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Als sie O’Maras Büro verlassen hatten, führte Conway Prilicla zur ersten ihrer Stationen und bemühte sich unterwegs, den GNLO mit wichtigen statistischen Daten des Hospitals vertraut zu machen.

Die Station enthielt achtundzwanzig Babies der Klassifikation FROB — kleine, kräftig gebaute, ungeheuer starke Wesen mit einem Hornpanzer, der die Festigkeit von Stahlplatten hatte. Erwachsene Wesen dieser Spezies neigten wegen ihrer großen Masse dazu, langsam und träge zu sein, aber die Jungen vermochten sich trotz der vierfachen Erdschwerkraft und des hohen Drucks, in dem sie lebten, überraschend schnell zu bewegen. In dieser Umgebung bedurfte es eines schweren Schutzanzuges, und das unterste Stockwerk dieser Station wurde nur in äußersten Notfällen überhaupt von Ärzten aufgesucht. Man hievte vielmehr die Patienten mit Hilfe einer Art Flaschenzug in die Höhe, um sie dann in einer eigens für diesen Zweck geschaffenen Kuppel in der Decke zu untersuchen, wo man ihnen mit einer langen, extrem starken Nadel eine Spritze verpaßte. Diese Nadel wurde an der Stelle eingeführt, wo das Vorderbein an den Körper anschloß — eine der wenigen weichen Stellen am Körper eines FROB.

„… Sie werden wahrscheinlich eine Menge Nadeln abbrechen, bis Sie das richtig heraushaben“, fügte Conway hinzu, „aber machen Sie sich darüber keine Gedanken.“

Sie gingen auf die FROB-Station zu Prilicla, sechs vielgliedrige und bleistiftdünne Beine bewegten sich mit verblüffender und gleichzeitig verwirrender Schnelligkeit, und Conway hatte ständig Angst, einmal auf eines zu treten — was aber nie geschah.

„Um wieder auf unsere dickhäutigen kleinen Freunde zurückzukommen“, sagte Conway, „diese Unempfindlichkeit bezieht sich, besonders bei den jüngeren Angehörigen dieser Spezies, leider nicht auch auf Bakterien oder Viren, und die Kleinen…“

„… bekommen jede Krankheit“, unterbrach Prilicla. „Und wenn irgendwo eine neue Krankheit entdeckt wird, sind sie die ersten, die sich anstecken.“

Conway lachte. „Ich hatte ganz vergessen, daß die meisten ET-Krankenhäuser FROBs haben und daß Sie sie vermutlich schon kennen. Dann wissen Sie auch, daß diese Krankheiten für die Jungen nur selten tödlich verlaufen, aber daß die Therapie immer lang und kompliziert ist. Keiner von den achtundzwanzig Fällen hier ist ernsthaft, und der Hauptgrund für ihre Anwesenheit hier ist, daß wir ein neues Universalserum entwickeln wollen, womit man ihnen auf künstlichem Wege schon die Immunität gegenüber Ansteckungen beibringen möchte, die sie sich später im Leben sowieso erwerben und so… halt!“

Er stieß den Befehl im Flüsterton hervor. Prilicla erstarrte, und seine Füße mit den Saugnäpfen klammerten sich an den Boden. Dann starrten beide Ärzte das Wesen an, das gerade vor ihnen im Korridor aufgetaucht war.

Auf den ersten Blick sah es wie ein Illensaner aus. Der formlose, stachelbewehrte Körper mit den trockenen Membranen, die die oberen und unteren Glieder verbanden, gehörte zweifellos der PVSJ-Gattung der Chloratmer an. Aber darüber hinaus besaß das Wesen noch zwei Tentakel, die von einem FGLI zu stammen schienen, und dazu atmete es ebenso wie sie eine an Sauerstoff reiche Luft.

Das konnte nur der Ausreißer sein.

Conway erinnerte sich an O’Maras strikte Anweisung, das Wesen nicht zu erschrecken und versuchte, sich etwas Freundliches und Beruhigendes auszudenken, was er zu ihm sagen konnte. Aber der SRTT rannte sofort davon, als er sie erblickte, und Conway brachte nur hervor:

„Schnell, ihm nach!“

Sie erreichten die Korridorkreuzung und bogen in den Gang ein, in der der fliehende SRTT verschwunden war. Prilicla hatte sich wieder an die Decke geschwungen, um Conway nicht im Wege zu sein. Aber als Conway dann sah, was der SRTT zu tun im Begriff war, vergaß er alle Vorsätze, und er schrie: „Halt, du Narr! Nicht da hinein…!“

Der SRTT stand vor dem Eingang zur FROB-Station.

Sie erreichten die Schleuse einen Augenblick zu spät und mußten hilflos durch die Luke zusehen, wie der SRTT die innere Pforte öffnete und von der vierfachen Schwerkraft erfaßt und zu Boden gerissen wurde. Dann schloß sich die innere Tür automatisch, und Prilicla und Conway konnten die Schleuse betreten und sich auf die geänderten Umweltbedingungen im Innern der Station vorbereiten.

Conway fuhr mit nervöser Hast in den Schutzanzug, den er immer in der Schleusenkammer aufbewahrte, und schaltete dann seinen Schwerkraftgürtel auf den hier erforderlichen Wert. Prilicla war inzwischen mit seinen eigenen Geräten beschäftigt. Während Conway seinen Anzug noch einmal überprüfte und dabei über diese doch so nötige Zeitverschwendung fluchte, erblickte er durch eine Luke in der Schleusenwand etwas, was ihn schaudern ließ.

Die pseudoillensanische Gestalt des SRTT lag an den Boden gepreßt da. Sie zuckte leicht, und schon näherte sich eines der größeren FROB-Babies, um diesen eigenartigen Gegenstand zu untersuchen. Einer der großen säulenartigen Füße mußte auf den SRTT getreten sein, denn er zuckte zurück und begann sich schnell und unglaublich zu verändern. Die schwachen, membranartigen Glieder des PVSJ schienen mit dem Hauptkörper zu verschmelzen, der sich in die knochige, echsenartige Gestalt mit den gefährlich aussehenden, zugespitzten Tentakeln verwandelte, die sie zuerst in Schleuse sechs gesehen hatten. Das war offenbar die furchterregendste Manifestation des SRTT.

Aber der junge FROB besaß beinahe die fünffache Masse des anderen und empfand daher keineswegs Angst. Er senkte seinen massiven Kopf und stieß zu. Der SRTT krachte nach einem Flug von zwanzig Fuß gegen die Wand. Der FROB wollte spielen.

Die Schleuse hatte sich inzwischen vor den beiden Ärzten geöffnet, und beide kletterten jetzt hastig die Treppe zur Decke hinauf, von wo aus man viel besser sehen konnte. Der SRTT veränderte sich erneut.

„Doktor, können Sie den Greifer bedienen?“ schrie Conway. „Gut! Dann tun Sie es!“ Als Prilicla in die Kontrollkuppel lief, schaltete Conway seinen Schwerkraftgürtel auf Null und rief: „Ich lenke Sie von unten.“ Gewichtslos stieß er sich ab und schwebte zu Boden.

Aber Conway war für das FROB-Baby kein Fremder — wahrscheinlich konnte es diese winzige Gestalt nicht leiden, deren einzige Tätigkeit darin zu bestehen schien, den FROB mit Nadeln zu stechen, während ihn irgend etwas Großes, Kräftiges festhielt. Aus diesem Grunde beschloß der FROB, Conway trotz all seinem Gestikulieren nicht zu beachten. Dafür interessierten sich jetzt andere Insassen der Station, deren ganze Aufmerksamkeit jetzt dem sich immer noch verändernden SRTT galt.

„Nein!“ schrie Conway, erschreckt über die Gestalt, die der Besucher annehmen wollte. „Nein! Halt! Zurück…!“

Aber es war zu spät. Die ganze Station schien auf den SRTT zuzustampfen. Und alles brüllte, knurrte und schrie durcheinander. Die Stimmen der älteren Babies konnte man durch den Translator verstehen:

„Püppchen! Püppchen! Nettes Püppchen…!“

Conway sprang in die Höhe, um nicht zu Tode getrampelt zu werden und blickte auf die wirr durcheinander trampelnde Masse von FROBs hinunter. Er war überzeugt, daß der unglückliche SRTT von diesem Leben Abschied genommen hatte. Aber nein. Das Wesen hatte es irgendwie fertiggebracht, zwischen den stampfenden Füßen hindurch — oder um sie herum — zu entkommen und lag jetzt dicht an die Wand gepreßt da. Jetzt sah man ihn ganz deutlich in der Gestalt, die er chamäleonartig in der irrigen Meinung angenommen hatte, daß eine winzige Version eines FROB ihm Sicherheit bringen würde.

Conway rief: „Schnell! Den Greifer!“

Prilicla schlief nicht. Die mächtigen Kiefer des Baggers hingen bereits offen über dem benommenen SRTT, und als Conway rief, senkten sie sich und fuhren krachend zusammen. Conway sprang auf eines der Kabel zu, und als sie sich gemeinsam vom Boden hoben, redete er auf den SRTT ein:

„Du bist jetzt in Sicherheit. Beruhige dich. Ich bin hier, um dir zu helfen…“

Die Antwort darauf war eine Zuckung des SRTT, die ihn beinahe vom Seil geworfen hätte, und plötzlich war aus dem Wesen eine ölige Masse geworden, die zwischen den Zähnen des Baggers hindurchrann und auf den Boden klatschte. Die FROBs tuteten erregt und griffen erneut an.

Diesmal konnte es nicht überleben, dachte Conway in einem Gefühl, das sich aus Schrecken, Furcht und Ungeduld mischte; dieses Wesen, das bereits bei der Ankunft zu Tode erschrocken war und seitdem andauernd auf der Flucht gewesen war und das auch jetzt noch zu verängstigt war, um sich helfen zu lassen. Der Bagger war nutzlos, aber es gab noch eine andere Möglichkeit!

An der Wand gegenüber der Einlaßschleuse, die Prilicla und er benutzt hatten, war die Tür, durch die die FROB-Patienten in die Station gebracht wurden. Conway sprang in einem langen Satz auf die Tür zu und schob sie auf. Dann sah er dem SRTT zu, wie er hindurchschritt. Conway konnte die Tür gerade noch rechtzeitig schließen, um zu verhindern, daß auch ein paar Patienten entkamen. Dann schwebte er mit Hilfe seines Schwerkraftgürtels wieder zur Kontrollkuppel hinauf, um O’Mara zu berichten.

Die Situation war jetzt viel schlimmer, als sie alle gedacht hatten. Er hatte nämlich vom anderen Ende der Station aus etwas gesehen, was die Schwierigkeit, den Flüchtling zu fangen und zu beruhigen, um ein Vielfaches vergrößerte und was auch erklärte, weshalb der Besucher nicht auf seine Worte reagiert hatte, als er im Bagger gewesen war. Conway hatte die zertrampelten Überreste des Translators des SRTT gesehen.

Aber der Chefpsychologe war nicht in seinem Büro. Einer seiner Assistenten konnte Auskunft geben, wo er sich befand, und so rannten sie im nächsten Augenblick ins 47. Stockwerk in die Beobachtungsstation drei.

Es handelte sich um einen riesigen Raum mit hoher Decke, der unter Druck- und Temperaturbedingungen stand, die warmblütigen Sauerstoffatmern angemessen waren.

Conway sah eine Gruppe von Ärzten aller Gestalten und Spezies um einen Tank mit einer Glaswand in der Mitte der Station stehen.

Dann erblickte er den Psychologen an einem Interkom an der Wand und rannte auf ihn zu.

O’Mara hörte ihm mit stoischer Ruhe zu, bis er den zerbrochenen Translator erwähnte. Da gebot er ihm mit einer Handbewegung Schweigen und schlug auf den Interkomschalter.

„Geben Sie mir die Ingenieursabteilung, Oberst Skempton“, bellte er. Und dann: „Oberst, unser Freund ist in der FROB-Säuglingsstation. Aber es kommt noch schlimmer — er hat seinen Translator verloren…“, eine kurze Pause, und dann: „Ich weiß auch nicht, wie Sie ihn beruhigen sollen, wenn Sie nicht mit ihm reden können, aber tun Sie jedenfalls Ihr Möglichstes — ich kümmere mich inzwischen um die Funkverbindung.“

Er schaltete ab, um gleich darauf wieder einzuschalten und sagte: „Colinson in der Funkzentrale… hallo, Major. Ich möchte eine Relaisverbindung mit der Monitorforschungsgruppe auf dem Heimatplaneten des SRTT — ja, die Verbindung, die Sie mir vor ein paar Stunden schon einmal gegeben haben. Bitte, erledigen Sie das. Sie sollen ein Band in der Sprache der SRTTs herstellen — ich gebe Ihnen gleich den Text — er soll von einem erwachsenen SRTT gesprochen werden und etwa folgendermaßen lauten…“

Er brach ab, als Major Colinsons Stimme aus dem Lautsprecher dröhnte. Der Funker machte ihn darauf aufmerksam, daß der SRTT-Planet die halbe Länge der Milchstraße entfernt sei und daß das Hyperradio wie jedes andere Radio auch Störungen unterworfen sei und daß ein Signal bei dieser Entfernung praktisch unverständlich sein würde.

„Dann sollen sie das Signal eben wiederholen“, sagte O’Mara. „Es wird doch wenigstens Satzteile geben, die man zusammenstellen kann, um einen Sinn herauszukriegen. Wir brauchen das dringend, und ich sage Ihnen auch warum…“

Die SRTT-Spezies war eine Rasse von äußerst langer Lebensdauer, erklärte O’Mara schnell. Sie pflanzten sich auf hermaphroditischem Wege in sehr großen Abständen und mit großer Anstrengung fort. Aus diesem Grunde bestand ein Band großer Zuneigung und — was unter den augenblicklichen Umständen noch wichtiger war — großer Disziplin zwischen den Erwachsenen und den Kindern der Spezies. Außerdem bestand die durch zahlreiche Beobachtungen erhärtete Annahme, daß, ganz gleich welche Verwandlungen ein Angehöriger dieser Spezies auch vornahm, er doch immer versuchen würde, die Stimm- und Hörorgane beizubehalten, die es ihm erlaubten, mit seinen Rassegenossen zu sprechen.

Wenn daher einer der Erwachsenen auf dem Heimatplaneten ein paar allgemeine Bemerkungen zusammenstellen konnte, die sich auf Jugendliche bezogen, die sich schlecht benahmen und wenn diese „Ansprache“ über den Interkom des Hospitals durchgegeben wurde, dann würde der angeborene Gehorsam des jungen SRTT gegenüber älteren Artgenossen vermutlich die gewünschte Wirkung haben.

„… Damit“, meinte O’Mara, zu Conway gewandt, als er den Interkom abschaltete, „sollte diese kleine Krise überstanden sein. Wenn wir Glück haben, hat sich unser Besucher in ein paar Stunden beruhigt. Ihre Sorgen sind also vorüber, Sie können sich ausruhen…“

Conway schüttelte den Kopf. „Nein, da ist noch etwas. Dr. Prilicla hat es entdeckt, auf empathischem Wege. Sie dürfen nicht vergessen, daß der SRTT unter furchtbarem psychologischem Druck steht — die Sorge um den Sterbenden, die Angst, die er bei Schleuse sechs empfand, als alle gleichzeitig auf ihn stürzten und jetzt die Schläge, die er in der FROB-Säuglingsstation einstecken mußte. Er ist jung, unreif, und diese Erlebnisse haben ihn in ein Stadium zurückgeworfen, wo er rein instinktiv — wie ein Tier — reagiert. Und… nun…“ Conway fuhr sich mit der Zunge über die ausgetrockneten Lippen. „… hat eigentlich schon einmal jemand darüber nachgedacht, wie lange es her ist, daß dieser SRTT zuletzt gegessen hat?“

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