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Die nächste Gelegenheit, die Hendricks bekam, um Kursedd als „Doktor“ zu betiteln, war, als sie das Wrack betraten, aber diesmal verbarg die Schutzhülle des Raumanzuges den Ausdruck des DBLF.

„Was ist hier passiert?“ fragte Conway, nachdem er sich neugierig umgesehen hatte. „Unfall, Zusammenstoß oder was?“

„Unsere Theorie ist die“, antwortete Leutnant Hendricks, „daß einer der beiden Generatorenpaare, die beim überlichtschnellen Flug das Schiff im Hyperraum festhalten, aus irgendeinem Grunde ausgefallen ist. Die eine Hälfte des Schiffes wurde also plötzlich in dem normalen Weltraum zurückgestoßen, und damit sank seine Geschwindigkeit automatisch unter die des Lichts. Folglich wurde das Schiff in zwei Teile gerissen. Der Teil mit den defekten Generatoren ist hinten geblieben“, fuhr Hendricks fort, „denn die übrigen zwei Generatoren müssen auch nach dem Unfall noch ein oder zwei Sekunden in Aktion geblieben sein. Anschließend sind zweifellos alle möglichen automatischen Sicherungen in Aktion getreten, um den Schaden zu lokalisieren, aber der Schock hatte praktisch das ganze Schiff in Stücke gerissen, also hatte das wenig Sinn. Immerhin wurde ein automatisches Notsignal ausgesendet, und wir hatten Glück, dieses Notsignal aufzunehmen. Es scheint auch, daß sich irgendwo im Innern des Schiffes noch Druck befindet, denn wir haben gehört, wie der Überlebende sich bewegte. Aber worüber ich nicht hinwegkomme“, schloß er, „ist der Zustand der anderen Wrackhälfte. Sie kann unmöglich ein Notsignal ausgeschickt haben, sonst hätten wir es auch gehört. Vielleicht ist aber auch in dieser Hälfte noch jemand am Leben geblieben.“

„Dann würden die Überlebenden mir leid tun“, sagte Conway. Und dann mit festerer Stimme: „Aber wir werden diesen hier retten. Wie stelle ich es an, daß ich näher zu ihm herankomme?“

Hendricks untersuchte die Schwerkraftanlage ihres Anzuges sowie die Lufttanks und sagte dann:

„Vorläufig wird das nicht gehen. Folgen Sie mir, dann zeige ich Ihnen den Grund.“

Als sie weiter in das Wrack eindrangen, wunderte Conway sich zunächst über diese Aussage. Ihm kam das Innere des Schiffes verhältnismäßig frei vor. Erst als er seine Umgebung eingehender musterte, erkannte er den vollen Umfang des Schadens. Es gab keinen Träger, keine Platte an der Wand, nichts, was nicht gelockert oder geplatzt war. Und auf der anderen Seite des Abteils, das sie gerade betreten hatten, sah man eine schwere Tür, die aufgeschweißt worden war und rings herum Spuren von der Klebemasse, die man für Notschleusen braucht.

„Ja, das ist unser Problem“, sagte Hendricks, als Conway ihn fragend ansah. „Bei dem Unfall wäre beinahe das ganze Schiff auseinandergeflogen. Wenn wir uns nicht im schwerefreien Zustand befänden, würde es wahrscheinlich um uns herum auseinanderfallen.“

Er unterbrach sich, um Kursedd behilflich zu sein, der Schwierigkeiten hatte, durch die Tür zu kommen, und fuhr dann fort: „Alle Luftschottentüren müssen automatisch geschlossen werden, aber bei diesem Zustand des Schiffes bedeutet die Tatsache, daß eine Schottentür dicht ist, nicht notwendigerweise, daß auf der anderen Seite auch Druck herrscht.

Wir mußten also vor jedem Schott eine Schleuse aufbauen, und das kostet natürlich Zeit. Andererseits konnten wir nicht das Leben des Fremden aufs Spiel setzen.“

„Dann hätte man eben mehr Rettungstrupps einsetzen müssen“, sagte Conway. „Wenn auf Ihrem Schiff nicht genug sind, können wir sie ja aus dem Hospital holen. Dann würde alles schneller gehen…“

„Nein, Doktor!“ unterbrach ihn Hendricks erregt. „Warum glauben Sie wohl, warten wir fünfhundert Meilen von der Station entfernt? In diesem Schiff lagert noch ein ziemlicher Energievorrat, und solange wir nicht wissen, um was für Energie es sich handelt und wo sie aufgespeichert ist, müssen wir vorsichtig sein. Wir wollen den Fremden natürlich retten, aber wir wollen nicht alle miteinander in die Luft fliegen. Hat man Ihnen das im Hospital nicht gesagt?“

Conway schüttelte den Kopf. „Vielleicht wollten sie nicht, daß ich mir Sorgen mache.“

Hendricks lachte. „Das will ich auch nicht. Die Chancen für eine Explosion sind verschwindend gering, wenn wir mit der gebotenen Sorgfalt verfahren. Wenn dagegen Dutzende von Männern hier herumschwirren würden und ihre Nase in alle möglichen Dinge stecken, die sie nichts angehen, könnte es leicht dazu kommen.“

„Und wann glauben Sie, daß Sie den Fremden erreichen?“ fragte Conway.

Das sei eine einfache Frage und doch erfordere sie eine lange, komplizierte Antwort, erklärte Hendricks. Der Fremde hätte seine Anwesenheit durch Geräusche verraten — oder genauer gesagt, durch die Schwingungen, die seine Bewegungen im Schiff verursachten. Aber der Zustand des Wracks, verbunden mit dem Umstand, daß die Bewegungen des Überlebenden von unregelmäßiger Dauer waren und immer schwächer wurden, erlaubten es nicht, seinen augenblicklichen Aufenthaltsort mit Sicherheit zu ermitteln. Im Moment arbeitete sich der Rettungstrupp auf den Mittelpunkt des Schiffes zu, wobei man von der Annahme ausging, daß dort die größte Wahrscheinlichkeit für das Vorhandensein eines unbeschädigten, luftdichten Raumes bestand.

Die beste Schätzung lag zwischen drei und sieben Stunden.

Und nachdem sie den Fremden gefunden hatten, dachte Conway, würde er dessen Atmosphäre analysieren und reproduzieren müssen, die Schwerkraft und Druckerfordernisse des Fremden ermitteln, seine Überführung in das Hospital vorbereiten und die schlimmsten Verletzungen schon vor Beginn der eigentlichen Therapie behandeln.

„Viel zu lang“, sagte Conway enttäuscht. Man konnte ja schließlich nicht damit rechnen, daß der Fremde in seinem augenblicklich geschwächten Zustand unbeschränkt überlebte.

„Wir werden einen Raum für ihn vorbereiten müssen, ohne ihn gesehen zu haben — etwas anderes kommt nicht in Frage. Wir tun also folgendes…“

Conway gab schnell seine Anweisung, einen Teil der Bodenplatten herauszureißen, um die Schwerkraftgitter darunter freizulegen. Alle raumfahrenden Rassen der Galaxis kannten nur eine Methode, die Schwerkraft zu neutralisieren; wenn die Spezies des Fremden das auf anderem Wege tun sollte, konnte man ihn von vornherein aufgeben.

„… Die physischen Eigenschaften jeden Lebewesens“, fuhr Conway fort, „lassen sich aus seiner Nahrung, der Größe und dem Energieverbrauch der Schwerkraftgitter und Luftproben, die sich in irgendwelchen Rohren finden, ermitteln. Wenn wir darüber genügend in Erfahrung bringen können, erlaubt uns das, seine Umweltbedingungen zu reproduzieren.“

„Einige von diesen Gegenständen, die hier herumschweben, müssen Nahrungsbehälter sein“, warf Kursedd plötzlich ein.

„Gute Idee“, meinte Conway und nickte. „Aber zuerst müssen wir die Luft analysieren. Dann haben wir wenigstens eine Ahnung von dem Metabolismus des Fremden, und erst dann kann man wirklich mit einiger Wahrscheinlichkeit sagen, in welcher Dose Farben und in welcher Sirup ist…!“

Wenige Sekunden darauf begann die Suchaktion nach der Luftversorgungsanlage des Wracks. Raumschiffe hatten gewöhnlich eine große Zahl von Röhren aller Art in jeder Kabine, aber die Zahl der Röhren, die selbst die kleinsten Räume des Schiffes durchzogen, überraschte Conway durch ihre Kompliziertheit.

Zwei Stunden verstrichen, in denen sie jedes einzelne Rohr bis zur nächsten Bruchstelle verfolgten, um immer wieder feststellen zu müssen, daß es sich nicht um einen Teil der Luftversorgungsanlage handelte. Schließlich blieb nur noch ein einziges dickes Rohr übrig, bei dem es sich offenbar um den Auslaß handeln mußte, und ein dickes Bündel dünner Metallröhren, die vermutlich dazu dienten, Luft hineinzupumpen.

Offenbar gab es sieben Röhren dieser Art.

„Ein Wesen, das sieben verschiedene chemische…“ begann Hendricks, um dann verblüfft zu verstummen.

„Nur ein Rohr führt den Hauptbestandteil“, sagte Conway. „Die anderen müssen die erforderlichen Spurenelemente tragen wie Argon, Krypton und dergleichen in unserer Atmosphäre. Wenn diese Reglerventile, die Sie an jedem Rohr sehen, sich nicht geschlossen hätten, als die Kabine ihren Druck verlor, könnten wir an der Einstellung die verschiedenen Proportionen ablesen.“

Er war bemüht, seiner Stimme einen zuversichtlichen Klang zu geben — eine Zuversicht, die er nicht empfand.

Jetzt trat Kursedd vor. Der DBLF holte einen kleinen Schneidbrenner aus der Tasche, regulierte die Flamme, bis sie nadelspitz und sechs Zoll lang war, und berührte eine der sieben Röhren damit. Conway trat näher und hielt eine offene Probeflasche bereit.

Plötzlich schoß gelber Dampf hervor, und Conway drückte den Stopfen auf die Flasche.

„Dem Aussehen nach tippe ich auf Chlor“, sagte der DBLF, während er sich der nächsten Röhre annahm. „Und wenn Chlor der Hauptbestandteil dieser Atmosphäre sein sollte, könnte man den Fremden in eine PVSJ-Station bringen.“

„Ich fürchte nur“, meinte Conway, „daß es nicht ganz so einfach sein wird.“

Er hatte kaum zu Ende gesprochen, als ein weißer Dampfstrahl den Raum mit Nebel erfüllte. Conway sprang instinktiv zurück und zog damit die Flamme von der angebohrten Röhre weg. Sofort trat an die Stelle des Dampfes eine klare Flüssigkeit, die in dicken Blasen herausquoll. Wie Wasser, dachte Conway, während er eine zweite Probe nahm.

Das dritte Rohr ergab Sauerstoff.

„Eine recht ungewöhnliche Mischung — Sauerstoff und Chlor“, meinte Hendricks.

„Allerdings“, sagte Conway. „Ein Wesen, das Chlor atmet, empfindet Sauerstoff als Gift — und das gilt umgekehrt genauso. Aber eines der beiden Gase könnte ja zu einem sehr geringen Prozentsatz vertreten sein — sozusagen als Spurenelement. Aber ebenso könnten auch beide Gase Spurenelemente sein, und wir haben den Hauptbestandteil überhaupt noch nicht gefunden.“

Die vier übrigen Röhren wurden angebohrt, und Conway entnahm ihnen Proben. Kursedd dachte sichtlich über Conways Feststellung nach. Ehe sie sich zum Raumtaxi begaben, blieb der DBLF stehen.

„Wenn diese Gase nur Spurenelemente sind“, sagte er mit seiner ausdruckslosen, übersetzten Stimme, „warum sind sie dann nicht von vornherein schon gemischt und werden zusammen hineingepumpt, wie das bei allen anderen Rassen der Fall ist? Sie werden ja auch nur durch ein Rohr abgeführt.“

Conway räusperte sich. Dieselbe Frage hatte auch ihn beschäftigt, und er wußte keine Antwort darauf.

„Jetzt wollen wir zuerst einmal diese Proben untersuchen“, knurrte er. „Dann werden wir schon weitersehen. Und keine Sorge“, fügte er trocken hinzu. „Am Ende wird alles klar sein.“

„Hoffentlich noch während der Behandlung“, gab Kursedd zurück, „nicht erst bei der Leichenschau.“

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