KAPITEL 38

Sie benötigten nur einen Bruchteil der Zeit, um zur Komturei zurückzukehren. Salim und der fremde Krieger sprangen aus den Sätteln, kaum daß sie den Hof erreicht hatten, aber Robin zügelte Wirbelwind lediglich und deutete auf den Turm, in dem ihr Zimmer lag.

»Ich will mich nur ein wenig frisch machen«, sagte sie. »So will ich Bruder Horace nicht unter die Augen treten.«

Sie ritt weiter, bevor der Templer noch Gelegenheit fand, zu widersprechen, sah aber aus den Augenwinkeln, wie Salim erbleichte, und fast im selben Augenblick wurde ihr klar, daß ihre Worte möglicherweise ein schwerer Fehler gewesen waren. Immerhin spielte sie die Rolle eines Tempelritters, und die Zellen der frommen Brüder lagen im Haupthaus, direkt neben Bruder Abbés Officium. Aber nun war es zu spät, diesen Fehler rückgängig zu machen.

Sie sprengte über den Hof, sprang vom Pferd und rannte in ihre Kammer hinauf, wobei sie immer zwei oder drei Treppenstufen auf einmal nahm. Hastig riß sie sich die Kutte vom Leib, schlüpfte in Unterhemd und Kettenhemd und legte auch noch Wappenrock und Mantel an. Beides war voller Schmutz und eingetrocknetem Blut, aber sie fühlte sich trotzdem jetzt wohler. Es war genau das, als was Abbé es am Morgen bezeichnet hatte: Ein alberner Mummenschanz. Aber es mußte reichen, um Horace zu täuschen.

Falls er die Wahrheit nicht längst wußte. Vielleicht war das ja der Grund, weshalb er auf ihrer Rückkehr bestanden hatte...

Sie würde es erfahren.

Robin legte den Waffengurt an und ließ als einziges den Schild dort, wo er war. Arn liebsten hätte sie auch noch den Helm aufgesetzt, aber das wäre des Guten wohl doch etwas zuviel gewesen, und so klemmte sie ihn sich nur unter den linken Arm und machte sich auf den Rückweg.

Drei oder vier Bedienstete kamen ihr entgegen, als sie den Hof überquerte. Die meisten senkten den Blick und gingen einfach weiter, aber einer blieb überrascht stehen und starrte sie aus aufgerissenen Augen an. Robin ging schneller weiter, bevor er noch etwas sagen konnte. Aber der kleine Zwischenfall machte ihr klar, was für ein Irrsinn dieser Mummenschanz war. Es konnte einfach nicht funktionieren. Es war vollkommen unmöglich, daß sie damit durchkam. Horace und die anderen mußten schon blind sein, um auf diese alberne Verkleidung hereinzufallen.

Sie erreichte das Haupthaus und stürmte die Treppe hinauf, so schnell es ihr schweres Kettenhemd zuließ. Die Tür zum Officium stand offen, und sie hörte schon von weitem die Stimmen der Templer, die erregt durcheinandersprachen. Robin atmete tief ein, sammelte all ihren Mut und dachte an etwas, was Salim ihr einmal gesagt hatte, nämlich daß Angriff oft die beste Verteidigung sei.

Ohne weitere Umstände platzte sie in die Versammlung hinein und wandte sich an Abbé, der am Ende der langen Tafel saß. »Bruder Abbé!« rief sie mit erhobener Stimme. »Das ist ungeheuerlich! Seht Euch meine Kleider an! Ich hatte befohlen, sie zu säubern, aber diese faulen Knechte haben sie nicht einmal angerührt!«

Alle Gespräche im Raum verstummten. Abbé starrte sie aus hervorquellenden Augen an und wurde kreidebleich, und Xavier und Heinrich, die zu seinen Seiten saßen, sahen aus, als träfe sie gleich der Schlag. Heinrich japste hörbar nach Luft.

»Robin?« murmelte Abbé schließlich. »Was... was tust du hier? Du solltest doch mit...«

»Das ist meine Schuld, Bruder.« Horace stand auf und wandte sich mit einer verzeihungheischenden Geste an Abbé und die beiden anderen. »Ich habe seine Rückkehr befohlen. Bitte verzeiht, daß ich Euch nicht informiert habe.«

Abbé wurde immer nervöser. Seine kurzen, fleischigen Finger begannen mit der Tischplatte zu spielen, und sein Blick wanderte flackernd zwischen Robin und Horace hin und her. Er sah aus, als litte er Höllenqualen.

»Ich ... ich habe Robin nach Elmstatt geschickt, um...« begann er, wurde aber augenblicklich von Horace unterbrochen.

»Mir ist klar, warum Ihr Bruder Robin in solcher Hast weggeschickt habt«, sagte er. »Immerhin gibt es ein Geheimnis zu bewahren, nicht wahr?« Er lächelte, aber es wirkte so falsch, wie es nur ging. Abbé wurde noch blasser, und auch Robin hatte plötzlich einen bitteren Kloß im Hals. Horace wußte es. Er wußte alles. Es war närrisch gewesen, sich nur eine Sekunde lang einzubilden, daß sie mit dieser Täuschung durchkommen könnten. Gestern nacht, in der Hitze des Gefechts, vielleicht, und auch danach, in der Dunkelheit. Aber jetzt, im hellen Tageslicht? Lächerlich!

»Er ist nicht eingeweiht, habe ich recht?« fragte Horace. »Ihr habt es bisher versäumt - oder auch gar nicht gewollt. Ihr wißt, daß das gegen den Schwur verstößt, den wir gemeinsam geleistet haben. Doch es ist dumm, zu glauben, daß er Jahre unter euch zubringen könnte, ohne daß er das eine oder andere mitbekäme. Und es ist noch dümmer, zu glauben, daß Ihr ihn jetzt einfach so wegschicken könntet, nur damit ich es nicht merke.«

Robin verstand kein Wort mehr, aber sie hatte auch noch niemals einen Menschen erblickt, dem seine Erleichterung so deutlich anzusehen war wie Abbé in diesem Moment.

»Herr«, murmelte er, »ich versichere Euch, daß wir...«

Horace unterbrach ihn erneut.

»Das spielt jetzt keine Rolle«, sagte er. »Die Zeit drängt, Abbé. Wir sind nicht nur hergekommen, um auf dem Weg Station zu machen, und ich habe Bruder Robin nicht nur zurückbeordert, weil er uns allen das Leben gerettet hat und ich ihm meine Dankbarkeit ausdrücken wollte.« Er machte eine entsprechende Geste. »Setzt Euch, Robin. Von nun an gehört Ihr zu uns.«

Robin gehorchte. Ihr Herz hämmerte, und sie sah hilflos zu Abbé hin, aber dessen Gesicht hatte schon wieder einen Ausdruck angenommen, als hätte er gerade ein Gespenst gesehen. Die Heinrichs und Xaviers übrigens auch.

»Ihr habt den Eid auf das Kreuz geleistet, und Euer Leben und Euer Wohlergehen in die Hände des Ordens gelegt«, fuhr Horace fort, nachdem sie Platz genommen hatte. »Nun aber muß ich einen weiteren Eid von Euch verlangen.«

»Herr!« sagte Abbé beinahe beschwörend. »Robin wußte nichts von...«

»Er wird es erfahren«, unterbrach ihn Horace, diesmal scharf, und in einem Ton, der deutlich machte, daß er einen weiteren Einwand nicht mehr ungestraft hinnehmen würde. »Ihr werdet ihn in alles einweihen, sobald wir aufgebrochen sind. Die Zeit bis zu unserer Ankunft in Akko ist mehr als ausreichend.«

»Aufgebrochen?« fragte Robin. Was hatte er gesagt? Akko?

»Ich muß dir deinen heiligsten Eid abverlangen, daß du nichts von dem, was du in diesem Kreise hören oder später erfahren und erleben wirst, jemals über deine Lippen kommt.«

»Das gelobe ich«, sagte Robin feierlich. Sowohl die Reaktion auf Horaces als auch auf Abbés Gesicht machte ihr deutlich, daß dies nicht unbedingt die Worte waren, die sie erwartet hatten, aber zumindest Horace gab sich für den Moment damit zufrieden.

»Herr, bitte«, murmelte Abbé. »Ich weiß, es steht mir nicht zu, Eure Entschlüsse zu kritisieren, aber... ich halte es nicht für gut. Es steht zuviel auf dem Spiel, um...«

»Ihr sagt es, Abbé«, unterbrach ihn Horace. »Und sogar mehr, als Ihr in diesem Moment wißt. Nun, da auch Bruder Robin einer der unseren ist, kann ich offen reden. Ich bin hierhergekommen, um Euch davon in Kenntnis zu setzen, daß unser sofortiger Aufbruch notwendig geworden ist. Schlechte Nachrichten haben mich erreicht.«

»Schlechte Nachrichten?« Abbés Blick wanderte unsicher zwischen Horace und Robin hin und her. Er sah nicht so aus, als könne er sich im Moment eine noch schlechtere Nachricht vorstellen.

»König Amalrich ist gestorben«, sagte Horace. »Jerusalem ist nun ohne Herrscher, und die Kräfte, die seinen Sohn auf den Thron heben wollen, sind leider stärker geworden, als wir fürchteten. Wir müssen zurück. Unser Bündnis ist in Gefahr.«

»Amalrichs Sohn?« keuchte Xavier. »Balduin, dieses aussätzige, debile Kind, soll König von Jerusalem werden? Das ist lächerlich!«

»Es spielt keine Rolle«, antwortete Horace. »Die Krätze frißt schon jetzt an ihm. Er wird nicht lange leben. Die Frage ist, wieviel Schaden die, die hinter ihm stehen, während der Jahre seiner Regentschaft anrichten.«

»Und wen sie nach ihm auf den Thron heben«, sagte Abbé düster.

»Wir können uns alle vorstellen, wer das sein wird«, bestätigte Horace. »Deshalb müssen wir schnell handeln. Es gilt zu verhindern, daß Balduin zum König von Jerusalem gekrönt wird. Ihr alle wißt, was das für uns bedeutet.«

»Den Untergang«, murmelte Heinrich.

»Vielleicht nicht ganz«, wehrte Horace ab. »Aber Tatsache ist, daß die, die Amalrichs Sohn auf dem Thron sehen möchten, uns nicht wohlgesonnen sind. Unser persönliches Schicksal liegt in Gottes Hand, und ich bin sicher, daß er über uns wachen wird. Doch unsere Sache ist in Gefahr.« Er ließ seinen Blick in die Runde schweifen. »Deshalb werden wir morgen bei Sonnenaufgang die Komturei verlassen und nach Köln aufbrechen, wo wir uns mit unseren Brüdern vereinigen werden. Odo von Saint-Amand selbst wird möglicherweise zu uns stoßen. Von dort aus reiten wir weiter nach Süden. Vielleicht kommen wir noch rechtzeitig, um das Schlimmste zu verhindern. Wenn uns die Winde günstig gesonnen sind, können wir Akko noch vor dem Herbst erreichen.«

»Morgen schon?« murmelte Abbé.

»Mein Plan war heute abzureisen«, antwortete Horace. »Aber die Nacht war für uns alle anstrengend. Keiner von uns hat Schlaf oder auch nur Ruhe gefunden. So habt Ihr bis morgen Zeit, Eure Angelegenheiten in Ordnung zu bringen.«

Robin starrte ihn an. Ihr Herz schlug hart und schwer, und ein sonderbares, vollkommen neues Gefühl begann sich in ihr auszubreiten. Sie sah Horace an.

»Akko?« murmelte sie.

»Jerusalem«, antwortete Horace lächelnd. »Ihr werdet die heilige Stadt der Christenheit sehen, Bruder Robin. Ich freue mich schon darauf, zusammen mit Euch in der Grabeskirche zu beten.«

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