Conway wollte gerade nach Hilfe rufen, als ein kantiger Metallbrocken an ihm vorbeiflog. Er konnte sich gerade noch rechtzeitig ducken, um einem zweiten Wrackteil auszuweichen, das auf ihn zusegelte. Erst jetzt sah er die Umrisse einer nicht menschlichen Gestalt in einem Raumanzug, die halb hinter einem Gewirr von Wrackteilen etwa zehn Meter entfernt verborgen war. Das Wesen warf nach ihm!
Das Bombardement hörte sofort auf, als der andere erkannte, daß Conway es bemerkt hatte. In der Meinung, den unbekannten Überlebenden gefunden zu haben, dessen Herumtaumeln das ganze künstliche Schwerkraftsystem des Hospitals aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, rannte Conway auf den Fremden zu. Aber er sah sofort, daß das Wesen nicht imstande war, sich überhaupt zu bewegen, denn zwei schwere Stahlträger hielten es gegen den Boden gepreßt, auf wunderbare Weise freilich, ohne es verletzt zu haben. Soeben versuchte das Wesen vergebens, die Rückseite seines Anzugs mit dem einzigen freien Arm, Tentakel oder was auch immer es sein mochte, zu erreichen.
Conway stutzte einen Augenblick, sah dann aber das Radiogerät, das dem Wesen auf den Rücken geschnallt war und von dem lose ein Anschlußkabel herunterbaumelte. Er reparierte mit Heftpflaster den Schaden, und schon hörte er die ausdruckslose — übersetzte — Stimme in seinen Kopfhörern.
Es war der PVSJ, der sich schon vor ihnen aufgemacht hatte, um die Absturzstelle nach Überlebenden abzusuchen. Dieselbe Falle, die den unglücklichen Monitor in die Tiefe gerissen hatte, hatte auch ihn gefangen, aber er hatte seinen Schwerkraftneutralisator einschalten und damit den plötzlichen Sturz abbremsen können. Der Aufprall war verhältnismäßig sanft gewesen, hatte aber einige lose herumliegende Wrackteile gelockert, so daß diese abgestürzt waren und sein Radio beschädigt hatten.
Der PVSJ — ein chloratmender Illensaner — steckte in den Wrackteilen fest. Conways Versuche, ihn zu befreien, waren zwecklos. Bei diesem Versuch aber erblickte er das Berufsabzeichen, das auf den Anzug des anderen gemalt war. Die tralthanischen und illensanischen Symbole besagten Conway überhaupt nichts, aber das dritte Zeichen — eine Umschreibung der Funktion des Wesens nach erdmenschlichen Begriffen — war ein Kruzifix. Das Wesen war ein Priester.
Jetzt hatte Conway es mit zwei Bewegungsunfähigen zu tun! Er drückte auf den Sprechschalter seines Radios und räusperte sich. Ehe er ein Wort sagen konnte, schnarrte die Stimme Dr. Mannons in seinen Kopfhörern.
„Dr. Conway! Monitor Williamson! Bitte schnell melden, bitte!“
„Das wollte ich ja gerade“, sagte Conway und schilderte dann die bisher aufgetretenen Schwierigkeiten und erbat Hilfe für den Monitor und den PVSJ-Priester. Mannon schnitt ihm das Wort ab.
„Tut mir leid“, sagte er hastig, „aber wir können Ihnen nicht helfen. Die Schwerkraftschwankungen sind stärker geworden und müssen in Ihrem Tunnel so etwas wie einen Erdrutsch verursacht haben, denn der Tunnel über Ihnen ist jetzt völlig mit Wrackteilen angefüllt. Einige Pioniere haben versucht, einen Weg durchzubrechen, aber…“
„Lassen Sie mich sprechen“, schaltete sich eine andere Stimme ein, und dann hörte man ein kratzendes Geräusch. Offenbar riß jemand Dr. Mannon das Mikrofon weg.
„Dr. Conway, hier spricht Dr. Lister“, fuhr die Stimme dann fort. „Ich muß Ihnen leider sagen, daß der Zustand Ihrer beiden Verunglückten von sekundärer Bedeutung ist. Ihre Aufgabe ist es, dieses Wesen in der Schwerkraftsteueranlage zu finden und es daran zu hindern, weiteres Unheil anzurichten. Geben Sie ihm, wenn nötig, eins über den Schädel, aber sorgen Sie dafür, daß es mit diesem Unfug aufhört — es zerstört die ganze Station!“
Conway schluckte, dann sagte er:
„Yes, Sir“, und sah sich um, um zu überlegen, wie er tiefer in das Gewirr von Metall rings um ihn eindringen konnte. Es sah hoffnungslos aus.
Plötzlich spürte er, wie etwas ihn zur Seite zog. Er griff nach dem nächsten Eisenträger und klammerte sich daran fest, als hinge sein Leben davon ab. Das schleifende, zerrende Geräusch von sich bewegendem Metall übertrug sich durch seinen Anzug auf ihn. Die Wrackteile verlagerten sich wieder. Und dann verschwand die Kraft, die an ihm zerrte, ebenso plötzlich wie sie gekommen war, und von dem gleichen Augenblick an war ein eigenartiges bellendes Geräusch von dem PVSJ zu hören. Conway drehte sich um und sah, daß an der Stelle, wo gerade noch der Illensaner gewesen war, jetzt ein gähnendes Loch in die Tiefe führte.
Es kostete ihn Anstrengung, den Stahlträger loszulassen. Die Anziehung, die ihn erfaßt hatte, das wußte er jetzt, war darauf zurückzuführen, daß irgendwo in der Tiefe ein künstliches Schwerkraftgitter ein- und gleich wieder ausgeschaltet worden war. Wenn sich das wiederholte, während er frei schwebte… Conway zog es vor, nicht daran zu denken.
Die Verschiebung hatte Williamsons Lage nicht verändert. Er lag immer noch da, wo Conway ihn verlassen hatte — aber der PVSJ mußte in die Tiefe gefallen sein.
„Alles in Ordnung?“ rief Conway ängstlich.
„Ich denke schon“, kam die Antwort. „Ich bin nur noch etwas benommen.“
Conway schwebte vorsichtig auf die neu geschaffene Öffnung zu und sah in die Tiefe. Etwa fünfzehn Meter tiefer war nur der Boden sichtbar, während die Wände außerhalb seines Gesichtswinkels lagen. Der Boden war dick mit einem dunkelblauen röhrenartigen Gewächs bedeckt. Zuerst stutzte Conway, bis ihm klar wurde, daß er sich in dem AUGL-Tank befand, der aber ohne Wasser war. Das dicke Gewächs, das den Boden bedeckte, diente den AUGL-Patienten als Nahrung und gleichzeitig auch als Raumschmuck. Der PVSJ hatte wirklich Glück gehabt, auf eine so weiche Unterlage zu fallen.
Jetzt war der PVSJ nicht mehr von Wrackteilen festgeklemmt und erklärte, er sei durchaus imstande, Conway zu helfen. Als sie gerade ihren Abstieg fortsetzen wollten, blickte Conway zu der Lichtquelle, die ihm schon vorhin aufgefallen war, und hielt überrascht den Atem an.
Eine Wand des AUGL-Tanks war durchsichtig und gab den Blick auf einen Korridor frei, der für den Augenblick in eine Krankenstation umgewandelt worden war. Irgendwo wurde eine Station evakuiert, und Conway sah, wie durch eben diesen Korridor eine Prozession von Wesen, die wie der Inhalt einer kosmischen Arche Noah aussah, kroch, ging, hopste und rutschte. Alle sauerstoffatmenden Lebensformen waren vertreten und eine ganze Menge anderer, die überhaupt nicht atmeten. Menschliche Krankenpfleger und Monitore betreuten den Zug. Offenbar hatten die Pfleger bereits die Erfahrung gemacht, daß es geradezu einen Knochenbruch herausfordern hieß, aufrecht zu gehen, denn alle krochen auf Händen und Knien dahin. Wenn sie plötzlich ein Schwerkraftstoß von drei oder vier Gravos erfaßte, stürzten sie auf diese Weise nicht so weit. Die meisten von ihnen trugen Schwerkraftneutralisatoren, sah Conway, aber sie hatten sie offenbar abgeschaltet, da sie unter diesen Umständen, nämlich wenn aus der Schwerkraftkonstanten eine Variable wurde, nutzlos waren.
Er sah PVSJs in ballonartigen Chlorhüllen, die gegen den Boden gepreßt wurden, um gleich darauf wieder in die Höhe zu prallen. Dann gab es da DBGDs, DBLFs und CLSRs sowie nichtidentifizierbare Wesen in kugelförmigen Behältern mit Rädern, die beinahe sichtbar Kälte ausstrahlten. Und so krochen die Wesen dahin, beugten sich und richteten sich wieder auf wie Ähren im Winde.
Conway glaubte beinahe, diese Schwankungen zu fühlen, aber er wußte, daß das abstürzende Schiff die Schwerkraftstromkreise auf seinem Wege vernichtet hatte. Er wandte die Augen von der Prozession ab und kletterte weiter in die Tiefe.
„Conway!“ bellte ein paar Augenblicke darauf Mannons Stimme in seinen Kopfhörern. „Dieser Überlebende dort unten hat jetzt schon ebenso viele Verluste verursacht wie die Kollision seines Schiffes. Eine Station genesender LSVOs ist tot, weil plötzlich ein Schwerkraftstoß von ein Achtel auf vier Gravos auftrat. Was passiert jetzt?“
Der Wracktunnel wurde immer enger, berichtete Conway, da die Außenorgane und das Leitwerk des Schiffes an dieser Stelle bereits abrasiert waren. Vor ihnen verblieben jetzt nur noch massivere Dinge wie der Hypergenerator und dergleichen. Conway vermutete, daß sie sich jetzt dem Ende ziemlich weit genähert hatten und damit auch dem Wesen, das, ohne es zu wissen, die Verwüstung rings um sie verursachte.
„Gut“, sagte Mannon, „aber bitte beeilen Sie sich!“
„Aber kommen denn die Ingenieure nicht durch? Sie müssen doch…“
„Sie können nicht“, schaltete sich wieder Dr. Listers Stimme ein. „In der Umgebung der Schwerkraftsteueranlage gibt es Schwankungen bis zu zehn Gravos. Das ist unmöglich. Und aus dem Innern des Hospitals an Sie heranzukommen, scheidet ebenfalls aus. Dazu müßten wir Korridore evakuieren, und die stecken alle voll Patienten…“ Die Stimme wurde leiser, als Dr. Lister sich offenbar vom Mikrofon abwandte, und Conway hörte, wie er sagte: „Ich verstehe nur nicht, daß ein intelligentes Wesen so in Panik geraten kann, daß es… daß es… oh, wenn ich es nur in die Hände bekäme…“
„Vielleicht ist es gar nicht intelligent“, warf eine andere Stimme ein. „Vielleicht ist es ein Junges der FGLI-Säuglingsstation…“
An dieser Stelle unterbrach ein scharfes Klicken die Unterhaltung, als der Interkom abgeschaltet wurde. Conway, dem plötzlich bewußt wurde, wie wichtig er geworden war, versuchte, seine Arbeit zu beschleunigen.