KAPITEL 23

Gernot und seine Männer verließen die Komturei noch im Laufe der Nacht, und noch bevor sie es taten, zogen Freund und Feind eine schreckliche Bilanz des zurückliegenden Tages: Achtzehn von Abbés Männern waren tot oder so schwer verletzt, daß sie den nächsten Morgen wohl nicht mehr erleben würden, und die Verluste der Angreifer waren mehr als doppelt so hoch. Kaum einer auf beiden Seiten, der ganz unverletzt davongekommen wäre, und die Komturei selbst lag zu großen Teilen in Trümmern. Es würde ein Jahr dauern, sie wieder so aufzubauen, wie sie einmal gewesen war. Elmstatt mußte es noch schlimmer getroffen haben - irgendwann während der Nacht fing Robin ein Gespräch zwischen Jeromé und Abbé auf, in dessen Verlauf Jeromé die Meinung vertrat, daß Elmstatt sich nie wieder von dieser Schlacht erholen würde; der Freiherr war nie sehr reich gewesen, und das Land blutete seit Jahrzehnten aus. Der Kaiser verlangte immer höhere Abgaben und Steuern, und die Blüte des Adels fiel entweder in den ebenso törichten wie zahllosen Fehden, die sich Landesfürsten untereinander lieferten, oder zog ins Heilige Land, um nur allzu oft niemals wiederzukehren.

Vieles von dem, was Robin hörte, verstand sie erst sehr viel später, und manches auch nie, aber eines begriff sie mit einer Klarheit, die sie diese Erkenntnis für den Rest ihres Lebens nicht mehr vergessen lassen sollte: daß es in einem Krieg niemals wirklich einen Sieger gab, und daß eine Schlacht vielleicht manchmal einen Zweck hatte, niemals aber einen Sinn. Gunthar hatte den Kampf um die Komturei gewonnen, ganz gleich, wie sehr die Ritter - allen voran Xavier - auch versuchten, sich ihre Niederlage schönzureden, und doch schien er in Wahrheit der Verlierer zu sein. Die Hälfte seiner Männer war tot, seine Familie zerbrochen, und er nährte eine Natter an seiner Brust und wußte es nicht einmal.

Den größten Teil der Nacht aber verbrachte Robin mit dem gleichen, blutigen Handwerk, mit dem der Tag für sie begonnen hatte. Es gab zahllose Verletzte, und Gunthar hatte seine am schwersten verwundeten Soldaten ebenfalls zurückgelassen, da manche von ihnen den Weg zurück nach Elmstatt nicht überlebt hätten, so daß sich nunmehr die gesamte Komturei in ein einziges Krankenlager verwandelte. Robin war mehr als einmal an dem Punkt angelangt, an dem sie glaubte, einfach nicht mehr weiterzukönnen beziehungsweise zu wollen. Aber sie gab nicht auf. Irgendwann im Laufe der Nacht verfiel sie in einen Zustand brütenden Entsetzens, der ihr Gefühl und ihre Gedanken zu lähmen schien, nicht aber ihre Hände. Sie wechselte Verbände, wusch Wunden aus, kühlte fiebernde Wangen und versuchte, gebrochene Arme zu richten. Irgendwann während dieser Nacht mußte sie wohl einfach vor Erschöpfung eingeschlafen sein, denn das nächste, was sie bewußt wahrnahm, war ein zugleich unerwartetes wie auch vertrautes Bild: Salim, der auf einem Stuhl neben ihrem Bett saß und auf sie herabsah. Sie mußte nicht fragen, wer sie hier heraufgetragen, ins Bett gelegt und zugedeckt hatte.

Sie wollte aufstehen oder sich wenigstens aufsetzen, aber ein einziger Blick in Salims Gesicht reichte, um sie begreifen zu lassen, daß er sie sowieso davon abhalten würde, und so versuchte sie es erst gar nicht. Statt dessen drehte sie den Kopf und sah nach draußen. Helles Tageslicht strömte herein, aber sie sah nur einen kleinen Ausschnitt des wolkenlosen blauen Himmels und konnte nicht sagen, wie hoch die Sonne stand. Auf jeden Fall war es wieder sehr warm. Die Luft war stickig und roch noch immer verbrannt.

»Nur ein paar Stunden«, sagte Salim.

Robin drehte den Kopf in seine Richtung und sah ihn an.

»Du fragst dich, wie lange du geschlafen hast«, sagte Salim. »Es waren nur ein paar Stunden. Nicht annähernd genug, um wieder aufzustehen. Also versuch es erst gar nicht. Du hättest sowieso nicht die Kraft dazu. Außerdem würde ich es nicht zulassen.«

Fast aus Trotz stemmte sie sich auf die Ellbogen hoch. »Und wenn doch?« Sie war ein wenig überrascht, wie leicht ihr das Sprechen fiel - aber vielleicht kam es ihr ja auch nur so vor, denn Salim legte den Kopf schräg und schien einen Moment angestrengt in sich hineinlauschen zu müssen, um den Sinn ihrer Worte zu erfassen.

»Niemandem ist geholfen, wenn du dich überanstrengst«, sagte er. »Heute nacht bist du buchstäblich über einem armen Burschen zusammengebrochen, den du eigentlich verbinden solltest.«

Robin wußte nicht, ob das stimmte oder ob Salim es nur sagte, um sie zu erschrecken. Sie erinnerte sich nicht. Aber sie erinnerte sich ja auch nicht, wie sie hierhergekommen war.

»Bruder Abbé hat mir persönlich den Befehl dazu erteilt, darauf zu achten, daß du liegen bleibst«, fuhr Salim fort. »Er hat nicht gesagt, wie. Also werde ich dich schlimmstenfalls auch ans Bett binden, falls es nötig ist.«

Das würde es bestimmt nicht sein. In Robin fochten Pflichtgefühl und Müdigkeit einen kurzen, ungleichen Kampf. Sie hatte gar nicht mehr die Kraft, jetzt wieder hinunter zu gehen und sich all diesem Leid und Schmerz zu stellen. Sie hatte buchstäblich bis zum Zusammenbruch gearbeitet, und etwas in ihr schien einfach ausgebrannt zu sein.

»Manchmal ist es ganz praktisch, nicht antworten zu können, wie?« fragte Salim spöttisch.

Robin sah ihn an, sagte ganz klar und deutlich: »Ja«, und stemmte sich ein kleines Stückchen weiter in die Höhe. Da Salim keine Einwände erhob, setzte sie sich ganz auf, schlug die Decke zurück und stellte überrascht fest, daß sie nicht mehr das graue Büßergewand trug, das Abbé ihr gegeben hatte, sondern ihr eigenes Gewand, das, in dem sie das Dorf verlassen hatte. Otto hatte es zerrissen, aber nun war es wieder unversehrt. Der Riß, der es fast bis zum Bauchnabel hinunter geteilt hatte, war mit fast filigranen kleinen Stichen geflickt worden, und allem Anschein nach hatte man das Gewand auch gewaschen. Früher war ihr dieses Kleidungsstück immer ärmlich und grob vorgekommen, aber nach einer Woche, in der sie sich die Haut am harten Sackleinen des Büßerkleides wundgescheuert hatte, kam es ihr vor, als trüge sie die Robe einer Königin. Außerdem war dieses Gewand das letzte, was ihr von ihrem ganzen früheren Leben geblieben war. Fragend sah sie Salim an.

»Bruder Abbé wollte es schon wegwerfen«, sagte der Tuareg. »Aber ich habe es gewaschen und ausgebessert. Eigentlich wollte ich es dir geben, wenn du uns wieder verläßt, aber der Moment jetzt erschien mir passender. Das Büßerkleid, das du letzte Nacht getragen hast, sah aus, als hättest du eine Kuh darin geschlachtet und ausgenommen.«

Robin sparte sich die Frage, wer sie aus- und wieder angekleidet hatte. Dafür deutete sie mit zweifelndem Gesicht auf die feinen Stiche. »Du?« Selbst ihre Mutter hätte die Reparatur nicht geschickter ausführen können.

»Ich bin ein Mann mit vielen Talenten«, grinste Salim.

Robin unterdrückte im letzten Moment ein Lachen. Das hätte ihrem Hals nicht gutgetan, und nach allem, was in der letzten Nacht und am Tag zuvor geschehen war, erschien es ihr unpassend, in diesen Mauern noch einmal fröhlich zu sein.

Sie erhob sich nun vollends. Salim beobachtete sie aufmerksam, erhob aber noch immer keine Einwände, und so begab sie sich mit langsamen, kleinen Schritten zum Fenster und sah hinaus. Das Zimmer lag im oberen Stockwerk des Turms, war aber nicht dasselbe, das sie zuvor bewohnt hatte. Aus der großen Höhe betrachtet, nahmen sich die Spuren des Kampfes so harmlos und unbedeutend aus, daß sie sich für einen Moment fragte, ob nicht vielleicht alles nur ein böser Traum gewesen war.

»Jeromé und Abbé möchten mit dir sprechen«, sagte Salim nach einer Weile. »Ich soll ihnen Bescheid geben, sobald du wach bist. Wenn du willst, sage ich ihnen, daß du zu erschöpft dazu bist.«

»Jeromé?« fragte sie. Was wollte der Kreuzritter noch von ihr? Sie hatte doch alles gesagt, was er ihr aufgetragen hatte!

»Du mußt dich vor ihm in acht nehmen«, sagte Salim. »Er ist gefährlich. Er war von Anfang an dagegen, daß du hier bist. Wäre es nach ihm gegangen, dann hätte ich dich draußen vor dem Tor verbluten lassen, wußtest du das?«

Sie verneinte. Sie hatte es nicht gewußt, aber es wunderte sie auch nicht.

»Im Augenblick braucht er dich«, fuhr Salim fort. »Gunthar wird wiederkommen und mehr Einzelheiten wissen wollen. Aber sei trotzdem auf der Hut. Sprich nur mit ihm, wenn du mußt, und überlege dir jedes Wort genau. Ich glaube, er sieht in dir eine Möglichkeit, Bruder Abbé zu Fall zu bringen ... Hast du ihm... alles erzählt?«

Sie drehte sich vom Fenster weg und sah Salim lange und prüfend an, ehe sie auf seine Frage reagierte. Salim warnte sie vor Jeromé, und das mit Recht. Aber sie war nicht mehr sicher, ob sie Salim trauen konnte. Er war nicht der, der er zu sein vorgab. Schließlich schüttelte sie den Kopf.

»Das ist gut«, sagte Salim. »Dann solltest du es auch dabei belassen. Jeromé ist wirklich gefährlich. Wenn er hat, was er von dir will, dann wird er keinen Moment zögern, sich deiner zu entledigen.«

»Du meinst, er... wird mich... töten?« fragte Robin.

»Das hat er mit seiner Geschichte im Grunde schon getan«, behauptete Salim. »Hast du den Ausdruck in Gernots Augen nicht gesehen? Er muß dich töten, weißt du? Gernot ist nicht sicher, ob du gestern nacht gelogen hast oder ob du dich nur nicht erinnerst. Solange du lebst, bist du eine Gefahr für ihn. Jeromé weiß das - und ich glaube nicht, daß er es sehr bedauert.« Er stand auf, kam aber nicht näher. »Sieh zu, daß du zu Kräften kommst, Robin. Solange du hier in der Komturei bist, kann ich dich beschützen, aber ich weiß nicht, wie lange du noch bleiben kannst.«

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