Irgendwie mußten sie es fertigbringen, den jungen SRTT in den DBLF-Ruheraum zu treiben, aber dazu mußten sie ihn zuerst aus der AUGL-Station herauslocken. Das war die Aufgabe von zwölf Angehörigen des Monitor-Korps, die schwitzend und fluchend in ihren schweren Anzügen herumschwammen, bis sie den Ausreißer an eine Stelle gedrängt hatten, wo sein einziger Fluchtweg die Schleuse war.
Conway, Prilicla und eine Anzahl weiterer Monitore warteten im Korridor, als der SRTT durchkam. Sie hatten alle Schutzkleidung angelegt, um auf ein halbes Dutzend verschiedene Umgebungen vorbereitet zu sein, durch die die Jagd sie vielleicht führen würde. Murchison hatte auch mitgehen wollen — sie wollte am Ende dabei sein, hatte sie erklärt — aber Conway hatte ihr scharf erklärt, ihre Aufgabe sei es, über die drei AUGL-Patienten zu wachen.
Der Ausreißer hatte sich erneut verwandelt — und zwar diesmal in eine Gestalt, die entfernt an die eines Erdenmenschen erinnerte. Jetzt rannte er auf gummiartigen Beinen, die an den falschen Stellen durchknickten, durch den Korridor, und die schuppige, bläuliche Haut, die er in dem AUGL-Tank besessen hatte, glättete sich zusehends und verwandelte sich in das Weiß eines Arztmantels und die rosa Farbe von menschlicher Haut.
Plötzlich schlug er einen Haken, der ihn in einen MSVK-Korridor führte. Die plötzliche Wendung überraschte die Verfolger, so daß sie in wirrem Durcheinander hinter der inneren Pforte der Verbindungsschleuse zusammenstießen. Die MSVKs waren dreibeinige, entfernt an Störche erinnernde Wesen, die eine äußerst geringe Schwerkraftanziehung benötigten, an die sich DBGDs, wie Conway, nicht sofort anpassen konnten. Aber während Conway noch halb in der Luft schwebte, reagierten die Monitore dank ihrer Weltraumausbildung bereits. Der SRTT wurde wieder in die Sauerstoffabteilung zurückgetrieben.
Der DBLF-Ruhesaal war nur noch ein paar Minuten entfernt, und der SRTT steuerte geradewegs darauf zu. Wieder veränderte sich das Wesen, diesmal in etwas Niedriges, Schweres, das sich auf allen vieren bewegte. Es schien sich gleichsam zu verdichten, und man hatte den Eindruck, als bilde sich ein Panzer. Es befand sich immer noch in diesem Zustand, als plötzlich zwei Monitore schreiend und wild mit den Armen herumfuchtelnd aus einem Seitengang schossen und in den Ruheraum rasten — und ihn leer fanden!
Conway fluchte. Der Korridor hätte von mindestens einem halben Dutzend Monitoren bewacht sein sollen. Wahrscheinlich befanden sie sich noch im Ruheraum, um ihre Geräte aufzustellen, und der SRTT würde an der Tür vorbeirennen.
Aber Conway hatte nicht mit der schnellen Reaktion Priliclas gerechnet. Sein Assistent mußte die Lage im gleichen Augenblick wie er erkannt haben. Der kleine GNLO rannte den Korridor hinunter, überholte den SRTT und schwang sich zur Decke hinauf. Conway wollte schon eine Warnung rufen und dem GNLO sagen, daß er gegen ein Wesen, das jetzt alle Merkmale einer übergroßen und äußerst behenden gepanzerten Krabbe hatte, keine Chance besäße. Aber dann sah er, was sein Assistent beabsichtigte.
Etwa dreißig Fuß vor dem fliehenden SRTT stand eine motorbetriebene Tragbahre in einer Nische. Er sah Prilicla auf die Bahre zurennen, den Starterknopf drücken und weiterlaufen. Prilicla war nicht selbstmörderisch tapfer, sondern lediglich intelligent und schnell, und das zählte unter diesen Umständen viel mehr.
Die Bahre setzte sich unkontrolliert in Bewegung und rollte in den Korridor hinaus — geradewegs auf den SRTT zu. Es gab ein metallisches Krachen und dann eine Wolke gelbschwarzen Rauchs, als die schweren Batterien zersprangen und kurzschlossen. Ehe die Ventilatoren den Qualm beseitigt hatten, war es den Monitoren gelungen, den benommenen und beinahe reglosen Ausreißer in den Ruheraum zu treiben.
Ein paar Minuten darauf trat ein Monitoroffizier auf Conway zu. Er deutete mit einer Kopfbewegung auf das wirre Durcheinander von Gerätschaften, die erst vor wenigen Minuten aufgebaut worden waren, und erst jetzt sah Conway bewußt die grün uniformierten Männer, die sich an den Wänden postiert hatten und alle zur Mitte des großen Saales blickten, wo der SRTT sich langsam umdrehte und einen Fluchtweg suchte. Wenn man den Monitoroffizier ansah, spürte man, welche Neugierde er empfand, aber er war bemüht, sich davon in seiner Stimme nichts anmerken zu lassen.
„Doktor Conway, nehme ich an? Nun, Doktor, was sollen wir jetzt tun?“
Conway fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Bis jetzt hatte er nicht viel darüber nachgedacht — er hatte geglaubt, es würde ihm leichtfallen, weil der junge SRTT eine solche Gefahr für das Hospital darstellte und schon soviel Unheil angerichtet hatte. Aber jetzt begann er, ihm leid zu tun.
Conway zuckte die Achseln und sagte heiser:
„Sie sehen dieses Tierchen da in der Mitte. Ich möchte, daß Sie ihm Todesangst einjagen.“
Er mußte das natürlich näher erklären, aber die Monitore verstanden sehr schnell und setzten die Geräte, die man ihnen geschickt hatte, mit großer Begeisterung ein.
Es bestand kein Zweifel, daß der SRTT Angst hatte — Prilicla berichtete laufend über seine emotionellen Empfindungen.
„Ruhe!“ schrie Conway plötzlich. „Versuchen Sie es einmal mit den leisen Sachen!“
Der Lärm vorher war nur die Einleitung gewesen. Jetzt kamen andere Dinge — doch diesmal ohne Geräusch, weil Conway hören wollte, was für Laute der SRTT von sich gab.
Rings um die zitternde Gestalt inmitten des Saales platzten Raketen, die blendendes Licht, aber nur wenig Hitze von sich gaben. Gleichzeitig traten Zug- und Druckstrahlen in Aktion, die an dem SRTT herumzerrten und ihn auf dem Boden hin- und herschoben und ihn manchmal auch in die Höhe hoben oder gegen die Decke schmetterten. Die Strahlen arbeiteten nach dem gleichen Prinzip wie die Schwerkraftgürtel, ließen sich aber viel feiner einstellen.
Jetzt hatte der SRTT wirkliche Angst, solche Angst, daß selbst Nichtempathen es fühlen konnten. Die verschiedenen Gestalten, die er annahm, würden Conway noch wochenlang Alpträume verursachen.
Conway hob ein Handmikrofon an die Lippen und legte den Schalter um. „Schon irgendwelche Reaktionen dort oben?“
„Bis jetzt noch nicht“, dröhnte O’Maras Stimme aus den Lautsprechern an den Wänden. „Ich weiß nicht, was Sie gerade tun, aber Sie müssen noch dicker auftragen.“
„Aber das Wesen befindet sich schon im Zustand äußerster Panik…“ begann Prilicla.
Conway funkelte seinen Assistenten an. „Wenn Sie’s nicht vertragen, dann verschwinden Sie!“ herrschte er ihn an.
„Ruhig Blut, Conway“, war O’Maras Stimme zu hören. „Ich weiß schon, wie Sie sich fühlen, aber vergessen Sie nicht, daß das Endergebnis das alles rechtfertigt…“
„Aber wenn es nicht funktioniert?“ protestierte Conway, und dann: „Ach, lassen Sie nur.“ Zu Prilicla sagte er: „Tut mir leid.“ Dann fragte er den Offizier neben sich: „Könnten wir noch mehr Druck ausüben?“
„Ich würde vorschlagen, daß wir ihn noch herumdrehen sollten. Manche Spezies werden völlig demoralisiert, wenn man sie dreht“, sagte der Monitor.
Und so kam noch eine Drehbewegung hinzu — nicht eine einfache Drehbewegung, sondern ein wildes, rollendes, stoßendes Drehen, so daß Conway schon allein vom Zusehen übel wurde. Und gleichzeitig flammten immer noch Leuchtraketen auf, zischten auf das Wesen zu und wurden wieder weggerissen. Die Männer hatten schon einen Großteil ihrer Begeisterung verloren, und Prilicla schwankte auf seinen sechs spindeldürren Beinen, als hätte ihn ein Sturmwind erfaßt.
Es war falsch gewesen, Prilicla mitzunehmen, sagte sich Conway; man durfte einfach einen Empathen keiner solchen brutalen Behandlung — wenn auch nur auf Umwegen — aussetzen. Er, Conway, hatte von Anfang an einen Fehler gemacht, weil die ganze Idee grausam und sadistisch und falsch war. Er war noch schlimmer als ein Ungeheuer.
Und dann begann hoch über ihm jener dunkle, sich drehende Fleck, von dem Conway wußte, daß er ein junger SRTT war, ein hohes, schrilles Geräusch von sich zu geben.
Und im gleichen Augenblick ertönte chaotischer Lärm aus den Wandlautsprechern. Schreie, Rufe, splitternde Geräusche und eilige Schritte und im Hintergrund ein schweres, grollendes Knurren. Dann kam O’Maras Stimme durch. Er schrie jemand etwas zu, und dann brüllte eine ihnen unbekannte Stimme:
„Um Himmels Willen, hört auf dort unten! Jetzt ist der Alte aufgewacht und schlägt uns den ganzen Saal in Trümmer…!“
Sie stellten die Drehbewegung ein, ließen den SRTT langsam zu Boden sinken und warteten dann gespannt, während das Schreien und der Lärm aus der Beobachtungsstation drei seinen Höhepunkt erreichte und langsam wieder abflaute. Die Männer an der Wand standen reglos da und sahen einander an oder musterten das Wesen auf dem Boden. Und dann kam es.
Das Geräusch war ähnlich den fremdartigen Lauten, die man vor ein paar Stunden über den Interkom vernommen hatte, aber jetzt fehlten die Störgeräusche, und da alle ihre Translatoren eingeschaltet hatten, kam es in englischer Sprache durch.
Es war der alte SRTT, der, jetzt physisch wieder ganz in Ordnung, besänftigend und zugleich tadelnd auf seinen Sprößling einredete. Er sagte, der Kleine sei unartig gewesen und solle nicht mehr herumrennen und alle Leute wildmachen, und es würde ihm nichts mehr passieren, wenn er den Wesen gehorchte, die mit ihm im Raum seien. Und je schneller er das täte, schloß der alte SRTT seine Ermahnung, desto eher könnten sie beide nach Hause gehen.
In geistiger Hinsicht hatte der Ausreißer furchtbare Prügel bezogen, das wußte Conway. Vielleicht sogar zuviel. Gespannt sah er zu, wie das Wesen — immer noch in einer Gestalt, die weder Fisch noch Fleisch war — über den Boden humpelte. Als es dann einen der Monitore sanft und untertänig ans Knie stieß, erhob sich ein Hallo, das an Lautstärke dem Lärm vorher kaum nachstand.
„Als Prilicla hier mir den Tip gab, was dem alten SRTT fehlte, war ich ziemlich sicher, daß nur eine drastische Kur ihm helfen würde“, sagte Conway zu den Diagnostikern und Seniorärzten, die rings um O’Maras Schreibtisch saßen.
Der Umstand, daß er in solch erhabener Gesellschaft saß, war ein sicheres Zeichen für das Lob, das man ihm zollte, aber er war trotzdem etwas nervös, als er fortfuhr. „Meine Idee war daher, das enge physische und emotionelle Band zu benutzen, das, wie ich entdeckte, zwischen dem SRTT und seinem jüngsten Sprößling existierte. Also fingen wir den Jungen im DBLF-Ruheraum und versuchten, ihm Angst einzujagen, wobei wir die Laute, die er dabei von sich gab, hierher übertrugen. Das funktionierte. Der alte SRTT konnte einfach nicht liegenbleiben und nichts tun, während sein jüngster und am meisten geliebter Sprößling sich offenbar in schrecklicher Gefahr befand. Seine elterliche Sorge und Liebe überwanden also die Psychose und zwangen ihn in die Realität zurück. Er konnte den Kleinen beruhigen, und alle Betroffenen waren glücklich und zufrieden.“
„Eine hervorragende Schlußfolgerung, die Sie da gezogen haben, Doktor“, lobte O’Mara. „Ich muß Ihnen meine Anerkennung aussprechen…“
In diesem Augenblick unterbrach ihn der Interkom. Es war Murchison. Sie berichtete, daß der Zustand der drei AUGLs seine, Conways, Anwesenheit erforderte. Conway verlangte ein AUGL-Band für Prilicla und sich selbst und erklärte, wie dringend die Angelegenheit sei. Während sie das Band aufnahmen, begannen die Diagnostiker und Seniorärzte den Raum zu verlassen. Conway dachte etwas enttäuscht, daß Murchisons Anruf seinen vielleicht größten Augenblick zerstört hatte.
„Machen Sie sich keine Gedanken, Doktor“, sagte O’Mara, der manchmal seine Gedanken zu lesen schien. „Wenn dieser Anruf fünf Minuten später gekommen wäre, wäre Ihr Kopf so angeschwollen gewesen, daß Sie das Band nicht mehr hätten aufnehmen können…“
Zwei Tage darauf hatte Conway seine erste und einzige Meinungsverschiedenheit mit Dr. Prilicla.
Er behauptete, daß es ohne die Unterstützung von Priliclas empathischer Fähigkeit und Murchisons Wachsamkeit unmöglich gewesen wäre, alle drei AUGLs zu kurieren. Der GNLO erklärte, er müsse zu seinem größten Bedauern seinem Vorgesetzten widersprechen, aber Dr. Conway habe nicht recht. Murchison dagegen erklärte, es sei ihr ein Vergnügen gewesen, helfen zu können und bat um Urlaub.
Conway sagte ja und setzte dann die Debatte mit Prilicla fort.
Conway wußte, daß er die drei AUGLs ohne die Hilfe des kleinen Empathen nicht hätte retten können — vielleicht nicht einmal einen. Aber er war der Chef, und wenn ein Chef und seine Assistenten etwas leisten, gebührt der Ruhm dem Chef.
Der Streit, wenn das der richtige Ausdruck für eine im Wesen freundliche Meinungsverschiedenheit war, dauerte Tage. Die Arbeit in der Säuglingsstation tat sich beinahe von selbst, und sie hatten keine ernsten Sorgen. Von dem Wrack, das mit einem Insassen im Augenblick zum Hospital unterwegs war, wußten sie nichts.
So wußte Conway auch nicht, daß er binnen zwei Wochen der bestgehaßte Mann im ganzen Hospital sein würde.