen Haaren und einem langen, grauen Spitzbart, der ihn noch älter erscheinen ließ, als er in Wirklichkeit war, und eingefallener dazu. Seine blaugrauen Augen, gerötet und umgeben von dunkelnden Schatten, verrieten seine Überarbeitung. Er hatte seit zwei Tagen nicht daran gedacht, etwas zu essen, und Schlaf war eine theoretische Sache geworden.

Es war auch ein sehr eigenartiges Labor, angelegt etwa wie ein Amphitheater, mit einem kreisförmigen, erhöhten Podium, ungefähr vierzig Zentimeter über dem Boden, das als Bühne diente. Über der Bühne hing ein Gerät, das einer großen Kanone glich, aber in einem kleinen Spiegel endete, aus dem eine winzige Spitze ragte.

Eine Galerie führte um die Apparatur herum; hier, entlang der Wände, gab es Tausende von blinkenden Lampen, Skalen und Schaltern und vier Steuerkonsolen, gleichmäßig um den Kreis darunter verteilt. An einer davon saß Zinder; ihm unmittelbar gegenüber saß ein viel jüngerer Mann in glänzender Schutzkleidung an einer zweiten. Zinders Labor-Overall sah aus, als sei er im letzten Jahrhundert angefertigt worden.

Die Frau, die auf der erhöhten Scheibe stand, war von unauffälligem Aussehen, Ende dreißig und ein wenig dicklich und schlaff, von der Sorte, die ordentlich angezogen viel besser aussieht als nackt, was sie jetzt war.

Nur hatte sie einen Pferdeschwanz, lang und buschig.

Sie blickte verwirrt und etwas ungeduldig zu den beiden Männern hinauf.

»Also, was ist?«rief sie hinauf.»Wollen Sie denn nichts tun? Es ist kalt hier unten.«

Ben Yulin, der jüngere Mann, lächelte und beugte sich über das Geländer.

»Peitschen Sie eine Weile mit Ihrem Schwanz, Zetta. Wir arbeiten, so schnell wir können!«rief er freundlich hinunter.

Und sie bewegte den Schwanz wirklich hin und her, langsam, gewohnheitsmäßig, um ihrer Verärgerung Ausdruck zu geben.

»Es fällt Ihnen wirklich kein Unterschied auf, Zetta?«fragte Zinders dünne, scharfe Stimme.

Sie blickte verwirrt, sah dann an sich hinunter und fuhr mit den Händen über ihren Körper, den Schwanz eingeschlossen, wie um herauszufinden, was sie meinten.

»Nein, Dr. Zinder. Wieso? Ist etwas an mir — verändert?«erwiderte sie zögernd.

»Wissen Sie, daß Sie einen Schwanz haben?«drängte Zinder. Sie wirkte verständnislos.

»Selbstverständlich habe ich einen Schwanz«, erwiderte sie, als wolle sie sagen: Was ist denn daran merkwürdig?

»Sie finden das nicht, äh, seltsam oder ungewöhnlich?«warf Ben Yulin ein.

Sie zeigte sich aufrichtig verwirrt.

»Aber nein, natürlich nicht. Weshalb denn?«

Zinder schaute zu seinem jungen Assistenten hinüber, der auf der anderen Seite der offenen Bühne fast fünfzehn Meter entfernt war.

»Eine interessante Entwicklung«, meinte er.

Yulin nickte.

»Bohnentöpfe hervorzubringen, dann die Arbeit mit den Versuchstieren, das bewies, was wir erreichen konnten, aber ich glaube nicht, daß ich mit so etwas gerechnet habe.«

»Ist Ihnen die Theorie noch geläufig?«fragte Zinder.

»Gewiß. Wir verändern innerhalb des Feldes die Wahrscheinlichkeit. Was wir mit jemandem oder etwas im Feld machen, ist für sie normal, weil wir ihre Grund-Stabilisierungsgleichung verändert haben. Wenn wir das im großen Maßstab tun könnten…«

»Allerdings«, sagte Zinder nachdenklich.»Eine ganze Bevölkerung könnte verwandelt werden, ohne jemals etwas davon zu ahnen.«Er drehte sich um und blickte wieder zu der Frau mit dem Pferdeschwanz hinunter.»Zetta?«rief er.»Wissen Sie, daß wir keine Schwänze haben? Daß auch niemand sonst, den wir kennen, einen Schwanz hat?«

Sie nickte.

»Ja, ich weiß, daß es für Sie ungewöhnlich ist. Aber was soll's? Ich habe nicht gerade versucht, ihn zu verstecken.«

»Hatten Ihre Eltern Schwänze, Zetta?«fragte Yulin.

»Natürlich nicht!«gab sie zurück.»Was soll denn das alles?«

Yulin sah den älteren Wissenschaftler an und sagte:»Wollen Sie noch weitergehen?«

»Warum nicht?«meinte Zinder achselzuckend.»Ja, ich würde gern mit einer Psychosonde feststellen, wie tief das reicht, aber wenn wir es einmal gemacht haben, können wir es jederzeit. Prüfen wir eines nach dem anderen.«

»Okay. Also, was nun?«

Zinder sah kurze Zeit versonnen vor sich hin, dann berührte er plötzlich einen Sensor neben der eingelassenen Mikro- und Lautsprecherkombination.

»Obie?«rief er hinein.

»Ja, Dr. Zinder?«erwiderte die Stimme des Computers, der sich ringsum hinter den Wänden befand — eine angenehme, sachliche und freundliche Tenorstimme.

»Hast du vermerkt, daß die Versuchsperson nicht weiß, daß wir sie in irgendeiner Weise verändert haben?«

»Vermerkt«, bejahte Obie.»Wollen Sie, daß sie es weiß? Die Gleichungen sind in dieser Situation nicht ganz so stabil, aber sie werden halten.«

»Nein, nein, schon gut. Wie ist es mit der inneren Haltung ohne körperliche Veränderung? Ist das möglich?«

»Eine viel unbedeutendere Änderung«, erklärte der Computer.»Aber deshalb auch leichter und schneller umkehrbar.«

»Also gut, Obie. Wir haben ein Pferd in die Systemmatrix übertragen, so daß du es vollständig hast, und Zetta hast du auch vollständig.«

»Wir haben das Pferd nicht mehr«, betonte Obie.

»Aber du hast die Daten dazu, nicht?«sagte Zinder mit einem ungeduldigen Seufzer.»Da kommt der Schwanz her, nicht?«

»Ja, Doktor«, antwortete Obie.»Ich sehe jetzt, daß das wieder nur eine Redewendung war. Tut mir leid.«

»Schon gut. Paß auf, wir versuchen etwas Größeres. Hast du den Ausdruck und Begriff Zentaur in deinem Gedächtnis?«

Obie dachte vielleicht eine Millisekunde lang nach.

»Ja. Aber es wird einige Mühe erfordern, sie in einen zu verwandeln. Immerhin geht es um die innere Installation, kardiovaskuläre Systeme, zusätzliche Nervenanschlüsse und dergleichen.«

»Aber kannst du es tun?«fragte Zinder etwas überrascht.

»O ja.«

»Wie lange?«

»Zwei oder drei Minuten«, erwiderte Obie.

Zinder beugte sich vor. Das Mädchen mit dem Schweif ging ein wenig nervös auf dem Podium hin und her und machte einen sehr unbehaglichen Eindruck.

»Assistentin Halib! Bitte, hören Sie auf, hin und her zu laufen, und kehren Sie in die Mitte der Scheibe zurück!«rügte er sie.»Wir sind beinahe soweit, und Sie haben sich ja freiwillig gemeldet.«

»Verzeihung, Doktor«, sagte sie seufzend und trat in die Mitte. Zinder sah zu Yulin hinüber.

»Auf mein Zeichen!«rief er, und Yulin nickte.

»Los!«

Die kleine, spiegelähnliche Scheibe an der Decke schob sich hinaus, der kleine Punkt in der Mitte zielte nach unten, und plötzlich war der ganze Bereich des Podiums in bläßlichblaues Licht getaucht, das zu funkeln schien und die Frau einhüllte. Sie wirkte erstarrt, unfähig, sich zu bewegen. Dann flackerte sie plötzlich mehrmals wie ein Projektionsbild und war mit einem Schlag verschwunden.

»Die von der Versuchsperson bekannte Stabilitätsgleichung ist neutralisiert«, sagte Yulin in seinen Aufzeichner. Er hob den Kopf und sah Zinder an.»Gil?«rief er ein wenig beunruhigt.

»Ja?«

»Angenommen, wir bringen sie nicht zurück? Ich meine, was wäre, wenn wir sie einfach neutralisiert hätten?«sagte Yulin nervös.»Würde sie existieren, Gil? Hätte sie jemals existiert?«

Zinder lehnte sich zurück und dachte nach.

»Sie würde nicht existieren, nein«, antwortete er.»Was die andere Frage betrifft — nun, wenden wir uns an Obie.«Er beugte sich vor und schaltete den Transceiver ein, der ihn mit dem Computer verband.

»Ja, Doktor?«fragte die ruhige Stimme des Computers.

»Ich störe den Prozeß nicht, oder?«fragte Zinder vorsichtig.

»O nein«, erwiderte der Computer weiter.»Es bedarf nur knapp eines Achtels von mir, um das zu bewerkstelligen.«

»Kannst du mir sagen, ob die Versuchsperson Existenz besäße, wenn sie nicht restabilisiert werden würde? Das heißt, hätte sie jemals existiert?«

Obie überlegte.

»Nein, natürlich nicht. Sie ist ein unbedeutender Bestandteil der Primärgleichung, versteht sich, so daß die Realität, wie wir sie kennen, nicht betroffen wäre. Aber sie würde sich darauf einstellen. Sie hätte nie gelebt.«

»Und was ist, wenn wir ihr den Schwanz lassen würden?«warf Yulin ein.»Würden alle anderen annehmen, daß sie von Anfang an einen gehabt hat?«

»Gewiß«, bestätigte der Computer.»Um zu existieren, braucht sie schließlich einen Grund, sonst wären die Gleichungen nicht ausgewogen. Auch das hätte keine Auswirkung auf die Stabilitätsgleichung.«

»Was hätte wohl eine?«murmelte Zinder vor sich hin, dann sagte er zu Obie:»Wenn das so ist, dann sag mir, warum wissen wir — Ben, ich und du —, daß die Wirklichkeit verändert worden ist?«

»Wir sind in großer Nähe des Feldes«, gab Obie zurück.»Jeder, der sich im Umkreis von ungefähr hundert Metern aufhält, wüßte etwas davon. Je näher man ihm ist, desto mehr Dichotomie erkennt man. Über eine Entfernung von mehr als hundert Metern hinaus fängt die Wahrnehmung der Wirklichkeit an, bedeutungslos zu werden. Die Leute würden erkennen, daß etwas verändert ist, aber nicht ausmachen können, was. Über tausend Meter hinaus würde die Streuung mit der Hauptgleichung eins werden, und die Wirklichkeit würde sich angleichen. Ich kann jedoch das für Ihre Wahrnehmung anpassen oder stark reduzieren, wenn Sie wollen.«

»Auf keinen Fall!«erwiderte Zinder scharf.»Aber du meinst, daß jeder außerhalb eines Umkreises von tausend Metern von hier des festen Glaubens sein würde, sie sei schon immer ein Zentaur gewesen, und es gäbe einen logischen Grund dafür?«

»Das ist richtig. Die Primärgleichungen bleiben stets im natürlichen Gleichgewicht.«

»Sie kommt!«rief Ben aufgeregt.

Zinder schaute hinaus und sah in der Mitte der Scheibe einen Umriß flackern, der noch einmal aufzuckte, dann sich verfestigte. Das Feld erlosch. Der Spiegel schwenkte lautlos weg.

Es war immer noch Zetta Halib, kenntlich. Aber wo die Frau gestanden hatte, war das Geschöpf Zetta jetzt nur noch bis zu den Hüften. Dort ging ihre gelbbraune Haut in schwarzes Haar über, und der Rest ihres Körpers war der einer voll ausgewachsenen, vielleicht zweijährigen Stute.

»Obie?«rief Zinder, und der Computer meldete sich.»Wie lange, Obie, bis sie sich stabilisiert? Das heißt, wie lange, bevor der Zentaur permanent wird?«

»Für sie ist er es jetzt schon«, erklärte der Computer.»Wenn Sie meinen, wie lange es dauern wird, bis die Primärgleichungen das neue Muster stabilisieren — höchstens eine oder zwei Stunden. Es handelt sich schließlich um eine unbedeutende Störung.«

Zinder beugte sich über das Geländer und starrte sie verblüfft an. Es war klar, daß seine wildesten Träume übertroffen worden waren.

»Würde sie reinrassige Nachkommen zur Welt bringen wenn wir einen männlichen Zentaur hätten?«fragte Yulin den Computer.

»Nein. Das würde viel mehr Arbeit erfordern. Natürlich würde sie ein Pferd zur Welt bringen.«

»Du könntest aber ein fortpflanzungsfähiges Zentaurenpaar hervorbringen?«fragte Yulin.

»Höchstwahrscheinlich«, sagte Obie ausweichend.»Das einzige Limit für diesen Prozeß ist schließlich meine Eingabe. Ich brauche das Wissen, wie ich es machen muß, wie alles zusammengesetzt ist, bevor ich etwas erarbeiten kann.«

Die Zentaurin blickte zu ihnen herauf.

»Tun wir hier den ganzen Tag herum?«fragte sie ungeduldig.»Ich bekomme langsam Hunger.«

»Obie, was verzehrt sie?«fragte Yulin.

»Gras, Heu, alles in dieser Art«, antwortete der Computer.»Ich mußte natürlich manches abkürzen. Der Oberkörper besteht vorwiegend aus Muskelgewebe und Knochengerüst. Für die Organe habe ich das Pferd genommen.«

Yulin nickte und schaute zu Zinder hinüber, der noch immer ein wenig betäubt wirkte.

»Gil?«rief er.»Wie wäre es mit ein paar kosmetischen Verbesserungen, dann können wir sie eine Weile so lassen, nicht? Es wäre interessant, zu sehen, wie es mit dieser Änderung weitergeht.«

Zinder nickte zerstreut.

Mit einem weiteren Durchgang konnte Yulin dem neuen Geschöpf eine jüngere menschliche Hälfte geben; er straffte sie und stellte wieder her, was jugendliches, gutes Aussehen zu sein schien.

Sie waren fast fertig, als in der Nähe des alten Wissenschaftlers eine Tür aufging und ein junges Mädchen, nicht älter als vierzehn, mit einem Tablett hereinkam. Sie war ungefähr einsfünfundsechzig groß, wog aber fast achtundsechzig Kilogramm. Sie war untersetzt, stämmig, unbeholfen, hatte dicke Beine und Brüste. Es half ihr nicht, daß sie ein durchsichtiges Kleid und Sandalen trug und übertrieben viel Schminke aufgetragen hatte. Auch das offensichtlich gebleichte blonde Haar gereichte ihr nicht zum Vorteil. Sie wirkte auf irgendeine Weise grotesk, aber der alte Mann lächelte nachsichtig.

»Nikki«, sagte er vorwurfsvoll,»ich dachte, ich hätte dir gesagt, du sollst nicht hereinkommen, wenn das rote Licht brennt.«

»Tut mir leid, Daddy«, erwiderte sie, obwohl man nicht das mindeste davon bemerkte, daß es ihr leid tat, als sie das Tablett abstellte und ihn auf die Wange küßte.»Aber du hast so lange nichts gegessen, daß wir uns Sorgen gemacht haben.«

Sie schaute hinüber, entdeckte den jungen Mann und zeigte ein ganz anderes Lächeln.

»Hi, Ben!«rief sie munter und winkte.

Yulin hob den Kopf, lächelte und winkte zurück. Dann dachte er plötzlich angestrengt nach. Hundert Meter, dachte er. Die Küche war etwa so weit entfernt, über dem Boden.

Sie legte die Arme um ihren Vater.

»Was hast du denn so lange getrieben?«fragte sie ihn in ihrem spielerischen Ton. Wiewohl körperlich erwachsen, war Nikki Zinder gefühlsmäßig durchaus noch ein Kind und benahm sich auch so. Zu sehr, wie ihr Vater wußte. Sie wurde hier in zu starkem Maße beschützt, war von Gleichaltrigen abgeschnitten und wurde von frühester Zeit an durch die Unfähigkeit ihres Vaters, sie im Zaum zu halten, und das Wissen aller, daß sie die Kleine des Chefs war, arg verhätschelt. Selbst ihr leichtes Lispeln war kindlich; oft glich sie eher einer schmollenden Fünfjährigen als einer fast Vierzehnjährigen, die sie war.

Aber sie war seine Tochter, und er konnte es nicht ertragen, sie fortzuschicken, in eine vornehme Schule oder ein Objekt in weiter Ferne. Er hatte ein einsames Leben voller Zahlen und Maschinen geführt; mit siebenundfünfzig Jahren hatte er Klonproben nehmen lassen, aber er wollte ein eigenes Kind. Schließlich hatte er eine Projektassistentin auf Voltaire dafür bezahlt, ihm eines zu schenken. Sie war die erste, die sich dazu bereit erklärt hatte, nur um zu sehen, wie das war. Sie war Verhaltenspsychologin, und Zinder ließ sie zu seinem Projekt versetzen, bis Nikki geboren war, dann bezahlte er sie, Nikki sah wie ihre Mutter aus, aber darauf kam es nicht an.

Sie war sein Kind, und während der kritischsten Perioden des Projekts hatte sie ihn daran gehindert, sich zu erschießen. Sie war unreif bis zum Exzeß, aber er wollte in Wirklichkeit gar nicht, daß sie erwachsen wurde. Nikki Zinder hörte plötzlich eine Frau husten. Sie hüpfte zum Geländer und schaute hinunter auf die Zentaurin.

»Oh, Mann!«rief sie.»Hi, Zetta!«

Die Zentaurin blickte zu dem Mädchen hinauf und lächelte nachsichtig.

»Hallo, Nikki«, antwortete sie automatisch.

Zinder und Yulin waren fasziniert.

»Nikki, fällt dir denn an Zetta nichts, äh, Besonderes auf?«fragte sie ihr Vater.

»Nee«, erwiderte sie achselzuckend.»Wieso denn?«

Ben Yulins Unterkiefer klappte in ehrlicher Überraschung herunter.


* * *

Es verging über eine Woche, in der sie verschiedene Reaktionen auf das neue Geschöpf erlebten. Praktisch alle im Center sahen nichts Ungewöhnliches darin, daß Zetta Halib zur Hälfte ein Pferd war, das heißt, sie sahen nichts neuartig Ungewöhnliches darin. Sie wußten natürlich, daß sie sich den Biologen freiwillig zu den Versuchen zur Verfügung gestellt hatte, Menschen verschiedenen Erscheinungsformen anzupassen. Sie wußten, daß sie nach der Zeugung manipuliert worden war, um so aufzuwachsen, wie es der Fall gewesen war, und sie erinnerten sich, wann sie angekommen war, und wie sie das erste Mal reagiert hatten.

Natürlich stimmte alles überein, bis auf die Tatsache, daß nichts von dem, woran sie sich erinnerten, auch wirklich geschehen war. Die Wirklichkeit mußte sie erklären und hatte sich dementsprechend angeglichen. Nur zwei Männer wußten die Wahrheit.

Ben Yulin rauchte im Büro seines Chefs eine gebogene Pfeife und schaukelte in einem Stuhl träge hm und her.

»Jetzt wissen wir es also«, sagte er schließlich.

Zinder nickte und trank einen Schluck Tee.

»Ja. Wir können jedes Individuum, jedes Objekt nehmen und es umgestalten, wenn wir die Daten zu liefern vermögen, die Obie braucht, um die Verwandlung richtig durchzuführen, und niemand wird es je auch nur wissen. Die arme Zetta! Wir werden sie natürlich zurückverwandeln müssen.«

»Versteht sich. Aber lassen wir ihr das gute Aussehen. Soviel hat sie sich verdient.«

»Ja, ja, natürlich«, sagte Zinder auf eine Weise, als sei ihm das unwichtig.

»Irgend etwas stört Sie noch«, stellte Yulin fest.

»Ja, sogar sehr«, sagte Zinder seufzend.»Das ist eine furchtbare Macht, wissen Sie, auf diese Weise Gott zu spielen. Und mir gefällt der Gedanke nicht, daß der Rat darüber verfügen könnte.«

Yulin sah ihn erstaunt an.

»Na, man hat das ganze Geld aber doch nicht umsonst ausgegeben, Mensch! Wir haben es geschafft, Gil! Wir haben der konventionellen Wissenschaft den Garaus gemacht. Wir haben den Leuten gezeigt, wie leicht sich die Spielregeln verändern lassen.«

»Gewiß, gewiß. Wir werden alle möglichen Preise und dergleichen gewinnen. Aber nun, Sie kennen das eigentliche Problem. Dreihundertvierundsiebzig menschliche Welten. Sehr viel. Aber alle, bis auf eine Handvoll, sind Kom-Welten, Konformisten-Tagträume. Überlegen Sie sich, was die Beherrscher dieser Welten mit einem Gerät wie dem unsrigen aus diesen Völkern machen könnten.«

»Hören Sie, Gil«, sagte Yulin seufzend,»unser Weg ist nichts anderes, als es die primitiven Methoden sind, die sie jetzt verwenden — biologische Manipulationen, genetische Eingriffe und das alles. Vielleicht wird es gar nicht so schlimm werden. Vielleicht wird unsere Entdeckung zum Besseren führen. Viel schlimmer kann sie es ja gar nicht machen.«

»Das ist wahr«, gab Zinder zu.»Aber die Macht, Ben! Und dazu kommt noch etwas anderes.«

»Was meinen Sie?«

»Die Folgerungen«, sagte der andere sorgenvoll.»Ben, wenn dies alles, dieser Stuhl, dieses Büro, Sie, ich — wenn wir alle nur stabile Gleichungen sind, Materie, geschaffen aus reiner Energie und auf irgendeine Weise so aufrechterhalten, wie wir es sind, was hält uns stabil? Gibt es irgendwo einen kosmischen Obie, der die Primärgleichungen im Gleichgewicht hält?«

Ben Yulin lachte leise.

»Ich nehme an, daß es ihn gibt, auf die eine oder andere Weise. Gott ist nichts als ein gigantischer Obie. Der Gedanke behagt mir irgendwie.«

Zinder fand daran nichts Belustigendes.

»Ich glaube, es gibt ihn. Es muß ihn geben, wenn alles andere seine Richtigkeit hat. Selbst Obie bestätigt es. Aber wer hat ihn gebaut? Wer erhält ihn?«

»Tja, wenn Sie sich ernsthaft damit befassen wollen — ich nehme an, daß die Markovier ihn gebaut haben. Wer weiß, ob sie ihn nicht noch instand halten.«

»Die Markovier«, sagte Zinder nachdenklich.»Ja, das muß es sein. Wir haben ihre toten Welten und verlassenen Städte überall gefunden. Sie müssen das alles in einem gigantischen Maßstab gemacht haben, Ben. Natürlich!«sagte er erregt.»Deshalb sind in den alten Ruinen nie Artefakte gefunden worden! Was sie auch immer haben wollten, sie sagten es ihrer Version von Obie, und da war es!«

»Sie könnten recht haben.«

»Aber, Ben, alle ihre Welten, die wir gefunden haben! Sie sind alle tot!«Er lehnte sich zurück.»Ich frage mich — wenn sie damit nicht zurechtkamen, wie soll es uns gelingen?«Er starrte den anderen an.»Ben, liefern wir die Mittel, die Menschheit auszulöschen?«

Yulin schüttelte langsam den Kopf.

»Ich weiß es nicht, Gil. Ich hoffe nicht. Aber wir haben kaum eine Wahl. Außerdem«, sagte er lächelnd,»wir werden alle längst nicht mehr da sein, bevor dieser Punkt erreicht wird, wie es auch kommen mag.«

»Wenn ich nur Ihre Zuversicht hätte«, sagte Zinder nervös.»In einer Beziehung haben Sie jedenfalls recht. Wir müssen liefern. Kümmern Sie sich darum?«

Ben ging hinüber und tätschelte die Schulter des alten Mannes.

»Natürlich erledige ich das«, versicherte er.»Sie machen sich zuviel Sorgen, Gil. Vertrauen Sie mir. Ich mache das schon.«

In der alten Zeit gab es Nationen, und sie griffen nach dem Weltraum. Dann gab es planetarische Kolonien dieser Nationen, und sie hatten alle verschiedene Weltanschauungen und Lebensweisen. Es folgten Kriege, Überfälle, inszenierte Revolutionen. Der Mensch breitete sich aus, die Nationen verschwanden und hinterließen ihren Erben nur ihre Weltanschauungen. Schließlich taten sich Regierende, die von alledem genug hatten, zusammen und bildeten ein Kartell. Allen miteinander wetteifernden Ideologien sollte freie Bahn gelassen werden, bis eine davon einen Planeten beherrschte, aber nie durch Gewalt, und nie mit Hilfe von außen. Jeder Planet sollte ein Mitglied wählen, das in einem großen Weltrat saß und seine Stimme abgab.

Die gewaltigen Waffen des Terrors und der Vernichtung wurden unter sicheren Verschluß genommen und von einer Eliteeinheit bewacht, die selbst diese Waffen ohne Erlaubnis nicht benützen konnte. Eine solche Erlaubnis konnte nur von einer Mehrheit der 374 Ratsmitglieder kommen, von denen jeder persönlich zu erscheinen hatte, um seinen Teil der Verschlüsse zu öffnen.

Ratsmitglied Antor Trelig war einer dieser Wächter und im Rat eine bedeutende politische Kraft. Theoretisch vertrat er die Volkspartei von Neuer Ausblick, einer Kom-Welt, wo die Menschen zum Gehorsam konditioniert und zur perfekten Funktion in ihren Aufgaben gezüchtet wurden. Konkret vertrat er viel mehr, denn er hatte darüber hinaus auch noch sehr großen Einfluß auf andere Ratsmitglieder. Manche behaupteten, er sei ehrgeizig genug, davon zu träumen, daß er eines Tages eine Mehrheit beherrschen würde und er so in seinen Händen die Schlüssel zu den Waffen halten werde, die Welten zu zerstören vermochten.

Er war ein großer Mann, um einsneunzig, mit breiten Schultern und einer kräftigen Hakennase über einem kantigen Kinn. Er sah aus wie aus Granit gemeißelt. Aber er machte nicht den Eindruck des machtbesessenen Schurken, den viele in ihm sahen — nicht, wie er dort stand und fasziniert zwei Männer und eine Maschine eine Zentaurin zurückverwandeln sah.

Die Wissenschaftler fügten noch einige Vorführungen an und fragten ihn sogar, ob er es selbst versuchen wolle. Trelig lehnte mit einem nervösen Lachen ab. Nachdem er jedoch mit dem Mädchen gesprochen hatte, das von dem erhöhten Podium gestiegen war, und nachdem er die Wirklichkeit sich an ihre ursprüngliche Existenz hatte wieder anpassen sehen, war er überzeugt.

Später erholte er sich bei einem ganz un-Komartigen Kognak in Zinders Büro.

»Ich kann Ihnen nicht sagen, wie fassungslos ich bin«, erklärte er.»Was Sie getan haben, ist unerhört, unglaublich. Sagen Sie, könnte man eine sehr große Anlage bauen? Eine, die groß genug wäre, auf ganze Planeten zu wirken?«

Zinder wurde plötzlich feindselig.

»Ich glaube nicht, daß es vernünftig wäre, Rat. Zu viele Variable.«

»Man könnte es tun«, warf Ben Yulin ein, ohne den zornigen Blick seines Kollegen zu beachten.»Aber Kosten und Arbeit wären immens.«

Trelig nickte.

»Im Vergleich mit dem Nutzen wären die Kosten unbedeutend. Damit könnte man alle Gefahren des Hungers, der klimatischen Launen und was weiß ich noch alles bannen. Damit könnte man ein Utopia hervorbringen!«

Oder die wenigen freien und individualistischen Welten, die es noch gab, in glückliche, gehorsame Sklaverei versetzen, dachte Zinder mürrisch.

Laut sagte er:»Ich sehe darin auch eine Waffe, Rat. Eine schreckliche, in den falschen Händen. Ich glaube, das war es, was die Markovier vor einigen Millionen Jahren vernichtet hat. Mir wäre wohler, wenn eine solche Macht unter den Verschluß des Rates käme.«

Trelig seufzte.

»Der Meinung bin ich nicht. Aber ohne es auszuprobieren, werden wir es nie wissen. Einen derartigen wissenschaftlichen Durchbruch kann man nicht einfach wegsperren und aufgeben.«

»Ich finde, man sollte es tun und alle Spuren der Forschungsarbeit beseitigen«, widersprach Zinder.»Was wir haben, ist die Macht, Gott zu spielen. Ich glaube nicht, daß wir dafür schon reif sind.«

»Man kann nichts, was einmal erfunden ist, einfach rückgängig machen, gleichgültig, wie die Folgen aussehen«, betonte Trelig.»Aber ich gebe Ihnen recht, man sollte das geheimhalten. Selbst wenn nur das Wissen von Ihrer Entdeckung bekannt werden würde, müßte das eine Million anderer Wissenschaftler anregen. Ich bin der Meinung, Sie sollten das Projekt hier abziehen und an einen sicheren, entlegenen Ort damit gehen.«

»Und wo wäre dieser sichere Ort?«fragte Zinder skeptisch.

Trelig lächelte.

»Ich habe einen… einen Planetoiden mit voller Lebenserhaltung, normaler Schwerkrafterzeugung und so weiter. Ich verwende ihn als Ferienort. Er wäre ideal.«

Zinder dachte an Treligs unerfreulichen Ruf und fühlte sich unbehaglich.

»Ich glaube nicht«, sagte er.»Ich halte es für besser, wenn ich nächste Woche den Fall dem ganzen Rat vorlege und die Mitglieder entscheiden lasse.«

Trelig reagierte so, als habe er diese Antwort erwartet.

»Sind Sie sicher, daß Sie es sich nicht anders überlegen wollen, Doktor? Neu-Pompeii ist ein wunderbarer Ort, viel schöner als diese sterile Abscheulichkeit.«

Zinder begriff, was ihm angeboten wurde.

»Nein, ich bleibe bei meiner Entscheidung«, antwortete er.»Nichts kann mich veranlassen, meine Meinung zu ändern.«

»Nun gut«, sagte Trelig seufzend.»Ich sorge für eine Ratssitzung morgen in einer Woche. Sie und Dr. Yulin werden natürlich teilnehmen.«Er stand auf und ging zur Tür. Dort lächelte er und nickte kaum merklich Ben Yulin zu, der das Nicken erwiderte. Zinder bemerkte nichts davon.

Ben Yulin würde gewiß für alles sorgen.


* * *

Nikki Zinder schlief still in ihrem Zimmer, das mit exotischer Kleidung, verschiedenerlei Spielzeug, Spielen und Apparaturen vollgestopft war. Ihr riesengroßes Bett hüllte sie beinahe ein.

Eine Gestalt blieb an der Tür zu diesem Zimmer stehen, vergewisserte sich, daß niemand sich näherte, zog einen kleinen Schraubenzieher heraus und schraubte die Druckplatte der Tür vorsichtig ab, damit der Türalarm nicht ausgelöst werden konnte. Als die Platte entfernt war, betrachtete die Gestalt die kleinen bloßgelegten Moduln und drückte Gummilösung auf einige Anschlüsse. Ein Modul wurde herausgenommen, und ein schmaler Streifen aus silbrigem Material wurde zwischen zwei Kontakte gepreßt, die sonst nicht miteinander verbunden waren.

Zufrieden brachte der Eindringling die Platte wieder an und schraubte sie sorgfältig fest. Er schob den Schraubenzieher in einen Werkzeuggürtel zurück, zögerte einen Augenblick und drückte auf den Knopf.

Es ertönte ein leises Klicken, sonst passierte nichts.

Er atmete auf, zog eine Mini-Ampulle voll klarer Flüssigkeit aus einem anderen Fach des Gürtels und brachte eine Injektorspritze an. Er hielt die Ampulle vorsichtig in der Hand, ging zu der massiven Doppeltür zum Zimmer des Mädchens, drückte mit der freien Hand auf eine Hälfte und schob sie ein wenig nach rechts.

Die Tür öffnete sich leise, ohne das Druckluftzischen oder irgendein anderes Geräusch, das man über dem leisen Summen der Klimaanlage im Gebäude hätte hören können. Er schob die Tür gerade so weit auf, daß er hineinschlüpfen konnte, drehte sich um und schloß sie leise hinter sich.

Im schwachen Schein eines Bodenleisten-Nachtlichts konnte er die schlafende Gestalt Nikki Zinders erkennen. Nikki lag auf dem Rücken, mit offenem Mund, und schnarchte leise.

Langsam und verstohlen schlich er an ihr Bett, bis er fast über sie gebeugt war. Er erstarrte, als sie im Schlaf etwas murmelte und sich ein wenig von ihm wegdrehte. Geduldig beugte er sich vor und zog die Decke ein wenig herunter, um ihren rechten Oberarm freizulegen. Die Hand mit Injektor und Ampulle griff hinüber, und er berührte damit ihren Arm.

Seine Berührung war so sanft, daß sie nicht wach wurde, aber leise stöhnte und sich wieder auf den Rücken drehte. Als die Ampulle leer war, zog der Mann die kleine Spritze heraus und steckte sie in die Tasche.

Nun schien sie ein wenig wach zu werden; die linke Hand griff hinüber und betastete den rechten Oberarm. Dann schien der Arm plötzlich zu erschlaffen. Ihre Atemzüge wurden schwerer und mühsamer.

Er atmete tief ein, beugte sich über sie, berührte sie, rüttelte heftig. Sie reagierte nicht.

Er lächelte zufrieden, setzte sich auf die Bettkante und beugte sich tief herunter.

»Nikki, hörst du mich?«fragte er leise.

»öhhöm«, murmelte sie.

»Nikki, hör genau zu«, befahl er.»Wenn ich noch einmal ›einhundert‹ sage, beginnst du, von da bis Null herunterzuzählen. Wenn du bei Null bist, stehst du auf, verläßt dieses Zimmer und kommst sofort ins Labor. Unten ins Labor, Nikki. Dort findest du eine große, runde Plattform in der Mitte des Raumes, und auf die trittst du. Du bleibst dort stehen und wirst dich von der Mitte nicht wegrühren können oder es auch nur wollen. Du wirst dort erstarren und fest schlafen. Hast du das alles verstanden?«

»Ich verstehe«, sagte sie traumverloren.

»Du mußt vermeiden, daß man dich sieht, wenn du zum Labor gehst«, warnte er.»Tu alles, um es zu verhindern. Aber wenn du gesehen wirst, verhalte dich normal, sieh zu, daß du die Person schnell los wirst, und verrate nicht, wohin du wirklich gehst. Wirst du das tun?«

»öhhöm«, bestätigte sie.

Er stand auf und ging zur Tür, die vom Schlafzimmer aus noch immer automatisch funktionierte. Er öffnete sie einen Spalt, sah niemanden, öffnete sie weiter. Er trat in den Flur hinaus, drehte sich herum und schloß die Tür fast ganz.

»Einhundert, Nikki«, sagte er und schloß die Tür.

Zufrieden ging er fast hundert Meter den Korridor entlang, ohne jemandem zu begegnen, und stellte fest, daß alle Türen geschlossen waren. Er trat in den Lift, und die Tür schloß sich.

»Yulin, Abu Ben, YA-56-47765-788i-GX, volle Freigabe, Labor Etage zwei, bitte«, sagte er. Der Lift prüfte ihn optisch, registrierte seine Ausweisnummer und den Stimmabdruck, dann sank er schnell zum Labor hinunter.

Auf der Galerie ging er zu seiner Konsole und schaltete sie ein. Er stellte die Verbindung mit Obie her.

»Obie?«rief er.

»Ja, Ben?«kam die ruhige, freundliche Antwort.

Yulin drückte einige Tasten.

»Unregistrierte Bewegung«, sagte er mit einer Ruhe, die er nicht empfand.»In Hintergrundspeicher nur für meinen Zugriff aufnehmen.«

»Was machen Sie, Ben?«fragte Obie neugierig.»Das ist ein Modus, den nicht einmal ich anwenden kann. Ich hatte keine Ahnung, daß es ihn gibt, bis Sie ihn benützt haben.«

Ben Yulin lächelte.

»Das macht nichts, Obie. Nicht einmal du brauchst dich an alles zu erinnern.«

Was Obie entdeckt hatte und Ben genoß, war der Modus, nach dem er Obie benützen und ihn dann den Eintrag des Getanen auf solche Weise speichern lassen konnte, daß selbst der große Computer keinen Zugriff hatte. Obie würde zwar normal arbeiten, aber an vollständiger Amnesie nicht nur dahingehend leiden, was Ben vorhatte, sondern auch insoweit, als er überhaupt da war.

Yulin hörte unten die Lifttür aufgehen. Er schaute über das Geländer hinunter und sah Nikki, bekleidet nur mit ihrem dünnen Nachthemd, ganz normal und überlegt ins Labor kommen und auf das Podium treten. Sie stellte sich in die Mitte, blieb aufrecht stehen, die Augen geschlossen, und schien zu erstarren, war nun eine Statue bis auf die kaum wahrnehmbare Atmung.

»Versuchsperson in Hilfsmodus speichern, Obie«, ordnete Yulin an. Der große Spiegel an der Decke schwang hinaus, richtete sich auf die Scheibe und ließ den blauen Strahl hinausschießen. Nikki flackerte ein—, zweimal, dann verschwand sie. Der Strahl erlosch.

Es wäre verlockend gewesen, sie einfach dort zu lassen, dachte Yulin. Aber nein, das Risiko war zu groß. Sie würde am Ende vermutlich doch vorgewiesen werden müssen, und er wollte sie nicht auf der Scheibe haben, wenn Zinder an der Steuerung saß.

»Obie, das wird eine nicht stabile Gleichung. Sie wird sich nicht angleichen. Der Akt der Verwandlung selbst soll Teil der Wirklichkeit sein.«

»Ja, Ben«, sagte der Computer.»Es wird keine Wirklichkeitsangleichung geben.«

Yulin nickte zufrieden.

»Nur psychologische Angleichung, Obie.«

»Bereit«, sagte der Computer.

»Maximale Reaktionsstufe emotionellsexuell«, befahl er.»Die Versuchsperson soll fixiert werden auf Dr. Ben Yulin, Daten in deinen Speichern. Die Person wird sich wahnhaft, unvernünftig in Yulin verlieben und an nichts anderes denken als an Yulin. Wird für Yulin alles tun, wird nur Yulin treu sein, ohne jede Ausnahme. Die Person wird sich als den willigen Besitz des besagten Ben Yulin betrachten. Als ›Liebessklaven-Modus‹ für künftige Bezugnahme verschlüsseln und in Hilfsspeicher eins aufnehmen.«

»Geschehen«, bestätigte der Computer.

»Folge, dann speichern, sobald die beiden Menschen das Labor verlassen haben.«

»Folge läuft«, sagte der Computer, und Yulin schaute hinunter. Das blaue Licht war wieder eingeschaltet, und Nikki, unverändert, immer noch im Nachthemd, tauchte schlagartig wieder auf. Sie war nach wie vor starr.

Yulin verfluchte sich innerlich. Es war keine zwanzig Minuten her, seit er die Dosis verabreicht hatte, die vermutlich für die dreifache Zeit reichte. Er hatte sich auf kein Risiko eingelassen.

»Zusätzliche Anweisungen, Obie«, sagte er schnell.»Alle Spuren des Mittels Stepleflin aus der Person entfernen und Person zur völligen Wachheit zurückführen, mit einer Entsprechung von acht Stunden Schlaf. Tu das sofort, dann halte dich an die vorhergehenden Anweisungen.«

Der Computer nahm die neuen Anweisungen an, das blaue Licht flammte auf, Nikki flackerte, verschwand diesmal aber nicht länger als eine halbe Sekunde, dann war sie wach wieder da und schaute sich fassungslos im Labor um.

Yulin beugte sich über das Geländer.

»Hallo, Nikki!«

Sie schaute hinauf, entdeckte ihn, und ihr Gesichtsausdruck war plötzlich so verzückt, als betrachte sie das Antlitz eines Gottes. Sie zitterte und stöhnte bei seinem Anblick vor Ekstase.

»Komm hier herauf, Nikki!«befahl er, und sie rannte fast von der Scheibe zum Lift. In weniger als zwei Minuten war sie bei ihm. Sie blickte ihn immer noch ehrfürchtig und staunend an. Er berührte ihre Wange leicht, und ein orgasmisches Zucken durchlief sie. Er nickte befriedigt.

»Komm mit, Nikki!«befahl er leise und griff nach ihrer Hand.

Sie umklammerte sie fest und folgte ihm. Sie bestiegen den Lift, und Yulin wies ihn an, zur Oberfläche hinaufzufahren.

Die oberste Etage öffnete sich zu einem kleinen Park, der vom künstlichen Licht der durchsichtigen Kuppel schwach erhellt war. Von Horizont zu Horizont schimmerten fern die Sterne. Nikki hatte während der ganzen Zeit keinen Laut von sich gegeben, keine Fragen gestellt.

Es waren nur wenige Leute unterwegs. Da aber ein Großteil des Forschungszentrums Tausenden anderer Projekte gewidmet war, blieben viele verschieden lange aus verschiedenen Gründen auf, manche einfach deshalb, weil sie sich die Anlagen teilen mußten.

»Wir müssen uns vor allen verstecken, Nikki«, flüsterte er ihr zu.»Niemand darf uns sehen.«

»O ja, Ben«, erwiderte sie, und sie schlichen neben dem Weg weiter, zumeist im Gebüsch verborgen. Manche der Sträucher und Pflanzen am Weg hatten scharfe Dornen, und Nikki wurde zerkratzt und zerstochen, aber abgesehen von einem gelegentlichen Reiben oder einem fast lautlosen Ausruf beklagte sie sich nicht. Einmal sah er einen kleinen, dunkelhäutigen Mann nicht, der um die Ecke bog, und sie zog ihn hinter ein Gebüsch.

Endlich erreichten sie die unbeleuchtete Rasenfläche, die manche aus obskuren Gründen den Campus nannten, und sie überquerten ihn in normaler Haltung diagonal. Schließlich warteten sie, in die dunkle Ecke eines anderen Gebäudes geduckt.

Sie hielt den Arm um ihn gelegt und lehnte sich an ihn. Er legte den Arm um sie, und sie seufzte. Sie rieb sich an ihm und küßte seine Kleidung.

Das Ganze war für ihn peinlich und ein wenig Übelkeit hervorrufend, aber er hatte die Spielregeln festgelegt und mußte sich nun damit abfinden.

Endlich glitt ein kleiner, schlanker Privattransporter in der Dunkelheit auf sie zu. Ein Flügel wurde hochgeklappt, ein Mann stieg aus und kam auf sie zu. Nikki hörte Geräusche, schaute sich um und versuchte, Yulin in die Schwärze zurückzuziehen.

»Nein, Nikki, der Mann ist ein Freund von mir«, sagte Ben, und sie akzeptierte seine Erklärung und beruhigte sich sofort.

»Adnar! Hierher!«rief er.

Der Mann hörte es und kam näher.

»Du mußt mit Adnar gehen«, sagte Ben leise zu Nikki. Sie sah ihn tief betroffen an und klammerte sich noch fester an ihn.

»Nur so können wir zusammen sein, Nikki«, erklärte er ihr.»Du mußt für kurze Zeit fort, aber wenn du dich nicht beklagst und alles tust, was Adnar und seine Freunde von dir verlangen, komme ich zu dir, ich verspreche es.«

Auf das hin lächelte sie. Ihr Gemüt war umschleiert; sie konnte nur an Ben denken, und wenn Ben etwas sagte, dann war es wahr.

»Gehen wir«, sagte Adnar ungeduldig.

Yulin ermannte sich, dann umarmte er Nikki und küßte sie lange und leidenschaftlich.

»Denk an das, während wir getrennt sind«, flüsterte er,»und jetzt geh!«

Sie ging mit dem fremden Mann. Bedingungslos, ohne ein Wort der Widerrede, stieg sie mit ihm in den schwarzen Transporter, und dieser fegte davon.

Ben Yulin ließ den Atem heraus und bemerkte zum erstenmal, daß er schwitzte. Unsicher kehrte er zu seinem eigenen Gebäude zurück und legte sich schlafen.


* * *

Antor Trelig zeigte das charmante Lächeln einer Giftschlange. Er saß wieder gelassen in Gil Zinders Büro. Der kleine Wissenschaftler war sichtlich erschüttert.

»Sie Ungeheuer!«fuhr er den Politiker an.»Was haben Sie mit ihr gemacht?«

Trelig sah ihn verletzt an.

»Ich? Ich versichere Ihnen, ich würde nie etwas tun. Ich bin ein viel zu großer Mann für eine so kleine Entführung. Aber ich habe Hinweise darauf, wo sie sein könnte, und einige Fakten darüber, was mit ihr bis zum jetzigen Moment geschehen ist.«

Zinder wußte, daß der große Mann log, aber er sah auch den Grund für die Verstellung. Trelig hatte die Tat nicht persönlich begangen und würde dafür gesorgt haben, daß man ihn damit nicht in Verbindung bringen konnte.

»Sagen Sie mir, was Sie — was man mit ihr gemacht hat«, stöhnte Zinder.

»Meine Quellen teilen mir mit, daß sich Ihre Tochter in den Händen des Schwamm-Syndikats befindet. Sie haben davon gehört?«

Gil Zinder nickte. Ein kalter Hauch wehte ihn an.

»Sie handeln mit der grauenhaften Droge von diesem Killerplaneten«, erwiderte er beinahe mechanisch.

»So ist es«, gab Trelig mitfühlend zurück.»Wissen Sie, was sie bewirkt, Doktor? Sie mindert den Intelligenzquotienten. Sie mindert den Intelligenzquotienten eines Menschen an jedem Tag, an dem keine Behandlung stattfindet, um zehn Prozent. Ein Genie ist in drei oder vier Tagen bloßer Durchschnitt und in etwa zehn Tagen kaum mehr als ein Tier. Es gibt keine Heilung — es handelt sich um eine Mutation, ganz anders als jede Lebensform, auf die wir bisher gestoßen sind, hervorgebracht von einem Gemisch aus Teilen unserer organischen Materie und gänzlich fremdartigen Stoffen. Die Wirkung ist auch sehr schmerzhaft. Ein Brennen im Gehirn, glaube ich, ist die Beschreibung, das sich durch den ganzen Körper ausbreitet.«

»Aufhören! Aufhören!«schluchzte Zinder.»Was verlangen Sie, Sie Ungeheuer?«

»Nun, Remission ist möglich«, erwiderte Trelig.»Der Schwamm ist natürlich nicht die Droge, sondern das Linderungsmittel. Tägliche Dosen davon, und es gibt keine Schmerzen und nur geringen Verlust. Das — äh, Leiden wird inaktiv.«

»Was verlangen Sie?«schrie Zinder beinahe hinaus.

»Ich glaube, ich kann sie ausfindig machen. Sie diesen Leuten abkaufen. Mein medizinisches Personal hat einige Schwammkulturen — völlig illegal, versteht sich, aber wir haben viele Leute hohen Ranges in Ihrer Lage gefunden, erpreßt von diesen Verbrechern. Wir könnten sie aufspüren, zurückholen und ihr so viel an Schwamm geben, daß sie wieder normal wird.«Er lehnte sich genießerisch zurück.»Aber ich bin Politiker und ehrgeizig. Das trifft durchaus zu. Wenn ich etwas unternehme, zumal wenn ich mich mit einer illegalen Bande von Halsabschneidern anlege und Gefahr laufe, daß mein Schwammvorrat entdeckt wird, muß ich etwas dafür bekommen. Damit ich es mache —«

»Ja? Ja?«Zinder war fast den Tränen nahe.

»Bezeichnen Sie Ihr Projekt als gescheitert, und beantragen Sie die Einstellung«, schlug Trelig vor.»Ich werde für die Verbringung von — Obie, glaube ich, nennen Sie ihn — auf meinen Planetoiden Neu-Pompeii sorgen. Dort werden Sie den Bau eines viel größeren Modells planen und beaufsichtigen, als jenes, das Sie hier haben, groß genug, um aus der Ferne auf, sagen wir, einen ganzen Planeten zu wirken.«

Zinder war entsetzt.

»Mein Gott! Nein! Alle diese Menschen! Ich kann nicht!«

Trelig lächelte selbstzufrieden.

»Sie brauchen sich nicht auf der Stelle zu entscheiden. Lassen Sie sich so viel Zeit, wie Sie wollen.«Er stand auf und glättete sein engelweißes Gewand.»Aber vergessen Sie nicht, mit jedem Tag, der vergeht, ist Nikki dem Einfluß der Droge stärker unterworfen. Vom Schmerz ganz abgesehen, setzt sich die Hirnschädigung fort. Bedenken Sie das, wenn Sie sich Ihre Entscheidung überlegen. Mit jeder Sekunde, die Sie vergeuden, nimmt der Schmerz zu, und das Gehirn Ihrer Tochter stirbt ein bißchen mehr.«

»Sie Dreckskerl!«zischte Zinder wütend.

»Ich werde auf jeden Fall eine Suche einleiten«, sagte der andere.»Könnte aber Tage dauern, selbst Wochen. Inzwischen werde ich auf einen bloßen Anruf von Ihnen hin, daß Sie mit meinen Vorschlägen einverstanden sind, alles einsetzen, mit nichts zurückhalten. Adieu, Dr. Zinder.«

Trelig ging langsam zur Tür und hinaus. Sie schloß sich hinter ihm.

Zinder starrte die Tür lange an, dann sank er in seinen Sessel. Er überlegte sich, ob er die Intersystem-Polizei anrufen sollte, ließ es aber sein. Nikki würde gut versteckt sein, und den Vizepräsidenten des Rates zu beschuldigen, er sei ein Schwammhändler und Kidnapper, ohne die Spur eines Beweises — Zinder wußte, daß Trelig für die vergangene Nacht ein unangreifbares Alibi besitzen würde —, wäre sinnlos. Man würde der Sache natürlich nachgehen und dazu Tage, vielleicht sogar Wochen brauchen, während die arme Nikki… Sie würden sie natürlich verkommen lassen. Fünf oder sechs Tage lang. Was dann? Eine hochgradig Schwachsinnige, die glücklich und zufrieden für sie Böden schrubben würde, oder vielleicht ein Spielzeug, das Treligs Männer für Sex und Sadismus zugeteilt werden mochte.

Es war das letztere, das er nicht zu ertragen vermochte. Ihren Tod glaubte er hinnehmen zu können, aber nicht das. Nicht das.

Seine Gedanken kreisten fieberhaft. Es würde später Wege geben. Obie konnte sie heilen, wenn er sie früh genug zurückzuholen vermochte. Und die Anlage, die er bauen sollte — sie konnte ein zweischneidiges Schwert sein.

Er seufzte, ein müder und besiegter kleiner Mann, dann tastete er den Code für Treligs Verbindungsstelle auf Makeva ein. Er wußte, daß er noch dort sein würde, um zu warten. Auf die unausweichliche Antwort.

Für jetzt besiegt, dachte er entschlossen, aber nicht unterworfen. Noch nicht.

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