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Conway hatte sich schon oft über die winzigen Ausmaße seiner Kabine beklagt, aber jetzt empfand er diese Tatsache als beruhigend. Er setzte sich, da er zum Auf- und Abgehen keinen Platz hatte. Jetzt konnte er zum erstenmal versuchen, die noch fehlenden Steine zu dem Mosaik zusammenzutragen, dessen Umrisse ihm plötzlich in der Station klar geworden waren.

Eigentlich hätte er es von Anfang an merken müssen. Zuerst einmal waren da die Schwerkraftgitter des Wracks — Conway hatte in seiner Blindheit völlig übersehen, daß sie gar nicht bei voller Kraft arbeiten mußten, sondern auf eine beliebige Intensität zwischen Null und fünf G eingestellt werden konnten. Und dann die Anlage der Luftversorgung — die einen nur dann verwirrte, wenn man nicht bedachte, daß sie für verschiedene Lebensformen und nicht nur für eine bestimmt war! Und dann der Zustand des Überlebenden und die Farbe des Schiffsrumpfes — ein auffälliges Orange. Erdschiffe dieser Art, selbst solche, die nur auf Planeten verkehrten, waren traditionell weiß gestrichen.

Das Wrack war ein Ambulanzschiff.

Aber interstellare Schiffe jeder Art waren Produkte einer fortgeschrittenen technischen Kultur, die sich über viele Sonnensysteme erstreckte. Und wenn eine Kultur den Punkt erreichte, der hier erreicht worden war, dann handelte es sich außer Zweifel um eine sehr weit fortgeschrittene Rasse. In der galaktischen Föderation hatten nur die Kulturen von Illensa, Traltha und Terra dieses Stadium erreicht, und ihre Einflußsphären waren ungeheuer. Wie konnte eine Kultur dieser Größe so lange verborgen geblieben sein?

Conway runzelte die Stirn. Er besaß auch die Antwort auf diese Frage.

Summerfield hatte gesagt, das Wrack sei die am schwersten beschädigte Hälfte eines Schiffes, dessen andere Hälfte vermutlich aus eigener Kraft zum nächsten Reparaturstützpunkt weitergeflogen war. Die Hälfte mit dem Überlebenden mußte also bei dem ursprünglichen Unfall von dem Schiff abgerissen worden sein, und das bedeutete, daß die Kurskonstanten dieses antriebslosen Fragments dieselben waren wie sie das Schiff als Ganzes vor der Katastrophe gehabt hatte.

Das Schiff kam also von einem Planeten, der als unbewohnt in den Sternkatalogen stand. Aber im Laufe von hundert Jahren konnte jemand dort einen Stützpunkt, ja sogar eine Kolonie errichtet haben. Und das Ambulanzschiff hatte sich von dieser Welt entfernt und war in den intergalaktischen Raum vorgestoßen!

Eine Kultur, die den Abgrund zwischen den Milchstraßen überwunden hatte, um eine Kolonie am Rand dieser Galaxis zu errichten, dachte Conway grimmig, mußte mit großem Respekt behandelt werden. Und mit Vorsicht. Besonders da man von ihrem einzigen bis jetzt bekannten Vertreter bei aller Toleranz nicht sagen konnte, daß es sich um ein ausgesprochen „nettes“ Wesen handelte. Und die Rasse dieses Fremden, die in medizinischer Hinsicht vermutlich sehr weit fortgeschritten war, würde vielleicht die Nachricht, daß jemand einen ihrer Kranken schlecht behandelte, nicht gerade freundlich hinnehmen. Im Augenblick hatte es überhaupt nicht den Anschein, als würden sie irgend etwas freundlich hinnehmen, dachte Conway.

Interstellare Eroberungskriege waren vom logistischen Standpunkt aus unmöglich, das wußte Conway. Aber das galt nicht für Vernichtungskriege, wo planetarische Atmosphären zur Explosion gebracht oder sonst unbrauchbar gemacht wurden, ohne daß jemand überhaupt daran dachte, den betreffenden Planeten einmal zu besetzen. Conway vergegenwärtigte sich seinen Patienten und überlegte, ob sie nicht zu guter Letzt einmal auf eine völlig bösartige und feindlich gesinnte Rasse gestoßen waren.

Plötzlich summte der Interkom. Es war Kursedd. Er meldete, der Patient habe sich die letzte Stunde ruhig verhalten, sein Ausschlag scheine sich aber schnell auszubreiten und drohe jetzt die Atemöffnungen zu bedecken. Conway versprach sofort zu kommen. Dann ließ er Dr. Prilicla rufen und setzte sich wieder auf sein Bett.

Sollte er es wagen jemand von seiner Entdeckung zu berichten, überlegte Conway. Aber das würde zweifellos dazu führen, daß eine Monitorstreife vorschnell versuchte, Kontakte herzustellen — vorschnell in bezug auf Conway. Er hatte nämlich Angst, daß das erste Zusammentreffen zwischen den beiden Kulturen zu einer ideologischen Kollision führen würde, und die einzige Möglichkeit, diese Kollision zu vermeiden bestand darin, daß die Föderation zeigte, daß sie einen der intergalaktischen Kolonisten gerettet, ärztlich betreut und kuriert hatte.

Natürlich bestand die Möglichkeit, daß der Patient für seine Rasse nicht typisch war, daß er, wie O’Mara gemeint hatte, geisteskrank war. Aber Conway bezweifelte, ob die Fremden das als eine Entschuldigung dafür anerkennen würden, daß sie ihn nicht kuriert hatten. Einen Augenblick beschäftigte Conway der Gedanke, ob es so etwas wie einen contra-terrenen Geist gab, einen Geist, in dem jede Hilfe ein Haßgefühl anstatt eines Gefühls der Dankbarkeit erzeugte.


Ehe er die nächste Untersuchung begann, befragte er Prilicla über den emotionellen Zustand des Patienten, erfuhr jedoch nichts Neues. Das Wesen lag jetzt reglos und praktisch ohne Bewußtsein da. Als Conway über den Translator auf den Fremden einredete, strahlte es Furcht aus.

„Ich tue Ihnen nichts zuleide“, sagte Conway langsam und deutlich. Er trat näher an den Patienten heran. „Aber ich muß Sie berühren. Bitte glauben Sie mir, ich meine es gut.“ Er sah Prilicla fragend an.

Der GNLO sagte: „Furcht und… und Hilflosigkeit. Und ein stoisches Hinnehmen seiner Lage, verbunden mit Drohungen… nein, Warnungen. Offenbar glaubt er Ihnen, versucht aber, Sie vor etwas zu warnen.“

Das klang vielversprechender, dachte Conway. Der Fremde warnte ihn, aber es machte ihm nichts aus, wenn er, Conway, ihn berührte. Er trat näher und berührte das Wesen vorsichtig mit der behandschuhten Hand an einer der noch nicht von dem Ausschlag befallenen Hautstellen.

Er zuckte zusammen, so heftig war der Schlag, der seinen Arm wegfegte. Er fuhr hastig zurück, rieb sich den Arm und schaltete den Translator ab, um seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen.

Nach einer respektvollen Pause meinte der GNLO:

„Wir haben jetzt eine sehr wichtige Beobachtung gemacht, Dr. Conway. Die Gefühle des Patienten gegenüber Ihnen sind trotz der physischen Reaktion genau die gleichen wie sie vor der Berührung waren.“

„Na und?“ fragte Conway gereizt.

„Also muß es sich um eine unwillkürliche Reaktion handeln.“

Conway überdachte das eine Weile und meinte dann:

„Das bedeutet, daß wir kein allgemeines Anästhetikum verwenden können, selbst wenn wir eines hätten, denn das Herz und die Lunge haben auch Reflexmuskeln. Das kompliziert die Dinge wieder. Wir können ihn also nicht in Narkose versetzen, und freiwillig läßt er sich auch nicht behandeln.“ Er trat an das Schaltbrett und drückte einen Knopf. Die Klammern, die das Netz hielten, öffneten sich, und das Netz selbst wurde von einer Greifzange weggezogen. Dann fuhr Conway fort: „Er verletzt sich immer wieder an diesem Netz. Sie sehen — hier hat er sich beinahe wieder einen Tentakel abgerissen.“

Prilicla protestierte gegen die Entfernung des Netzes und meinte, wenn der Patient sich frei bewegen könne, sei die Wahrscheinlichkeit noch größer, daß er sich selbst verletze. Aber Conway erklärte, in seiner augenblicklichen Lage — also mit dem Schwanz im Munde und den Bauch nach außen gekehrt — könne sich der Patient nur sehr wenig bewegen. Wenn Conway darüber nachdachte, muß er zugeben, daß diese Lage die ideale Verteidigungsstellung für dieses Wesen war. Es erinnerte ihn daran, wie auf der Erde Katzen beim Kampf auf der Seite zu liegen pflegen, um alle vier Pfoten einsetzen zu können. Und das hier war eine zehnbeinige Katze, die sich nach allen Richtungen gleichzeitig verteidigen konnte.

Aber warum sollte das Wesen eigentlich diese Verteidigungsstellung einnehmen, wo es doch gerade in seinem jetzigen Zustand so dringend Hilfe brauchte?

Und dann fiel es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen. Jetzt wußte er die Antwort. Oder, verbesserte er sich vorsichtig, wenigstens neunzig Prozent der Antwort.


Ihre Vermutungen über diesen Fall waren von Anfang an alle falsch gewesen. Seine neue Theorie beruhte auf der Tatsache, daß sie von einer weiteren falschen Voraussetzung ausgegangen waren, und zwar einer Voraussetzung grundsätzlicher Art. Unter diesen Umständen ließen sich die Feindseligkeit des Patienten, seine eigenartige Körperhaltung und sein geistiger Zustand erklären.

Gleichzeitig ließ sich daraus ein Schluß auf die einzig mögliche Therapie ziehen. Und was das Wichtigste von allem war — Conway durfte jetzt annehmen, daß der Patient vielleicht gar nicht zu einer so feindseligen und bösartigen Rasse gehörte, wie er, Conway, vermutet hatte.

Die einzige Schwierigkeit an der neuen Theorie war, daß sie auch falsch sein konnte.

Conway schaltete den Translator ein. Er wußte schon, ehe er zu sprechen begann, wie die Reaktion des Patienten sein würde, und so war es wahrscheinlich ein Akt willkürlicher Grausamkeit, die Worte überhaupt auszusprechen, aber er mußte seine Theorie noch einer Prüfung unterziehen, um sich selbst klar zu werden. Er sagte:

„Keine Sorge, Junge, du bist bald wieder so wie du warst…“

Die Reaktion war so heftig, daß Dr. Prilicla, dessen empathische Fähigkeiten ihn alles das mitempfinden ließen, was der Patient empfand, die Station verlassen mußte.

Und erst jetzt traf Conway seine endgültige Entscheidung.

Während der drei darauffolgenden Tage besuchte Conway die Station regelmäßig. Er machte sich sorgfältig Notizen über das Wachstum der dicken, faserigen Kruste, die jetzt zwei Drittel des Körpers des Patienten bedeckte. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, daß der Wachstumsprozeß sich beschleunigte und die Kruste dicker wurde. Conway schickte Proben in die pathologische Abteilung, die antwortete, daß der Patient anscheinend an einer eigenartigen und besonders bösartigen Form von Hautkrebs litte und gleichzeitig die Frage stellte, ob eine Strahlentherapie oder chirurgische Entfernung möglich sei. Conway erwiderte, beides sei seiner Meinung nach ohne ernste Gefährdung des Patienten nicht möglich.


Seit der ersten Untersuchung war Conway Dr. Mannon bewußt aus dem Wege gegangen. Er wollte sich nicht mit seinem alten Freund über den Fall unterhalten, weil Mannon zu klug war, um sich mit irgendwelchen leeren Phrasen abspeisen zu lassen, und die Wahrheit konnte Conway ihm nicht sagen.

Als er am fünften Tag der Station seine zweite Morgenvisite abstattete, erwartete ihn Dr. Mannon dort. Er erbat ordnungsgemäß Conways Genehmigung, sich den Patienten ansehen zu dürfen. Aber als diese Formalität erfüllt war, fügte er hinzu: „Jetzt hören Sie mal zu, Sie junger Bursche. Ich hab’s jetzt langsam satt, daß Sie in die Luft starren oder auf Ihre Stiefelspitzen, wenn ich in Ihre Nähe komme — wenn ich nicht die Haut eines Tralthaners hätte, wäre ich beleidigt. Ich weiß natürlich, daß neu ernannte Seniorärzte ihre Pflichten die ersten paar Wochen sehr ernst nehmen, aber wie Sie sich in den letzten Tagen benommen haben, war ja geradezu rüpelhaft.“

Er hob die Hand, ehe Conway etwas sagen konnte, und fuhr fort: „Ja, ist schon gut — jetzt wollen wir zur Sache kommen. Ich habe mit Prilicla und den Leuten in der Pathologischen gesprochen. Sie sagen mir, die Wucherung bedeckt jetzt den ganzen Körper und sei für Röntgenstrahlen von erträglicher Intensität völlig undurchsichtig. Somit kann man über die Lage und das Wirken der inneren Organe des Patienten nur Vermutungen anstellen. Und unter Narkose kann man das Zeug nicht wegschneiden, weil eine Lähmung der Gliedmaßen leicht auch zu einem Schaden am Herz führen könnte. Andererseits ist eine Operation unmöglich, solange diese Glieder herumschlagen. Gleichzeitig wird der Patient immer schwächer, und dieser Zustand verschlimmert sich, solange wir ihm keine Nahrung geben können, und das wiederum geht erst dann, wenn man seinen Mund befreien kann. Und um die Angelegenheit noch weiter zu komplizieren, zeigen Ihre letzten Proben, daß der Ausschlag sich schnell nach innen fortsetzt, und alle Anzeichen deuten darauf hin, daß Mund und Schwanz permanent zusammenwachsen, wenn die Operation nicht schnell vorgenommen wird. Habe ich die Lage richtig dargestellt?“

Conway nickte.

Mannon atmete tief und fuhr dann fort:

„Wie wäre es, wenn Sie die Glieder amputieren und den Ausschlag vom Kopf und vom Schwanz entfernen würden und die Oberhaut durch eine geeignete synthetische Substanz ersetzen? Wenn der Patient einmal wieder Nahrung aufnehmen kann, kommt er wahrscheinlich schnell genug zu Kräften, daß man diese Prozedur auch an seinem übrigen Körper durchführen kann. Ich gebe zu, daß das ein recht drastischer Vorschlag ist. Aber unter den vorliegenden Umständen scheint mir das der einzige Weg zu sein, das Leben des Patienten zu retten. Und es besteht immer die Möglichkeit, dem Wesen künstliche Glieder zu geben.“

„Nein!“ sagte Conway heftig. Wenn seine Theorie über den Patienten stimmte, dann würde eine Operation in diesem Stadium katastrophale Folgen haben. Und wenn nicht, wenn also der Patient ein Wesen von der Art war, wie er zu sein schien — bösartig, feindselig und gefährlich — und wenn seine Freunde kamen, um nach ihm zu sehen…

Conway sagte mit leiser Stimme: „Stellen Sie sich vor, ein Freund von Ihnen mit einem bösartigen Hautausschlag fiele einem ET-Arzt in die Hände, und dem fiele nichts Besseres ein, als ihm bei lebendigem Leib die Haut abzuziehen und ihm die Arme und Beine abzuhacken! Sie würden bestimmt wütend sein, wenn Sie ihn fänden. Selbst wenn man dabei berücksichtigt, daß Sie ein zivilisierter Mensch sind, tolerant und bereit, Kompromisse zu schließen — alles Eigenschaften, die wir unserem Patienten nicht a priori zuschreiben können — glaube ich doch, daß Sie ziemlich wütend wären.“

„Diese Analogie stimmt nicht, und das wissen Sie auch genau!“ sagte Mannon hitzig. „Manchmal muß man etwas riskieren. Und hier haben wir solch einen Fall.“

„Nein“, sagte Conway noch einmal.

„Dann haben Sie vielleicht einen besseren Vorschlag?“

Conway schwieg einen Augenblick und sagte dann langsam: „Ich habe eine Idee, die ich ausprobieren möchte, aber ich will jetzt noch nicht darüber sprechen. Wenn ich recht habe, erfahren Sie es als erster, und wenn nicht, werden Sie es auch erfahren. Jeder wird es dann erfahren.“

Mannon zuckte die Achseln und wandte sich ab. An der Tür blieb er stehen und sagte:

„Sie müssen da ja etwas ziemlich Verrücktes vorhaben, weil Sie gar so geheimnisvoll tun. Aber denken Sie daran, wenn Sie mich einweihten und die Sache schiefgeht, wären zwei Männer verantwortlich!“

So spricht ein wahrer Freund, dachte Conway. Die Versuchung, seine ganze Last auf Mannon abzuladen, war groß. Aber dann schüttelte er bedauernd den Kopf.

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