Kreuzer Sheldon vom Monitor-Korps tauchte etwa fünfhundert Meilen von Sektor 12 entfernt aus dem Hyperraum auf. Das Wrack, das den eigentlichen Anlaß seines Kommens bildete, wurde vom Saugfeld seiner Hypergeneratoren sanft gegen den Rumpf gepreßt. Irgendwo in dem Wrack verborgen, das der Monitorkapitän neben sich herschleppte, gab es einen Überlebenden, der dringend ärztliche Hilfe brauchte.
Der Kapitän nahm schnell Verbindung mit dem Empfang auf und schilderte seine Lage, worauf man ihm versicherte, daß man sich der Sache sofort annehmen würde.
Dr. Conway saß etwas unruhig im Büro des Chefpsychologen und sah O’Mara über dessen Schreibtisch hinweg an.
„Beruhigen Sie sich nur, Doktor“, sagte O’Mara plötzlich. Er hatte offensichtlich die Gedanken seines Gegenübers gelesen. „Wenn Sie hier wären, um eine Rüge erteilt zu bekommen, würden Sie nicht im Lehnsessel, sondern auf diesem Hocker dort hinten sitzen. Im Gegenteil, ich habe Anweisung, Ihnen kräftig auf die Schulter zu klopfen. Man hat Sie befördert, Doktor. Meine Gratulation. Sie sind jetzt — der Himmel stehe uns allen bei — ein Seniorarzt.“
Ehe Conway auf die Nachricht reagieren konnte, hob der Psychologe warnend die Hand.
„Meiner Meinung nach ist das ein ungeheurer Fehler“, fuhr er fort, „aber offenbar hat Ihr Erfolg mit diesem sich immer wieder auflösenden SRTT und das, was Sie in der Dinosauriergeschichte geleistet haben, die Leute oben beeindruckt — die glauben nämlich, das Ganze hätte etwas mit Fähigkeiten und nicht nur mit blindem Glück zu tun. Was mich betrifft“, schloß er grinsend, „würde ich Ihnen nicht einmal meinen Blinddarm anvertrauen.“
„Sie sind sehr freundlich, Sir“, sagte Conway trocken.
O’Mara lächelte wieder. „Was erwarten Sie denn? Lob? Aber ich muß Ihnen wohl eine Minute Zeit geben, damit Sie sich Ihrer neuen Würde bewußt werden…“
Conway wußte die Beförderung wohl zu schätzen. Aber eine kleine Spur Angst mischte sich auch in seine Freude.
Künftig würde er ein rot eingefaßtes Armband tragen, in den Korridoren und Speisesälen vor allen — außer den anderen Seniorärzten und Diagnostikern — Vorrang haben, und wenn er irgendein Gerät oder Unterstützung brauchte, so würde es künftig genügen, die Dinge einfach anzufordern. Aber er würde auch die volle Verantwortung für ihm anvertraute Patienten tragen und sich dieser Verantwortung nicht entziehen können. Seine persönliche Freiheit würde stärker eingeschränkt werden. Zu seinen Aufgaben würde es künftig gehören, Schwestern zu unterrichten und Internisten auszubilden. Wahrscheinlich würde er sogar an irgendeinem langfristigen Forschungsprojekt mitarbeiten müssen. Diese Pflichten würden erfordern, daß er mindestens ein, vielleicht auch zwei Physiologiebänder permanent aufnahm. Und das würde nicht angenehm sein.
Man erwartete von Seniorärzten, daß sie immer ein oder zwei dieser Bänder bei sich behielten, und das war, wie Conway gehört hatte, nicht gerade schön. Das einzige, was sich dazu sagen ließ, war, daß er immer noch besser daran war als ein Diagnostiker, ein Angehöriger der Elite des Hospitals, eines jener seltenen Wesen, deren Geist als stabil genug angesehen wurde, um dauernd sechs, sieben oder sogar zehn Lehrbänder gleichzeitig zu behalten.
Im Hospital gab es ein Sprichwort, das man dem Chefpsychologen selbst zuschrieb, daß nämlich jedermann, der intelligent genug war, um Diagnostiker zu sein, verrückt wäre.
Denn schließlich lieferten die Lehrbänder ja nicht nur physiologische Einzelheiten, sondern ihrem Gehirn wurde gleichzeitig die vollständige Erinnerung und die Persönlichkeit des Wesens, das dieses Wissen einmal besessen hatte, aufgeprägt. In der Praxis unterzog sich ein Diagnostiker also freiwillig der krassesten Form multipler Schizophrenie!
Plötzlich riß ihn O’Maras Stimme aus seinen Gedanken.
„… und jetzt kommen Sie sich mindestens einen Meter größer vor“, sagte der Psychologe. „Ich habe eine Arbeit für Sie. Gerade ist ein Wrack mit einem Überlebenden eingeliefert worden. Offenbar funktionieren die üblichen Methoden, dieses Wesen herauszuholen, nicht. Physiologische Klassifikation unbekannt — wir haben das Schiff nicht identifizieren können und haben daher keine Ahnung, wie das Wesen aussieht. Ich möchte, daß Sie einmal hinübergehen und versuchen, das Wesen so schnell wie möglich zur Behandlung hierherzubringen. Wie wir hören, werden seine Bewegungen im Innern des Wracks immer schwächer“, schloß er. „Die Angelegenheit ist also dringend.“
„Ja, Sir“, sagte Conway und stand schnell auf. An der Tür blieb er stehen. Später wunderte er sich über seine Frechheit, daß er das zu dem Chefpsychologen zu sagen gewagt hatte. Wahrscheinlich war ihm seine Beförderung zu Kopfe gestiegen. „Ich habe übrigens Ihren lausigen Blinddarm. Kellerman hat ihn vor drei Jahren herausgenommen. Er hat ihn in Alkohol konserviert und ihn als Schachtrophäe zur Verfügung gestellt. Ich habe sie gewonnen. Jetzt steht sie auf meinem Bücherschrank…“
O’Maras einzige Reaktion darauf war, den Kopf zu neigen, als hätte man ihm ein Kompliment gemacht.
Im Korridor begab sich Conway zum nächsten Interkom und rief die Transportabteilung.
„Hier ist Dr. Conway“, meldete er sich. „Ich habe einen dringenden Fall. Fremdpatient. Ich brauche ein Raumtaxi. Außerdem einen Pfleger, der mit einem Analysator umgehen kann und möglichst Erfahrung darin hat, wie man Leute aus Wracks herausfischt. Ich bin in ein paar Minuten bei Einlaßschleuse acht…“
Conway erreichte die Schleuse ziemlich schnell. Dies war nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß die Leute auf den Gängen ihm plötzlich den Weg freimachten und ihm den Vortritt ließen. Seine Beförderung hatte sich also schon herumgesprochen — denn er trug sein neues Armband noch gar nicht.
Das Wesen, das ihn bei Schleuse acht erwartete, war einer der vielbeinigen pelzbewachsenen DBLF-Pfleger, und er fing sofort zu tuten und zu pfeifen an, als Conway auftauchte.
Conway stieg vor dem Pfleger durch die Schleuse, die sie wenige Sekunden später hinter sich ließen. Auf dem Heckbildschirm des Raumtaxis verschwammen die Lichter von Sektor 12 ineinander, und Conway fing an, sich Sorgen zu machen.
Das war nicht das erstemal, daß man ihn zu einem Wrack rief, und er wußte sehr wohl, wie er sich zu verhalten hatte. Aber plötzlich wurde ihm klar, daß er für das, was nun geschehen würde, die alleinige Verantwortung trug — er konnte nicht um Hilfe schreien, wenn irgend etwas mißlang. Nicht, daß er das je getan hätte, aber allein das Wissen, daß er es tun konnte, hatte ihn erleichtert.
Während des Flugs zum Wrack ging der DBLF, der ihm erklärte, daß sein Name Kursedd sei, Conway gründlich auf die Nerven. Das Wesen besaß überhaupt kein Taktgefühl, und wenn Conway die Gründe dafür auch kannte, machte ihm das seinen Begleiter nicht gerade sympathischer.
Kursedds Spezies war nicht telepathisch veranlagt. Sie vermochten jedoch durch genaue Beobachtung des Gesichtsausdrucks die Gedanken der Angehörigen ihrer Rasse ziemlich genau zu deuten. Sie besaßen immerhin vier Stielaugen, zwei Hörantennen und ein Pelzkleid, das je nach Stimmung seidig glatt anlag oder wie das Fell eines frischgebadeten Hundes abstand — und über all diese Organe hatten sie praktisch keinerlei Kontrolle. So war leicht verständlich, daß diese raupenartige Rasse nie die hohe Kunst der Diplomatie gelernt hatte. Sie sagten immer genau das, was sie dachten, da es gegenüber einem Mitglied ihrer eigenen Rasse im höchsten Grade dumm gewesen wäre, irgendwelche höfliche Lügen auszusprechen, die der andere ohnehin durchschaute.
Und dann näherten sie sich plötzlich dem Monitor-Kreuzer und dem Wrack, das daneben im Weltraum hing.
Abgesehen von der orangegelben Farbe glich es den anderen Wracks, die er gesehen hatte, ziemlich stark, dachte Conway.
Er wies Kursedd an, das Wrack ein paarmal zu umkreisen und trat an den vorderen Bildschirm.
Auf kurze Distanz konnte man die innere Struktur des Wracks deutlich sehen, da es bei dem Unfall praktisch in zwei Teile geschnitten worden war. Es bestand aus dunklem und ziemlich normal aussehendem Metall. Die grelle Farbe des Rumpfes mußte also nachträglich aufgetragen worden sein. Das war für Conway sehr wichtig, denn aus den Farbsorten, die ein Wesen gebrauchte, konnte man auf den Sehbereich seiner Sichtorgane schließen und daraus wiederum auf die Beschaffenheit seiner Atmosphäre. Nach ein paar Minuten hatte er genug gesehen und forderte Kursedd auf, Schleuse an Schleuse mit der Sheldon zu gehen.
Die Schleusenvorkammer des Kreuzers war klein und im Moment mehr als unbequem, da eine ganze Anzahl grün uniformierter Monitore darin herumstand und neugierig in einem eigenartig aussehenden Mechanismus herumstocherte — offenbar einem Wrackteil — der auf dem Boden lag. Worte im technischen Jargon eines halben Dutzends der Spezialisten schwirrten hin und her, und niemand achtete auf den Arzt und seinen Begleiter, bis Conway sich zweimal laut räusperte. Dann löste sich ein Offizier mit Majorsinsignien — ein hagerer Mann mit bereits ergrautem Haar — aus dem Gespräch und kam auf die beiden zu.
„Summerfield, Kapitän“, sagte er und sah sich noch einmal nach dem Ding auf dem Boden um. „Sie sind vermutlich die Wunderdoktoren vom Hospital drüben?“
Conway war gereizt. Er verstand natürlich, wie diese Leute fühlten — ein Wrack eines interstellaren Schiffes, das einer unbekannten, fremden Kultur gehörte, war natürlich ein seltener Fund, eine technologische Schatzkammer, deren Wert niemand ermessen konnte. Aber Conway war völlig anders orientiert; fremde Artefakte rangierten in ihrer Bedeutung erst weit nach dem Studium, der Untersuchung und der Wiederherstellung fremden Lebens. Und deshalb kam er sofort zur Sache.
„Kapitän Summerfield“, sagte er scharf, „wir müssen die Umweltbedingungen dieses Überlebenden so schnell wie möglich ermitteln und reproduzieren — und zwar sowohl im Hospital als auch in dem Raumtaxi, das es dorthin bringen wird. Können wir jemand bekommen, der uns das Wrack zeigen kann? Möglichst einen Offizier, der sich…“
„Natürlich“, unterbrach ihn Summerfield. Er sah aus, als wollte er etwas sagen, zuckte dann aber die Achseln und wandte sich um. „Hendricks!“ bellte er. Ein Leutnant, der die untere Hälfte eines Raumanzuges trug und einen etwas verstörten Eindruck machte, trat zu ihnen. Der Kapitän stellte ihn schnell vor und kehrte dann zu dem rätselhaften Ding auf dem Boden zurück.
„Wir werden schwere Anzüge brauchen“, sagte Hendricks. „Für Sie habe ich etwas, Dr. Conway, aber Dr. Kursedd ist ein DBLF…“
„Macht nichts“, warf Kursedd ein. „Ich habe einen Anzug im Taxi. Lassen Sie mir fünf Minuten Zeit.“
Der DBLF schlängelte sich auf die Luftschleuse zu, und sein Pelz hob und senkte sich in langsamen Wellen. Conway hatte schon Hendricks’ Fehler hinsichtlich Kursedds Titel verbessern wollen, hatte sich dann aber daran erinnert, daß der Gebrauch des Titels in dem DBLF offenbar eine Hochstimmung erzeugt hatte — irgend etwas mußte doch dieses Sträuben seines Pelzes bedeuten. Ob freilich dieser Ausdruck Freude und Stolz, daß man ihn als Arzt ansah, bedeutete oder ob das Wesen einfach versuchte, sich vor Lachen eines seiner vierunddreißig Beine auszureißen, wußte er nicht. Aber wichtig war das ohnehin nicht, und so beschloß Conway, gar nichts zu sagen.