KAPITEL 37

Gunthar kam ungefähr eine Stunde später, und noch bevor eine weitere Stunde vorüber war, verließen Robin und Salim in seinem Gefolge die Komturei. Es war ein sehr sonderbarer Abschied gewesen; ein Abschied, der im Grunde keiner war, denn Abbé hatte ihr nicht einmal Zeit gegeben, Tobias Lebewohl zu sagen, und es war auch eine sonderbar schweigsame Prozession, die durch das Tor ritt und sich nach Norden wandte. Gunthar war in Begleitung eines Dutzends Männer gekommen, Krieger in Rüstungen und Waffen, und von irgendeiner Erleichterung, seinen letzten ihm gebliebenen Sohn wiederzusehen, war ihm nichts anzumerken. Im Gegenteil: Sein Gesicht war wie Stein, und er beschränkte sich bei dem, was er sagte, auf knappe Anweisungen und saß unnatürlich steif und kerzengerade aufgerichtet im Sattel. Obwohl Gernot direkt neben ihm ritt, würdigte er ihn keines Blickes. Es mußte wohl so sein, wie Abbé gesagt hatte: Gunthar ahnte die Wahrheit, aber er wollte sie nicht sehen. Robin empfand ein tiefes, sehr ehrliches Mitleid mit dem alternden Ritter. Was mußte es für ein Gefühl sein, von einem Moment auf den anderen alles zu verlieren?

Sie beantwortete ihre Frage gleich selbst: Sie kannte es. Sie kannte es nur zu gut.

Sie waren ungefähr eine halbe Meile von der Komturei entfernt, und Salim drehte sich zum zweiten Mal im Sattel herum und sah zu dem Rechteck aus weißgekalkten Wänden zurück. Es sah aus, als suche er etwas.

»Fällt dir der Abschied so schwer?« fragte Robin bitter. »Aber vielleicht gewöhnst du dich ja schon einmal daran.«

Salim blinzelte. In ihrer Stimme war ein feindseliger Klang.

»Ich meine: Wo ihr doch sowieso gehen werdet - in wenigen Wochen, und für mich ja bereits gesorgt ist.« Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf Gunthar und Gernot, die an der Spitze der kleinen Kolonne ritten. »Ich wundere mich beinahe, daß ich nicht auf Burg Elmstatt verbracht werde. Sie brauchen doch bestimmt noch eine gute Küchenmagd.«

Salim setzte zu einer Antwort an, sagte dann aber doch nichts, sondern ließ Shalima etwas langsamer traben, so daß sie langsam ans Ende der Truppe zurückfielen. Erst, als sie außer Gunthars Hörweite waren, sagte er: »Du hast gewußt, daß wir nicht hierbleiben.«

»Und du hast gesagt, daß ich mitkommen werde!« sagte sie scharf.

Aber das stimmte so nicht. Salim hatte sie gefragt, ob sie ihn begleiten wollte, aber sie war ihm die Antwort auf diese Frage bis jetzt schuldig geblieben. Sie las in seinen Augen, daß er im Moment wohl genau dies dachte.

Doch er sprach es nicht aus, sondern sah noch einmal zur Komturei zurück und lächelte dann traurig. »Ich habe es versucht.«

Robin lachte schrill. »Indem du mich als Tempelritter verkleidet hast? Und du hast wirklich geglaubt, mit dieser...« Sie suchte nach Worten. »... völlig kindischen Idee durchzukommen?«

»Wenn sie so kindisch ist«, sagte Salim ruhig, »warum hast du dann seit Wochen mit mir geübt?«

Robin starrte ihn an, und sie fühlte, wie sich ihre Augen mit heißen Tränen zu füllen begannen; Tränen des Zorns und der Hilflosigkeit, die sie nicht zurückhalten konnte und auch nicht wollte. Auch Salim sagte nichts, sondern sah sie nur an und wartete auf eine Antwort auf seine Frage. Aber sie konnte sie nicht beantworten. Die Wahrheit war: Sie hatte niemals darüber nachgedacht. Sie hatte niemals darüber nachdenken wollen.

»Wie hätte ich dich sonst mitnehmen sollen?« fragte Salim, nachdem eine geraume Weile vergangen war. »Als meine Mätresse?«

Sie wußte nicht genau, was dieses Wort bedeutete, aber sie ahnte es allein durch die verächtliche Art, auf die er es aussprach.

»Nein!« antwortete sie heftig. »Aber als... als Ritter? Was hätte ich tun sollen? An deiner Seite in die Schlacht reiten?«

»Unsinn!« widersprach Salim. »Es wäre nur für die Zeit gewesen, bis wir in Akko angelegt hätten. Danach...« Er ballte zornig die Faust. »Ach, was rede ich. Du willst mir doch gar nicht zuhören, habe ich recht? Du suchst nur jemanden, an dem du deinen Ärger auslassen kannst. Aber dafür bin ich mir zu schade.«

Er knallte mit den Zügeln, und Shalima machte einen erschrockenen Satz. Mit wenigen Schritten war er wieder an der Spitze der Kolonne und begann mit Gunthar zu reden - genauer gesagt, er redete und Gunthar beschränkte sich darauf, zuzuhören und dann und wann mit einem Nicken oder einer Handbewegung und einem Achselzucken zu reagieren.

Robin wäre am liebsten zu ihm geritten und hätte ihn um Verzeihung gebeten. Sie war ungerecht zu ihm gewesen. Es war genau so, wie er gesagt hatte: Ihr war weh getan worden, und sie hatte einfach nur jemanden gesucht, an dem sie ihren hilflosen Zorn und ihren Schmerz abreagieren konnte. Es hatte nicht viel geholfen. Im Gegenteil. Sie hatte ausgerechnet dem Menschen weh getan, der ihr auf der ganzen Welt am meisten bedeutete. Vielleicht dem einzigen, der ihr überhaupt noch etwas bedeutete...

Und wieder einmal fragte sie sich, warum man den Wert von etwas erst dann wirklich begriff, wenn man in Gefahr geriet, es zu verlieren. Aber sie fand auch diesmal keine Antwort.

Salim, der an der Spitze der Gruppe blieb, fuhr damit fort, sich in regelmäßigen Abständen herumzudrehen und zur Komturei zurückzublicken, obwohl sie mittlerweile so weit entfernt waren, daß sie sie kaum noch sehen konnten. Dann und wann tat Robin dasselbe. Sie waren etwa seit einer Stunde unterwegs, als sie einen Reiter gewahrte, der sich ihnen in scharfem Tempo näherte; eine winzige, weiße Gestalt, die am Anfang kaum, dann aber immer rascher herankam und in der Robin schließlich einen Tempelritter erkannte. Salim, der den Reiter natürlich auch gesehen hatte, wechselte noch ein paar Worte mit Gunthar, ließ sein Pferd dann allmählich zurückfallen und gab Robin ein Zeichen, dasselbe zu tun.

»Wer ist das?« fragte Robin.

»Woher soll ich das wissen?« fragte Salim. »Ich habe auch keine besseren Augen als Ihr, Bruder Robin.«

Daß er sie so ansprach, mochte ein Scherz sein, aber er beantwortete ihre Frage trotzdem schon beinahe allein. Salims Gesicht blieb unbewegt, aber sie sah, wie schwer es ihm fiel, nicht zufrieden auszusehen.

»Hast du doch«, behauptete Robin. »Außerdem hast du die ganze Zeit auf ihn gewartet - oder warum sonst hast du dich dauernd herumgedreht?«

»Weil mir der Abschied so schwergefallen ist«, sagte Salim spöttisch. Dann maß er sie mit einem langen, kritischen Blick, mit dessen Ergebnis er nicht allzu zufrieden zu sein schien.

»Mach dein Haar ein bißchen durcheinander«, sagte er. »Außerdem solltest du es dir schneiden, sobald wir zurück sind - und möglichst, bevor wir mit Horace sprechen. Er mag ja ein Narr sein, aber er hat Augen, um zu sehen. Verdammt, ich vergesse immer, was für ein hübsches Mädchen du bist.«

Das Kompliment glitt in diesem Moment von ihr ab, ohne sie zu berühren. Sie antwortete, fast ohne darüber nachzudenken, mit etwas, was Jan zu ihr gesagt hatte: »Es gibt auch hübsche Knaben.«

»Dann wollen wir hoffen, daß Horace das auch denkt«, murmelte Salim.

»Warum habt ihr bloß alle solche Angst vor Horace?« fragte Robin. »Man könnte meinen, er wäre der oberste aller Tempelritter!«

»Das ist er nicht, aber er ist auch nicht weit davon entfernt«, antwortete Salim ernst. »Und vielleicht wird er es eines Tages sogar. Außerdem ist er ein Fanatiker. Völlig verrückt in mancher Hinsicht.« Er lachte, aber es klang nicht besonders amüsiert. »Ich glaube, für ihn besteht zwischen einem Weib und dem Satan kein allzu großer Unterschied. Wenn er wüßte, wer ihm gestern nacht wirklich das Leben gerettet hat, würde er sich wahrscheinlich noch nachträglich in sein Schwert stürzen. Und wenn er wüßte, daß sich seit vier Wochen eine Frau in der Komturei aufhält, würde er alle Decken, Wände und Fußböden in allen Zimmern mit Weihwasser abschrubben lassen - und Abbé anschließend die Haut vom Leibe reißen, um damit trockenzuwischen.« Er atmete hörbar ein und sah dem näherkommenden Ritter einen Moment wortlos, aber mit wachsender Sorge entgegen.

»Spiel einfach den Erschöpften«, sagte er. »Nach der vergangenen Nacht hast du jedes Recht dazu. Sieh zu Boden und antworte möglichst einsilbig.«

Er wirkte plötzlich sehr nervös, so, dachte Robin, als hätte er mit einem Male Angst vor seinem eigenen Plan. Vielleicht war sie ja gut beraten, dasselbe zu empfinden.

Sie mußten nicht mehr lange warten. Der Reiter näherte sich schnell, und Robin erkannte ihn als einen der Tempelritter, die in Horaces Begleitung gekommen waren. Sie wußte seinen Namen nicht.

»Bruder Robin«, sagte er keuchend. Er atmete fast so schwer wie sein Pferd, dem flockiger, weißer Schaum von den Nüstern tropfte. Er mußte wie der Teufel geritten sein, um sie einzuholen. »Bruder Horace befiehlt Eure sofortige Rückkehr!«

Robin wollte widersprechen, fing aber im letzten Moment einen warnenden Blick von Salim auf. Sie neigte nur das Haupt und sagte mit leiser Stimme, deren erschöpfter Klang nur zum Teil gespielt war: »Ich werde Gunthar unterrichten.«

Der Ritter machte eine herrische Geste. »Das erledige ich. Reitet zurück. Die Zeit drängt! Ich hole Euch schon ein.«

Er sprengte los. Robin blickte ihm nach und wandte sich dann mit einem fragenden Blick an Salim. »Die Zeit drängt?«

Salim hob die Schultern. Er sah sehr besorgt aus. Wortlos drehte er Shalima herum und ritt los. Robin folgte ihm.

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