KAPITEL 31

Gunthar, Gernot und ihre Begleiter - einschließlich des fremden Tempelritters - verließen die Komturei am darauffolgenden Nachmittag, ohne daß Robin noch einen von ihnen zu Gesicht bekommen hätte. Sie war sehr erleichtert, zugleich aber auch ein wenig beunruhigt - sie hatte Tobias eigenartige Reaktion nicht vergessen, als sie ihn auf Horace angesprochen hatte, und als sie Salim auf den Tempelritter ansprach, behauptete er kurz angebunden, nicht zu wissen, wer er sei, und warum er gekommen war.

Selbst wenn sie ihn nicht so gut gekannt hätte, hätte sie gespürt, daß er log. Wer immer dieser Horace war - die bloße Erwähnung seines Namens reichte offenbar schon aus, Nervosität zu verbreiten, wenn nicht Furcht.

Salim und sie trafen sich weiter in dem kleinen Wäldchen jenseits der Pferdekoppel, um den Umgang mit Schild und Schwert zu üben, aber etwas hatte sich verändert. Eine fast greifbare Atmosphäre von Nervosität lag über der Komturei, und Robin war auch nicht entgangen, daß die Meinungsverschiedenheiten zwischen Abbé und Jeromé immer schneller zu eskalieren schienen. Sie konnte nicht sagen, auf welcher Seite Xavier und Heinrich standen, und sie wagte es auch nicht, einen der beiden - oder gar Abbé selbst - offen darauf anzusprechen. Aber irgend etwas war im Gange, und es war nichts Gutes.

Am Ende dieser Woche beschloß Salim ihre täglichen Übungen mit der Ankündigung, daß sie am nächsten Tag etwas Neues beginnen würden, ließ sich aber durch nichts dazu bewegen, ihr zu verraten, was. Robin schlief in der darauffolgenden Nacht schlecht, und an dem Tag, der ihr Leben endgültig und noch viel nachhaltiger - und unwiderruflich - umkrempeln sollte, als es bisher schon der Fall gewesen war, wachte sie früh und mit einem Gefühl vager Furcht auf; erfüllt von einer Unruhe, die sie sich nicht erklären konnte - die es ihr aber auch unmöglich machte, einfach die Augen zu schließen und weiterzuschlafen.

Sie hätte es gekonnt. Ihr Gefühl sagte ihr, daß bis Sonnenaufgang noch mindestens eine Stunde Zeit war, aber sie spürte auch ebenso deutlich, daß sie jetzt ohnehin keinen Schlaf mehr finden würde. So stand sie auf, trank einen Schluck Wasser und trat ans Fenster.

Sie war wohl nicht die einzige, die an diesem Morgen ganz besonders früh aufstand. Hinter mehreren Fenstern des Haupthauses brannte gelbes Kerzenlicht, und unten auf dem Hof brannte eine Fackel, in deren Licht sie zwei Gestalten erkannte. Eine von ihnen trug das graue Gewand, das hier allgemein üblich war, aber sie erkannte ihre Statur und vor allem ihren glänzenden Kahlkopf, auf dem sich die Flammen spiegelten, als wäre er poliert. Abbé. Der andere war Jeromé. Er trug Waffenrock, Mantel und Schild eines Tempelritters.

Robin begriff, daß sie nicht von selbst wach geworden war. Vielmehr hatten sie die Unruhe und der Lärm von unten auf dem Hof geweckt. Abbé und Bruder Jeromé stritten miteinander, diesmal ganz offen und ohne irgendeine Rücksicht darauf zu nehmen, ob jemand ihren Streit mitbekam oder nicht. Aber warum um diese Zeit und worüber?

Die Antwort auf wenigstens eine dieser Fragen erhielt sie fast unmittelbar. Die Stalltür ging auf, und einer der Knechte führte Jeromés Pferd heraus. Es war bereits aufgezäumt und gesattelt, und Jeromé wollte sich auf der Stelle herumdrehen und aufsitzen, wurde aber von Abbé daran gehindert, der ihn am Arm ergriff und ihn fast gewaltsam herumriß. Die Stimmen der beiden wurden lauter, so daß Robin sie nun auch hier oben hören konnte.

Auf diese Weise vergingen einige Minuten, bis sich eine weitere Gestalt in einem nachtschwarzen Mantel zu ihnen gesellte. Der Knecht, der Jeromés Pferd gebracht hatte, hatte längst das Weite gesucht, und auch Robin wünschte sich fast, nicht aufgewacht zu sein.

Trotzdem blieb sie natürlich am Fenster stehen und sah zu, was weiter geschah.

Jeromés und Abbés Gestikulieren wurde heftiger, und ihre Stimmen immer lauter; für einen kurzen Moment sah es beinahe so aus, als wollten die beiden aufeinander losgehen, und vielleicht hätte Jeromé dies sogar getan, wäre Abbé wie er bewaffnet gewesen. So aber riß er nur seinen Arm mit einer wütenden Bewegung los, schwang sich in den Sattel und sprengte davon. Abbé sah ihm nach, bis er unter dem Tor verschwunden war, dann drehte er sich herum und verschwand mit weit ausgreifenden Schritten im Haus. Salim folgte ihm gleich einem lautlosen Schatten, und nur einen Herzschlag später fuhr auch Robin herum und verließ das Zimmer. Was immer zwischen Jeromé und Bruder Abbé vorgefallen war, ging sie nichts an, aber sie spürte, daß es sie betraf. Sie mußte wissen, warum Jeromé weggeritten war, und wohin.

Ihre Schritte wurden jedoch langsamer, je weiter sie die Treppe hinunter lief, und bevor sie die Tür öffnete und den Turm verließ, blieb sie noch einmal stehen. Die Vorstellung, daß sie nur zu Abbé gehen und ihn um Auskunft bitten brauchte, war ziemlich naiv. Abbé würde ihr allerhöchstens Vorwürfe machen, daß sie ihn belauscht hatte, und ihr ansonsten bescheiden, daß sie das alles nichts anginge.

Aber sie mußte einfach wissen, was vorging. Das schreckliche Gefühl eines bevorstehenden Unglückes war wieder da, und es war mit einem Mal stärker denn je. Etwas Furchtbares würde passieren. Noch heute.

Sie versuchte, diesen Gedanken als lächerlich abzutun oder wenigstens so weit niederzukämpfen, daß er sie nicht mehr vor Furcht am ganzen Leib erbeben ließ, aber das eine gelang ihr so wenig wie das andere. Sie öffnete die Tür, trat auf den Hof hinaus und sah sich aufmerksam nach allen Seiten um, um sich davon zu überzeugen, daß sie auch wirklich allein war. Als sie zum Haupthaus hinüber lief, schlug sie einen großen Bogen um die brennende Fackel und achtete auch darauf, nicht in den Lichtschein zu geraten, der aus einigen Fenstern im Untergeschoß fiel. Erst als sie die Tür erreicht hatte und das Gebäude betrat, wurde ihr klar, daß sie sich wie eine Diebin benahm.

Diese Einsicht hinderte sie nicht daran, die Tür so leise wie möglich hinter sich zu schließen und auf Zehenspitzen weiterzuschleichen. Das Haus war still, noch viel stiller, als es ohnehin meistens auch tagsüber war, und auf eine fast unheimliche Art. Dieses Gebäude kam ihr oft wie eine Kapelle vor. Jetzt erschien es ihr wie eine Gruft, kalt und ab weisend, ja, beinahe feindselig, als wolle ihr die Stille zuflüstern, daß sie besser daran täte, nicht hier zu sein. Eine unsinnige Vorstellung, aber sie ließ sich nicht abschütteln. Robin war mehr als erleichtert, als sie endlich wieder den Klang menschlicher Stimmen hörte.

Sie folgte ihnen und war nicht überrascht, sie als die Abbés und Salims zu erkennen. Auf Zehenspitzen ging sie die Treppe hinauf und wandte sich nach links. Die Stimmen wurden lauter und ihr Klang erregter, und hinter einer nur angelehnten Tür am Ende des Ganges leuchtete das ruhige gelbe Licht einer Kerze.

Robin Schritte wurden immer langsamer, je weiter sie sich der Tür näherte - und vor allem, je deutlicher sie die Stimmen verstand. Abbé und Salim führten kein angenehmes Gespräch.

»Nein!« sagte Abbé gerade. »Das ist mein letztes Wort. Ich will es nicht, und es ist auch unmöglich!«

»Dann habt Ihr es möglich zu machen«, antwortete Salim. »Wie sagt ihr Christen doch so gerne? Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg!«

Robin war beinahe entsetzt, als sie hörte, in welchem Ton Salim mit Abbé sprach. Er war niemals besonders respektvoll Abbé gegenüber gewesen, nicht einmal in Gegenwart der anderen Tempelritter, aber sie hatte ihn auch noch niemals so mit ihm reden hören.

Erstaunlicherweise reagierte Bruder Abbé jedoch nicht zornig, sondern ganz im Gegenteil in verzeihendem, beinahe schon väterlichem Ton. »Ich kann dich verstehen, Salim. Auch ich weiß, was es bedeutet, jemanden zu lieben, mein Junge. Aber du quälst dich nur selbst. Und auch sie. Du solltest ihr keine Hoffnungen machen, die du nicht erfüllen kannst.«

Robins Herz begann schneller zu schlagen. Abbé und Salim sprachen eindeutig über sie!

»Ich werde sie erfüllen«, sagte Salim betont. »Und Ihr werdet mir dabei helfen!«

»Wie stellst du dir das vor?« fragte Abbé. Seine Stimme war noch immer ruhig, aber vielleicht nicht mehr ganz so geduldig wie noch gerade. »Schon, daß das Mädchen hier ist, kann mich den Kopf kosten! Wenn es Jeromé gelingt, Horace einzuholen, dann wird es mich den Kopf kosten, verdammt! Du willst sie mitnehmen? Das ist lächerlich! Es wäre nicht einmal möglich, wenn ich es wollte - und ich will es nicht!«

»Unglücklicherweise steht hier nicht zur Debatte, was Ihr wollt«, antwortete Salim höhnisch, und diesmal wurde Abbé zornig.

»Was erdreistest du dich, in einem solchen Ton mit mir zu reden, Sklave!« sagte er scharf.

Salim lachte nur höhnisch. »Ich rede mit Euch, wie ich will«, sagte er. »Spart Euch das für die Gegenwart Eurer Brüder auf, Abbé. Muß ich Euch daran erinnern, wieso ich bei Euch bin und wer mein Vater ist?«

»Nein«, antwortete Abbé. »Aber ich lasse nicht zu, daß unsere Sache in Gefahr gebracht wird, nur weil dich der Hafer sticht. Es ist bereits alles vorbereitet. Für Robin ist gesorgt. Es gibt einen Platz, an dem sie bleiben kann...«

»Wie lange, wenn wir nicht mehr hier sind?« unterbrach ihn Salim. »Eine Woche? Zwei? Gernot war mehr als deutlich mit seinen Worten.«

»Ich werde nicht zulassen...«

»Ich«, fiel ihm Salim scharf ins Wort, »werde nicht zulassen, daß Robin in Gefahr gerät, Punktum! Sie wird mich begleiten, ob es Euch gefällt oder nicht. Sie gehört mir!«

Die Tür flog auf, und Robin fand gerade noch Zeit, mit einem hastigen Schritt in den Schatten zurückzuweichen, bevor Salim herausgestürmt kam. Sein Gesicht war wutverzerrt, und seine rechte Hand lag verkrampft auf dem Schwert, das er an der Seite trug. Er stürmte mit nach vorne gebeugten Schultern so dicht an ihr vorbei, daß sie ihn hätte berühren können, und für einen Moment war sie fest davon überzeugt, daß er sie einfach bemerken mußte. Aber er lief einfach an ihr vorbei und polterte die Treppe hinunter. Robin blieb zutiefst verwirrt zurück.

Sie wußte für den Moment nicht einmal, was sie denken sollte. Salims Benehmen war... unvorstellbar. Wieso hatte Abbé nicht auf der Stelle sein Schwert gezogen und ihn erschlagen? Und: Was hatte er gesagt? Sie gehört mir?

Sie hörte ein Geräusch, drehte sich herum und sah Bruder Abbé, der mit langsamen, müde wirkenden Schritten zur Tür kam. Er sah sie an. Er blickte nicht zufällig in ihre Richtung, sondern sah sie direkt an. Obwohl sie noch immer reglos im tiefsten Schatten stand und eigentlich unsichtbar war, hielt sein Blick den ihren für einen kurzen Moment fest, und sie las eine tiefe, schmerzerfüllte Trauer darin.

Er wußte, daß sie da war, und er wußte wohl auch, daß sie jedes Wort gehört hatte. Vielleicht war es kein Schmerz, den sie in seinen Augen las, sondern Scham.

Aber er sagte nichts, sondern drehte sich nur schweigend herum und schloß die Tür.

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