Das war die erste Erfahrung, die Conway mit einem Physiologieband einer fremden Rasse machte, und er konstatierte voll Interesse, daß er plötzlich in geistiger Hinsicht „doppelt zu sehen“ begann — ein sicheres Zeichen dafür, daß das Band „saß“. Als er den OP-Saal erreichte, fühlte er sich wie zwei Menschen in einem — ein Erdmensch namens Conway und die große, aus fünfhundert Einheiten bestehende Telfigestalt, die sich gebildet hatte, um eine komplette Aufzeichnung allen bekannten Wissens über die Physiologie dieser Rasse zu ermöglichen. Das war der einzige Nachteil — wenn man es als Nachteil ansehen wollte — des Trainingsbandsystems. Dem Geist der Person, die sich dem „Training“ unterzog, wurde nämlich nicht nur Wissen eingeprägt, sondern es übertrugen sich gleichzeitig auch die Persönlichkeiten der Wesen, die dieses Wissen besessen hatten. Kein Wunder also, daß die Diagnostiker, die bis zu zehn verschiedene Bänder aufgenommen hatten, manchmal etwas eigenartig waren.
Ein Diagnostiker hatte die wichtigste Aufgabe im Hospital, dachte Conway, als er den Strahlungspanzer anlegte und seine Patienten für die Voruntersuchung vorbereitete. Er hatte manchmal in Augenblicken einer hohen Meinung von sich selbst daran gedacht, einer zu werden. Ihr Hauptzweck war, Grundlagenarbeit in der xenologischen Medizin und Chirurgie zu leisten und sich um Fälle zu kümmern, für die es keine Physiologiebänder gab.
Sich einfacher, alltäglicher Verletzungen und Krankheiten anzunehmen, lag weit unter ihrer Würde. Um zu rechtfertigen, daß ein Diagnostiker sich einen Patienten ansah, mußte dieser Patient einzigartig, hoffnungslos und wenigstens zu drei Viertel tot sein. Aber wenn einer einen Fall übernahm, war der Patient so gut wie kuriert — Diagnostiker waren dafür bekannt, daß sie mit beinahe monoton wirkender Regelmäßigkeit Wunder verrichteten.
Bei den niedrigeren Rängen der Ärzte gab es immer die Versuchung, das wußte Conway, den Inhalt eines Bandes zu behalten, anstatt ihn löschen zu lassen, in der Hoffnung, irgendeine grundlegende Entdeckung zu machen, die großen Ruhm einbrachte. Bei praktisch veranlagten, vernünftigen Männern wie er einer war, blieb es freilich bei der Versuchung.
Conway sah seine winzigen Patienten nicht. Sie individuell zu untersuchen, war unmöglich, es sei denn, er unterzog sich einer Unmenge unnötiger Mühen mit Spiegeln und Bleiplatten und Mikroskopansätzen. Trotzdem kannte er seine Patienten — innerlich sowohl wie äußerlich — denn das Trainingsband hatte ihn praktisch zu einem von ihnen gemacht. Dieses Wissen, verbunden mit den Ergebnissen seiner Untersuchung, reichte Conway für den Beginn der Behandlung völlig aus.
Seine Patienten waren Teil einer Telfigestalt gewesen, die einen interstellaren Kreuzer bedienten. Einer der Energiemeiler war durchgegangen. Die kleinen, käferartigen und — individuell — sehr dummen Wesen waren Strahlungs-Esser, aber diese Explosion war selbst für sie zuviel gewesen. Ihr augenblickliches Gebrechen ließ sich am besten mit einem äußerst schwerwiegenden Fall von Überfütterung, verbunden mit einer verlängerten Überreizung ihrer Sinnesorgane, besonders der Schmerzzentren, vergleichen. Wenn er sie einfach in einem abgeschirmten Behälter ließ und sie, was Strahlung betraf, praktisch aushungerte — eine Behandlungsweise, die auf ihrem hochradioaktiven Schiff unmöglich war —, konnte man damit rechnen, daß etwa siebzig Prozent von ihnen sich im Laufe von ein paar Stunden selbst kurierten. Diese siebzig Prozent würden Glück haben, und Conway konnte sogar sagen, wer von ihnen zu dieser Kategorie gehörte. Für den Rest dagegen würde das eine Tragödie sein, denn selbst wenn sie nicht den physischen Tod erleiden sollten, würde ihr Schicksal noch viel schlimmer sein: sie würden die Fähigkeit verlieren, sich dem Gruppengeist anzuschließen, und das war für ein Telfi gleichbedeutend mit einem Krüppeldasein.
Nur jemand, der den Geist und die Persönlichkeit und die Instinkte eines Telfi teilte, konnte diese Tragödie als das ansehen, was sie war.
Es war besonders bedauerlich, da die Krankengeschichte, die Conway vom Schiffsarzt erhalten hatte, verriet, daß gerade diese Individuen es waren, die während der Strahlungsexplosion aktiv geblieben waren, um ihr Schiff vor der völligen Vernichtung zu retten. Jetzt hatte ihr Organismus sich auf die Aufnahme der dreifachen Energiemenge eingestellt, die ein Telfi normalerweise brauchte. Wenn diese Energieaufnahme für längere Zeit unterbrochen wurde, würden die Verbindungszentren ihres Gehirns leiden. Behielt man andererseits die erhöhte Energiezufuhr bei, würden sie binnen einer Woche praktisch ausbrennen.
Aber es gab eine Behandlungsweise, mit der diesen Unglücklichen geholfen werden konnte. Als Conway seine Geräte für diese Therapie vorbereitete, dachte er, daß diese Behandlung eigentlich alles andere als zufriedenstellend war — sie war riskant und war einzig und allein eine Frage kalter, medizinischer Statistik, die er durch nichts beeinflussen konnte. Er kam sich vor wie ein Mechaniker.
Binnen kurzem hatte er sich davon überzeugt, daß sechzehn seiner Patienten an dem telfischen Äquivalent einer Verdauungsstörung litten. Er sonderte diese sechzehn in abgeschirmten, absorbierenden Flaschen ab, damit die Ausstrahlung ihrer immer noch „heißen“ Körper nicht den „Aushungerungsprozeß“ verlangsamte. Die Flaschen stellte er in einen kleinen Meilerofen, der so eingestellt wurde, daß er den für Telfi normalen Strahlungspegel abgab. Ein Relais sorgte dafür, daß die Abschirmung abfiel, sobald die überschüssige Radioaktivität aufgezehrt war. Die restlichen sieben brauchten eine Sonderbehandlung. Er hatte sie in einen anderen Meiler gesteckt und drehte gerade an einem Stellrad, um die Bedingungen so genau wie möglich wiederherzustellen, die während des Unfalls in ihrem Schiff geherrscht hatten, als der Interkom an der Wand zu summen begann. Conway führte die letzte Schaltung aus, überprüfte sie und sagte dann:
„Ja?“
„Hier Funkzentrale, Dr. Conway. Uns liegt ein Signal des Telfischiffes vor. Das Telfi will über die Kranken Nachricht haben. Können Sie schon etwas sagen?“
Conway wußte, daß seine Auskunft nicht schlecht war, wünschte aber, er könnte eine bessere geben. Das Auseinanderreißen einer Telfigestalt war für die davon betroffenen Einzelwesen nur einem Todestrauma vergleichbar, und Conway fühlte im Augenblick wie ein Telfi.
„Sechzehn von ihnen sind etwa in vier Stunden praktisch völlig wiederhergestellt. Die anderen sieben werden leider zu fünfzig Prozent ausfallen, aber welche es genau betreffen wird, werden wir erst in ein paar Tagen wissen. Im Augenblick stecken sie in einem Meiler bei doppelter Strahlung, die ich langsam auf das Normalmaß zurücksetzen werde. Die Hälfte von ihnen sollte es überstehen. Haben Sie verstanden?“
„Ja.“ Nach ein paar Minuten meldete sich die Stimme wieder. „Das Telfi sagt, es sei gut, und vielen Dank. Ende.“
Eigentlich hätte er sich darüber freuen müssen, daß er seinen ersten Fall erfolgreich gelöst hatte, aber Conway empfand tiefe Niedergeschlagenheit. Jetzt, wo alles vorüber war, empfand er eine eigenartige Verwirrung. Er mußte immer wieder daran denken, daß fünfzig Prozent von sieben dreieinhalb war. Was würde aber mit dem halben Telfi werden? Er hoffte, daß vier anstatt drei durchkamen und daß sie nicht in geistiger Hinsicht Krüppel sein würden. Er dachte, daß es schön sein mußte, ein Telfi zu sein und die ganze Zeit Strahlung aufzusaugen und die zahlreichen und verschiedenartigen Eindrücke, wie sie nur ein Sammelwesen aus vielleicht Hunderten von Individuen empfand. Wenn er so dachte, kam ihm sein eigener Körper irgendwie kalt und einsam vor. Es kostete ihn Überwindung, die Wärme des Strahlungs-OP-Saales zu verlassen.
Draußen stieg er auf den Wagen und steuerte ihn zur Einlaßschleuse zurück. Vorschriftsmäßig müßte er jetzt zum Trainingsraum gehen und das Telfiband löschen lassen — er hatte auch eine entsprechende Anweisung erhalten. Aber er wollte nicht gehen; der Gedanke an O’Mara beunruhigte, ja, ängstigte ihn. Conway wußte, daß er immer so empfand, wenn es sich um Angehörige des Monitor-Korps handelte, aber diesmal war es anders. Da war dieser kleine „Schwatz“, wie O’Mara es genannt hatte. Conway war sich ganz klein vorgekommen, gerade, als wäre der Monitor irgendwie sein Vorgesetzter, und Conway konnte sich wirklich nicht vorstellen, wie man sich vor einem Monitor klein vorkommen konnte!
Conway beschloß, zuerst seine Station zu besuchen und erst dann zum Trainingsraum zu gehen. Das war eine stichhaltige Begründung, falls O’Mara ihn wegen der Verzögerung befragen sollte, und vielleicht wurde der Chefpsychologe in der Zwischenzeit abgerufen. Wenigstens hoffte Conway das.
Als erstes besuchte er einen AUGL von Chalderescol 2, den einzigen Insassen der für diese Spezies reservierten Station. Conway legte entsprechende Schutzkleidung an — in diesem Fall einen ganz gewöhnlichen Taucheranzug — und trat durch die Schleuse in den Tank grünen lauwarmen Wassers, der die gewohnte Umgebung dieses Wesens reproduzierte. Er holte sich aus dem Schrank hinter der Schleuse seine Instrumente und kündete dann seinen Besuch an. Wenn der Chaldor wirklich dort unten schlief und er ihn erschreckte, konnte das ernste Folgen haben. Eine zufällige Berührung mit diesem Schweif, und die Station würde zwei statt eines Patienten haben.
Der Chaldor hatte dicke Panzerplatten und Schuppen und erinnerte entfernt an ein zwölf Meter langes Krokodil, wenn man davon absah, daß er anstatt Beine eine anscheinend regellose Anordnung von Finnen und einen Kranz bandartiger Tentakel besaß, die an der Mitte seines Körpers angeordnet waren. Er schwebte apathisch in der Nähe des Bodens des großen Tanks, und das einzige Lebenszeichen, das der Chaldor von sich gab, war, daß das Wasser in der Nähe seiner Kiemen sich in periodischen Abständen verdunkelte. Conway untersuchte den Patienten flüchtig — die Sache mit dem Telfi hatte ihn viel Zeit gekostet — und stellte die übliche Frage. Die Antwort erreichte Conway auf einem ihm unverständlichen Weg durch das Wasser über seine Translatoranlage und schließlich seine Kopfhörer.
„Ich bin schwer krank“, sagte der Chaldor. „Ich habe Schmerzen.“
Du lügst, dachte Conway. Dr. Lister, der Direktor von Sektor 12 und wahrscheinlich der beste Diagnostiker seiner Zeit, hatte diesen Chaldor praktisch Stück für Stück zerlegt. Die Diagnose hatte auf Hypochondrie in einem unheilbaren Stadium gelautet. Der Diagnostiker hatte ferner ausgeführt, daß die Überlastungserscheinungen im Schuppenpanzer des Patienten und die Schmerzen, die er anscheinend an diesen Stellen gelegentlich empfand, nur auf die Faulheit und Gefräßigkeit des Wesens zurückzuführen waren. Jedermann wußte, daß ein Lebewesen mit einem Exoskelett nur von innen heraus zunehmen konnte! Und Diagnostiker waren nicht gerade wegen ihrer zarten Ausdrucksweise berühmt.
Der Chaldor wurde nur dann wirklich krank, wenn Gefahr bestand, daß man ihn nach Hause schickte, und so hatte das Hospital einen Dauerpatienten bekommen. Aber das störte niemand. Die Ärzte vom regulären Stab hatten ihn ebenso wie zu Besuch in der Station weilende Ärzte gründlich untersucht und setzten diese Untersuchungen auch periodisch fort; ebenso sämtliche Internisten und Pfleger all der vielen Rassen, die im Personal des Hospitals vertreten waren. So wurde der Chaldor dauernd beschäftigt und von jungen Medizinstudenten als wertvolles Anschauungsobjekt benutzt, und beide Teile waren zufrieden. Niemand erwähnte heutzutage dem Chaldor gegenüber noch je den Gedanken der Entlassung.