KAPITEL 36

Sie brachten Gernot nicht ins Haupthaus, wie Robin ursprünglich angenommen hatte, sondern in einen kleinen Raum in dem benachbarten Wirtschaftsgebäude. Weder Abbé noch Salim oder Robin sagten auch nur ein einziges Wort. Schweigend führte Abbé sie in ein kleines, fensterloses Zimmer, das nur mit einem Tisch und einem einzelnen Stuhl möbliert war. Wenig sanft setzten sie Gernot darauf ab. Abbé entzündete eine Kerze, überzeugte sich recht grob davon, daß Gernot noch bei Bewußtsein war, und drehte sich dann brüsk herum, um den Raum zu verlassen. »Mitkommen«, sagte er schroff.

Sie folgten ihm. Abbé zog die Tür mit einem Knall hinter sich zu und fuhr Robin ohne weitere Vorwarnung an: »Was hast du dir dabei gedacht? Im Namen Jesu Christi und der Mutter Maria, weißt du eigentlich, was du da angerichtet hast?«

»Sie kann nichts dafür«, sagte Salim, und Abbé fuhr auf dem Absatz herum und richtete seinen gesamten Zorn nun auf ihn. »Das mag vielleicht sogar stimmen!« schnappte er. »Sie ist nur ein dummes Bauernmädchen, das nicht weiß, was es tut. Dafür weißt du es um so besser - oder solltest es wenigstens! Ist dir nicht klar, daß du mit diesem albernen Spiel unser aller Sicherheit aufs Spiel setzt?«

»Es ist nichts geschehen«, antwortete Salim.

»Aber es hätte!« brüllte Abbé. Er verlor nun vollends die Beherrschung. »Großer Gott, Salim! Ausgerechnet Horace! Hast du denn überhaupt nichts verstanden? Du bringst uns alle in Gefahr! Du ...«

Er brach ab. Etwas in seinem Blick änderte sich. Aus dem Schrecken in seinen Augen wurde etwas Neues, Schlimmes. Er trat einen Schritt zurück, sah Robin an, dann wieder Salim, dann noch einmal Robin und schließlich wieder den Tuareg. Er keuchte.

»Es war kein... Leichtsinn«, murmelte er. »Und es war auch kein Versehen. Du... du hast das mit Absicht getan! Du hast das alles so geplant!«

»Ich habe es mir etwas weniger dramatisch vorgestellt«, antwortete Salim. »Aber so ist es vielleicht noch besser.«

»Besser?!« Abbé schnappte hörbar nach Luft. »Wenn Bruder Horace auch nur ahnt, wer Bruder Robin ist, dann ist alles aus!«

»Aber er ahnt es nicht«, antwortete Salim ruhig. »Und er wird es auch nicht erfahren, wenn Ihr es ihm nicht sagt. Wenn Ihr für Xavier und Heinrich garantiert, kann nichts passieren.«

»Xavier und Heinrich hängen genauso am Leben wie ich«, sagte Abbé mit einer wegwerfenden Bewegung. »Aber sie sind nicht die einzigen, die Robin kennen! Was, wenn Jeromé bereits mit ihm gesprochen hat?«

»Wenn es so wäre, dann wären wir nicht hier«, sagte Salim.

»Na, dann können wir uns ja glücklich schätzen, daß er gerade noch rechtzeitig gefallen ist, wie?« fragte Abbé böse. »So verbirgt sich in den meisten schlimmen Nachrichten sogar noch etwas Gutes! Was erdreistest du dich, Sklave? Hast du ihn getötet?«

Salim zuckte ob dieser ungeheuerlichen Anschuldigung nicht einmal mit der Wimper. »Er fiel in der Schlacht«, sagte er.

»Ja, und Gernot wurde von Ottos Männern entführt und übel zusammengeschlagen!« sagte Abbé giftig. Robin hatte ihn noch nie so aufgebracht erlebt. »Genug jetzt. Wir reden später darüber. Denke nicht, daß du so einfach davonkommst. Doch jetzt müssen wir den Schaden begrenzen, soweit dies noch möglich ist.« Er atmete so schnell, als wäre er eine Meile oder zwei gelaufen. »Dieser Unsinn mit Bruder Robin hört auf der Stelle auf! Ihr beide werdet die Komturei verlassen, noch bevor wir mit dem Morgengebet beginnen!«

»Bruder Horace wird nicht begeistert sein«, sagte Salim. »Er schien mir einen Narren an Robin gefressen zu haben.«

»Laß Bruder Horace ruhig meine Sorge sein«, sagte Abbé kalt. »Er und die anderen bleiben höchstens drei Tage. Irgend etwas wird mir schon einfallen, um euer Verschwinden zu erklären. Vielleicht kommen wir alle noch einmal mit dem Schrecken davon. Dieser Mummenschanz ist vollkommener Wahnsinn. Es muß aufhören!«

Salim wollte noch etwas sagen, aber Abbé schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab. »Und jetzt kümmern wir uns um unseren Gast. Wenigstens in diesem Punkt scheinst du ja ausnahmsweise deinen Verstand benutzt zu haben!«

Sie gingen wieder in die Kammer zurück. Gernot hatte sich halbwegs aufgerichtet und starrte blicklos in die Kerzenflamme. Als sie eintraten, sah er jedoch auf und zog eine Grimasse, die zwar keinerlei Ähnlichkeit damit hatte, trotzdem aber wohl so etwas wie ein höhnisches Lächeln sein sollte.

»Bruder Abbé, der Hüter der Wahrhaftigkeit«, sagte er spöttisch. »Und wenn das nicht der tapfere Ritter Robin ist! Ich freue mich schon auf Horaces Gesicht, wenn er seinen Rock hochhebt und einen Blick darunterwirft.«

Abbé nickte fast unmerklich, und Salim ging zu Gernot und schlug ihm so hart mit der flachen Hand ins Gesicht, daß er vom Stuhl fiel.

Abbé wartete, bis Salim Gernot hochgerissen und roh wieder auf den Stuhl gestoßen hatte, dann sagte er kalt: »Wollt Ihr weiterleben, oder soll ich Salim erlauben, Euch die Kehle durchzuschneiden?«

»Er hat schon so viel an mir herumgeschnitten, daß es darauf kaum noch ankommt«, murmelte Gernot. Seine geschwollenen Lippen machten es ihm schwer, zu sprechen, und er schien große Schmerzen zu haben. »Außerdem werdet Ihr mich doch sowieso umbringen, oder?«

»Das liegt ganz bei Euch«, sagte Abbé. Robin hatte noch nie eine solche Kälte in seiner Stimme gehört. »Euer Vater wird in kurzer Zeit hier eintreffen. Soll ich ihm sagen, daß sein Sohn den ehrenvollen Tod auf dem Schlachtfeld fand, oder zieht Ihr es vor, mit ihm zusammen nach Burg Elmstatt zurückzukehren?«

Gernot sah ihn verwirrt an, aber auch ein wenig mißtrauisch. Er schwieg.

»Es gibt einen einzigen Grund, aus dem Ihr noch am Leben seid, Gernot«, fuhr Abbé fort. »Dieser Grund ist Euer Vater. Ihn und mich verbindet eine langjährige, tiefe Freundschaft. Ich bezweifle ehrlich gesagt, daß Euch die Bedeutung dieses Wortes klar ist, aber für mich bedeutet es viel. Ich kenne Euren Vater, Gernot, und ich weiß, daß es ihm das Herz bräche, wenn er erführe, wer hinter diesem hinterhältigen Plan steckt. Es würde ihn töten, und das lasse ich nicht zu.«

»Ich verstehe gar nicht, wovon Ihr redet«, sagte Gernot trotzig.

»Ich rede von dem Überfall auf Robins Dorf«, antwortete Abbé. »Ich rede von jener Nacht hinter der alten Kapelle, in der Robin Euch und Otto belauscht hat. Sie hat gesehen, wie Ihr Gundolfs Leichnam dort abgelegt habt, so daß der Anschein entstehen mußte, er wäre bei der Verfolgung der falschen Tempelritter in einen Hinterhalt geraten und getötet worden. Habt Ihr ihn umgebracht, Gernot? Klebt das Blut Eures eigenen Bruders an Euren Händen, oder habt Ihr diese Arbeit auch Eurem Schlächter Otto überlassen?«

Gernot schnaubte. »Ihr seid ja verrückt, alter Mann!«

»Robin hat alles gehört«, fuhr Abbé unbeeindruckt fort.

»Sie hat gehört, wie Ihr Otto den Befehl gegeben habt, Euch am linken Arm zu verletzen. Sie weiß auch, daß der Mann, der in Gundolfs Rüstung ins Dorf ritt, nicht Euer Bruder war, denn der lag zu diesem Zeitpunkt bereits tot hinter der Kapelle. Und sie erinnert sich auch noch, wie Ihr Otto den Befehl gegeben habt, ihr die Kehle durchzuschneiden.«

Gernot lachte. »Dieser Narr. Ihr wißt doch, was man sagt: Wenn du sicher sein willst, daß etwas erledigt wird, dann tu es selbst. Ihr habt nur ein Problem, alter Mann: Sie ist eine Bauerndirne. Ein dummes Kind, das sich für einen Ritter ausgibt. Wer würde ihr schon glauben?«

»Ich«, sagte Abbé. »Und Euer Vater auch. Ich glaube, er ahnt die Wahrheit bereits. Er will es nur noch nicht wahrhaben.«

»Weil er ein sentimentaler alter Trottel ist!« sagte Gernot verächtlich.

Abbé hob die Hand, und Salim schlug Gernot wieder. Diesmal fiel er nicht vom Stuhl, sank aber stöhnend nach vorne und hätte fast die Besinnung verloren.

»Und ich werde dafür sorgen, daß er sie auch niemals erfährt«, fuhr Abbé fort, als wäre nichts geschehen. »Eher töte ich Euch.«

»Was wollt Ihr von mir, alter Mann?« stöhnte Gernot.

»Ich will, daß Ihr mir zuhört«, antwortete Abbé kalt. »Ohne Wenn und Aber. Wir werden bei der Geschichte bleiben, auf die wir uns geeinigt haben. Es war Otto, der für den Überfall auf das Dorf verantwortlich war. Es war ebenso Otto, der Euren Bruder ermordet hat, und er hat auch den Mord an Robins Familie und ihren Freunden befohlen. So wie er in der vergangenen Nacht den Überfall auf Bruder Horace angeführt hat. Er fand dabei den Tod. Ihr habt also nichts zu befürchten. Er kann sich nicht mehr verteidigen. Das ist die Geschichte, die Euer Vater von mir hören wird. Es liegt bei Euch, ob Ihr sie bestätigen könnt, oder ob Ihr dann bereits tot seid.«

Gernot schwieg eine geraume Weile, und starrte fast die ganze Zeit Robin an, nicht Abbé. »Warum sollte ich Euch trauen?« fragte er schließlich.

»Weil Ihr gar keine andere Wahl habt«, antwortete Abbé. »Wenn ich Euren Tod wollte, dann wärt Ihr jetzt nicht hier. Glaubt Ihr, es ist Salim leichtgefallen, Euch am Leben zu lassen? Ich habe es ihm befohlen.«

»Und was... muß ich dafür tun?« fragte Gernot stockend.

»Nichts anderes als das, worin Ihr Übung habt«, antwortete Abbé. »Ihr müßt lügen. Ihr werdet unsere Geschichte bestätigen.«

»Und ich werde natürlich vergessen, wer sich unter dem Kettenhemd Eures Bruders Robin wirklich verbirgt«, sagte Gernot hämisch. »Und vor allem, was. Habt Ihr am Ende selbst ein Auge auf sie geworfen, Bruder Abbé? Sie ist ein hübsches Ding, und...«

Diesmal schlug Abbé ihn, nicht mit der flachen Hand, wie Salim es getan hatte, sondern mit der Faust. Gernot fiel nach hinten und in Salims Arme, und diesmal verlor er tatsächlich das Bewußtsein, wenn auch nur für einen kurzen Moment.

»Robin und Salim werden Euch und Euren Vater nach Burg Elmstatt begleiten«, fuhr Abbé fort. »Sie werden dort bleiben, bis Bruder Horace und seine Begleiter uns wieder verlassen haben, was in spätestens zwei oder drei Tagen der Fall sein wird. Danach werden sie unbehelligt hierher zurückkehren. Diese Komturei wird in wenigen Wochen aufgelöst, und wir alle werden fortgehen. Aber seid versichert, daß ich dafür Sorge getragen habe, daß man Euch im Auge behält, Gernot. Solltet Ihr es wagen, Hand an Robin zu legen, oder sollte ihr auch nur das geringste zustoßen, so wird Euer Vater erfahren, was sich wirklich zugetragen hat.«

»Das ist... alles?« fragte Gernot mißtrauisch.

»Das ist alles«, bestätigte Abbé. »Bis auf eine Frage: Warum?«

Gernot verzog verächtlich die Lippen. »Das würdet Ihr ja doch nicht verstehen, alter Mann.«

»Ist es wegen Eures Bruders?« fragte Abbé. »Gregor?«

Gernot schwieg.

»Ihr haßt uns«, sagte Abbé. »Ihr haßt uns, und Ihr haßt vor allem mich, weil Ihr glaubt, daß es meine Schuld ist. Aber das ist es nicht. Es war Gregors freier Wille, in den Orden einzutreten.«

»Sein freier Wille?« Gernot lachte hysterisch. »Dieser tumbe Narr weiß nicht einmal, was freier Wille ist! Jahrelang hat mein Vater ihm von Euch und Eurem verfluchten Orden vorgeschwärmt. Gebete tagein, tagaus, und dann diese Geschichten vom heiligen Krieg gegen die Heiden. Dem Ruhm, den die erhalten, die in die Schlacht gegen die Ungläubigen ziehen! Die Ehre und die Belohnung der ewigen Glückseligkeit! Jahrelang hat er es ihm eingehämmert, immer und immer wieder! Am Schluß konnte er gar nicht anders, als um Aufnahme in den Orden zu bitten!«

»Er war einer unserer besten, Gernot«, sagte Abbé leise.

»Und was hat es ihm genutzt?« Gernot schrie jetzt beinahe. »Er ist tot! Er ist in Euer dreimal verfluchtes Heiliges Land gezogen und dort verblutet! Er starb, noch bevor er Jerusalem auch nur gesehen hatte, und Ihr habt das Kreuzzeichen gemacht und meinem Vater Euer Bedauern ausgedrückt, und das war alles! Ihr habt meinen Bruder umgebracht und den Großteil unseres Vermögens genommen, und Ihr fragt mich, warum ich Euch hasse?«

»Ist es das?« fragte Abbé ruhig. »Das Geld?«

»Unser Geld«, verbesserte ihn Gernot. »Elmstatt war niemals reich, aber wir waren wohlhabend und konnten der Zukunft ohne Sorge entgegensehen. Und jetzt? Wart Ihr in den letzten Jahren einmal auf Burg Elmstatt? Wir leben kaum besser als die Bauern, deren Lehnsherren wir sind. Im Winter müssen wir manchmal Hunger leiden!«

»Ich habe niemals etwas von Eurem Vater verlangt«, sagte Abbé. »Alles, was er uns gegeben hat, war eine freiwillige Spende an den Orden.«

»Nachdem Ihr ihm den Verstand verwirrt habt mit Eurem ewigen Gerede vom Lohn Gottes und der himmlischen Glückseligkeit!« sagte Gernot haßerfüllt. »Ihr habt uns alles genommen! Unsere Familie, unsere Zukunft, unser Vermögen!«

»Und deswegen habt Ihr versucht, uns in Mißkredit zu bringen«, flüsterte Abbé entsetzt. »Ihr habt beinahe fünfzig Menschenleben ausgelöscht. Ihr habt einen Krieg begonnen, der Elmstatt die Vernichtung hätte bringen können, und Ihr habt Euren eigenen Bruder getötet - nur weil Ihr Rache wollt?«

»Wieviel Blut klebt an Euren Händen, Abbé« fragte Gernot böse. »Wie viele tausend habt Ihr in den Tod geschickt, um eine Ruine und ein altes Holzkreuz zu erobern, das vermutlich noch nicht einmal echt ist?«

Abbé wurde blaß. Für einen kurzen Moment begann er am ganzen Leib zu zittern, und für einen Augenblick war Robin fast sicher, daß er Gernot nun auf der Stelle töten würde.

Aber er beherrschte sich und sagte nur nach einer langen Pause und mit einer Stimme, in der nicht das mindeste Gefühl war: »Wie habt Ihr Euch entschieden, Gernot - wollt Ihr leben oder sterben?«

»Ich glaube nicht an das Leben nach dem Tod«, sagte Gernot.

»Weil Ihr allen Grund habt, Euch davor zu fürchten«, vermutete Abbé. »Wir sind uns also einig?«

»Ihr habt mein Wort«, sagte Gernot spöttisch. »Mein Ehrenwort.«

»Was immer das Wort wert sein mag«, murmelte Abbé. »Salim! Sorge dafür, daß sich jemand um seine Wunden kümmert. Und bringe ihm saubere Kleider. Er stinkt.«

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