KAPITEL 15

Während der nächsten Tage sah sie weder Bruder Abbé noch einen der anderen Tempelritter wieder, und sie durfte auch ihr Zimmer im obersten Stock des Turms nicht verlassen - angeblich, um ihre Genesung nicht zu gefährden, in Wahrheit aber wohl eher, weil Bruder Abbé daran gelegen war, sie von den anderen in der Komturei fernzuhalten. Daß sie nicht sprechen konnte, bedeutete schließlich nicht, daß sie nicht in der Lage gewesen wäre, Fragen zu beantworten. Robin war fast selbst überrascht, wieviel man sagen konnte, ohne zu sprechen - schon nach kurzer Zeit hatten Salim und sie eine Zeichensprache aus Nicken, Kopfschütteln und improvisierten Gesten entwickelt, in der sie sich regelrecht unterhalten konnten; auch wenn der Tuareg natürlich einen Großteil dieser Unterhaltung bestritt. Ihre Genesung machte in dieser Zeit weiter so erstaunliche Fortschritte, daß Bruder Tobias sie manchmal beinahe erschrocken ansah, vor allem dann, wenn er ihren Verband wechselte. Er verlor nicht ein einziges entsprechendes Wort, aber manchmal tauschte er einen besorgten Blick mit Salim, und Robin glaubte auch zu spüren, daß ihm die Schnelligkeit, mit der ihre Heilung voranschritt, fast schon ein bißchen unheimlich war. Das Essen war nach wie vor eine Qual, die ihr manchmal die Tränen in die Augen trieb, zumal Tobias darauf bestand, daß sie nicht nur Suppe zu sich nahm, sondern auch kleine Stücke aufgeweichten Brots und Gemüse, die so lange weichgekocht worden waren, bis sie sämtlichen Geschmack verloren hatten. Darüber hinaus hatte sie kaum noch Schmerzen, und die reichlichen - und vor allem regelmäßigen - Mahlzeiten, die Tobias ihr aufnötigte, sorgten dafür, daß ihre Kräfte rasch zurückkehrten. Nur ihre Stimme weigerte sich nach wie vor, ihr zu gehorchen.

Obwohl sie praktisch eine Gefangene in der Turmkammer war, entging ihr die Veränderung nicht, die mit der Komturei vonstatten ging. Sie stand oft am Fenster und sah auf das rege Treiben im Hof hinab, das am wenigsten von den Ereignissen der letzten Tage betroffen zu sein schien. Die zahlreichen Bediensteten und Knechte gingen ihrem normalen Tagewerk nach, das sich im übrigen kaum von der Arbeit auf Harks Hof unterschied, nur daß dieses Gehöft ungleich größer war. Von Salim hatte sie erfahren, daß die Komturei mehr als vierzig Menschen beherbergte, die Tempelherren und ihn nicht einmal mitgerechnet; insgesamt also beinahe mehr, als ihr ganzes Dorf Einwohner gehabt hatte.

Die Zeit, in der Abbé und die fünf anderen Tempelritter in Rüstungen und Waffen herauskamen, um zu üben, hielt sie es überhaupt nicht im Bett. Dann stand sie für eine ganze Weile wie fasziniert am Fenster, ohne auch nur einmal den Blick vom Hof zu wenden Für jeweils eine halbe Stunde schien sich der Hof in die Festung zu verwandeln, die sie erwartet hatte. Statt von Hundegebell und dem Meckern der Ziegen hallten die weißgetünchten Wände in dieser Zeit vom Klirren der Waffen und den dumpfen Schreien der Männer wider, und Robin vermochte manchmal nicht zu sagen, ob sie wirklich nur einer Übung zusah oder aus dem Spiel für kurze Augenblicke doch manchmal Ernst wurde. Besonders Abbé und Jeromé attackierten sich manchmal mit einem Ungestüm, das Robin erschreckte; einmal sogar so wütend, daß die anderen Ritter sie voneinander trennen mußten.

Und das war längst nicht alles. Es war der einzige sichtbare Vorfall, aber Robin konnte die Nervosität und Anspannung, die sich über die Komturei gelegt hatte, fast mit Händen greifen. Vielleicht war es wieder ihre Gabe, die sie vor kommendem Unheil warnte, vielleicht aber hatte etwas in ihr nur zwei und zwei zusammengezählt und die Gefahr erkannt, die ihnen allen drohte.

Es war am Abend des sechsten Tages, den sie in der Komturei zubrachte. Unter ihr im Hof prallten klirrend die Waffen der Tempelritter zusammen, und in längstens einer halben Stunde würde die Sonne untergehen. Die Schatten waren bereits länger geworden, und der Tag verabschiedete sich mit drückender Schwüle, der vielleicht später in der Nacht ein Sommergewitter folgen würde. Robin hoffte es fast. Selbst hier oben, hinter den dicken Mauern des Turms, war es unerträglich warm, und das schwere Büßergewand, das Abbé ihr gegeben hatte, machte es noch schlimmer.

Außerdem liebte sie Gewitter. Sie hatte niemals Angst vor Blitz und Donner gehabt, nicht einmal als kleines Kind, sondern war oftmals in den strömenden Regen nach draußen gelaufen, um sich darin auszutoben. Für Robin lag in dem Wüten der entfesselten Naturgewalten niemals eine Bedrohung, sondern, im Gegenteil, etwas Ehrerbietiges. Sie spürte die Urgewalt der Schöpfung im grellen Gleißen der Blitze und dem Rollen des Donners, aber sie spürte genauso, daß diese ungeheuerliche Kraft ihr nicht feindlich gesonnen war, aber auch nicht freundlich, sondern einfach da war; eine gewaltige Macht, die die gesamte Welt umspannte, von der auch sie ein Teil war. Auch wenn sie nicht verstand, wie.

»Du siehst ihnen wieder beim Kämpfen zu.« In Salims Stimme schwang ein schwacher Tadel mit, allerdings auch ein sehr viel größerer Anteil von Resignation. Er war schon vor einigen Minuten hereingekommen. Robin hatte es gehört, sich aber ganz bewußt nicht zu ihm umgedreht. Salim wußte recht gut, daß sie schon lange wieder weit genug bei Kräften war, um nicht den ganzen Tag im Bett verbringen zu müssen. Es war eine Art Spiel zwischen ihnen, das sie mittlerweile amüsierte.

Der Tuareg trat mit leisen Schritten neben sie. Der schwere Stoff seines dunkelbraunen Mantels raschelte, als sich ihre Schultern berührten. Robin hätte Platz genug gehabt, ihm auszuweichen, tat es aber nicht. Obgleich sie sich nicht einmal eine Woche kannten, empfand sie ein Gefühl des Vertrauens ihm gegenüber, das sie zuvor höchstens in der Nähe ihrer Mutter verspürt hatte, und vielleicht - ansatzweise - in der Jans.

Sie standen eine Weile stumm nebeneinander und beobachteten den vorgetäuschten Kampf der Tempelritter. Salim sagte: »Ist dir aufgefallen, daß Jeromé und Bruder Abbé seit zwei Tagen nicht mehr gegeneinander antreten?« Er lachte hart. »Wahrscheinlich haben die anderen Angst, daß sie sich gegenseitig in kleine Stücke hacken.«

Sie nickte. Zumindest einmal waren die beiden Tempelritter ernsthaft aufeinander losgegangen, und sie hatte schließlich mit eigenen Augen gesehen, welch furchtbaren Schaden schon ein einziger Hieb eines der mächtigen Breitschwerter anrichten konnte; von der noch viel furchtbareren Waffe der Templer, dem Morgenstern, ganz zu schweigen.

»Gönnen würde ich es ihm fast«, sagte Salim. Robin sah ihn fragend an, und Salim griff wie selbstverständlich nach ihrer Hand und verschränkte ihre Finger mit den seinen. Er hatte das noch nie getan. Da er praktisch nicht von ihrer Seite wich, blieb es nicht aus, daß sie sich manchmal berührten, aber diese kleine Geste jetzt war irgendwie ... anders. Robin erschauerte leicht.

»Jeromé«, fuhr Salim fort. »Abbé sollte ihm den Schädel einschlagen - oder ihn wenigstens windelweich prügeln, diesen dreimal vermaledeiten Dummkopf.«

Robins Blick wurde noch fragender. Mit der freien Hand signalisierte sie ihm in ihrer gemeinsamen Zeichensprache ein Warum?

Diesmal zögerte der Tuareg zu antworten. Bevor er es tat, warf er einen langen, prüfenden Blick auf den Hof hinab - beinahe als furchte er, daß die kämpfenden Tempelritter dort unten seine Worte hören könnten.

»Ich glaube, dir ist gar nicht klar, was dieser Narr getan hat«, sagte er schließlich. »Wenn es sich wirklich so verhält, wie es den Anschein hat, dann bleibt Gernot von Elmstatt und seinem Bluthund Otto gar keine andere Wahl, als dich zu töten - bevor du die Sprache zurückerlangst. Abbé hat mir strengstens verboten, mit dir darüber zu sprechen, aber verdammt noch mal, ich bin es dir einfach schuldig.«

Er sagte ihr absolut nichts Neues. Hätte sie es nicht ohnehin gewußt, dann hätte sie dieselben Worte vor drei Tagen in Ottos Augen gelesen. Elmstatts Waffenmeister konnte sie nicht am Leben lassen - nicht mit dem, was sie gehört und vor allem gesehen hatte. Sie machte sich über diesen Umstand im Moment allerdings keine allzu großen Sorgen. Solange sie sich in der Komturei befand, war sie in Sicherheit. Und danach... Sie dachte den Gedanken nicht zu Ende. In den letzten Tagen war so viel Neues und zum größten Teil Schlimmes über ihr Leben hereingebrochen, daß sie es aufgegeben hatte, über die Zukunft nachdenken zu wollen. Es war müßig.

Als hätte er ihre Gedanken erraten, sagte Salim: »Hab keine Angst. Solange du hier bist, kann dir nichts geschehen. Nicht einmal Otto ist verrückt genug, einen Angriff auf eine Komturei zu wagen.« Seine Stimme wurde leiser. »Solange du hier bist.«

Solange ich hier bin?

»Nicht alle sind begeistert von deiner Anwesenheit«, beantwortete Salim die unausgesprochene Frage, die er wohl in ihren Augen gelesen hatte. »Ginge es nach Xavier und Heinrich, dann hätten wir dich schon vor drei Tagen fortgebracht. Es gibt ein Kloster, nur einen halben Tagesritt von hier entfernt, in dem sich fromme Männer um die Kranken und Verwundeten kümmern. Einige hier sind der Meinung, daß du dort besser aufgehoben wärst.« Er drückte ihre Finger und lächelte aufmunternd. »Keine Angst. Ich lasse nicht zu, daß sie dich wegschicken.«

Wie wollte er es verhindern? dachte Robin. Salim war hier im Grunde weniger als sie - ein Sklave, dem Bruder Abbé aus einer Laune heraus ein gewisses Maß an Freiheit gestattete, dessen Meinung aber gar nichts zählte. Aber sie spürte die gute Absicht hinter seinen Worten. Es tat wohl, jemanden in ihrer Nähe zu wissen, der es ganz uneigennützig einfach gut mit ihr meinte.

»Außerdem kann ich dich gar nicht gehen lassen«, fuhr Salim fort. »Nicht, bevor du mir nicht zurückgegeben hast, was mir gehört.«

Es war nicht das erste Mal, daß er das sagte, und Robin wußte auch, daß sie sich jede entsprechende Frage sparen konnte - er würde ihr auch diesmal nicht erklären, was er damit meinte. Sie schnitt ihm eine Grimasse, auf die Salim mit einem übertrieben gespielten zornigen Blick reagierte. Dann lachte er, schüttelte den Kopf und sah demonstrativ wieder auf den Hof hinab.

Etwas dort unten hatte sich geändert. Abbé und die anderen Tempelritter hatten aufgehört, ihre Waffen miteinander zu kreuzen, und versammelten sich zu einem lockeren Halbkreis, um einen Mann in einer grauen Kutte zu empfangen, der im Laufschritt über den Hof herankam. Robin warf ihm nur einen flüchtigen Blick zu und sah dann zum Tor hin. Jemand kam. Und er brachte keine guten Nachrichten.

»Das ist Helge«, murmelte Salim stirnrunzelnd. »Jeromé hat ihn eingeteilt, draußen Wache zu halten.«

Das Gefühl nahenden Unheils verstärkte sich. Robin sah nur noch einen kurzen Moment zu Helge hinab, der die Ritter mittlerweile erreicht hatte und heftig gestikulierend mit ihnen zu reden begann, dann wanderte ihr Blick wieder nach Westen, zum Torhaus hin und darüber hinaus. Irgend etwas ging dort draußen vor. Etwas, das nicht gut war. Und es kam näher. Sie begann am ganzen Leib zu zittern. Salim drückte ihre Hand fester und warf ihr einen raschen, beruhigenden Blick zu, konzentrierte sich aber dann wieder ganz auf das Geschehen unten auf dem Hof. Abbé hatte sich mittlerweile ein Stück weit von den anderen Rittern entfernt und schrie unter heftigem Deuten und Armwedeln Befehle über den Hof. Robins Herz klopfte immer stärker. Sie spürte, daß dort unten etwas vorging, was mehr als nur Gefahr bedeutete.

»Da stimmt doch etwas nicht«, murmelte Salim. »Ich muß nachsehen, was los ist!«

Er wollte ihre Hand loslassen, aber Robin hielt seine Finger mit solcher Kraft fest, daß er überrascht die Stirn runzelte und sich noch einmal zu ihr herumdrehte. »Keine Angst«, sagte er. »Ich bin gleich zurück. Ich will nur nachsehen, was geschieht.«

Robin hielt seine Hand nur noch stärker fest und schüttelte verzweifelt den Kopf. Wenn sie doch nur sprechen könnte!

»Robin! So beruhige dich doch!« Salim mußte auch die andere Hand zu Hilfe nehmen, um sich mit sanfter Gewalt aus ihrem Griff zu befreien. »Was ist denn nur los mit dir?«

Robin schüttelte immer heftiger der Kopf und klammerte sich mit beiden Händen an ihn. Er durfte nicht gehen. Etwas Schreckliches würde geschehen, wenn er sie verließ!

»Robin! Bitte!« Salim griff nach ihren Handgelenken, um sich loszumachen, und von der Tür her erscholl ein übertriebenes Räuspern.

Bruder Tobias war hereingekommen und sah sie mit eindeutiger Mißbilligung in den Augen an. Er hatte niemals auch nur eine entsprechende Andeutung gemacht, aber Robin wußte, daß er es nicht gerne sah, daß Salim und sie sich nähergekommen waren. »Salim!« sagte er streng. »Was habe ich dir...«

»Helft mir, sie zu beruhigen«, unterbrach ihn Salim. »Ich weiß nicht, was mit ihr los ist!«

Der tadelnde Ausdruck verschwand von Tobias' Gesicht. Er löste sich mit einem Ruck von seinem Platz an der Tür, kam näher und zog sie mit sanfter Gewalt von Salim weg. »Was ist los mit dir, Kind?« fragte er. »Hast du Schmerzen? Hat dich etwas erschreckt?«

Robin schüttelte immer heftiger den Kopf und deutete nach draußen. Tobias reckte den Hals, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen, ließ ihre Schultern dabei aber nicht los.

»Helge ist zurückgekommen«, erklärte Salim. »Er scheint keine guten Neuigkeiten zu bringen. Ich wollte gerade nach unten gehen und nachsehen, aber sie fuhrt sich auf wie von Sinnen!«

»Geh ruhig«, sagte Tobias. »Ich gebe inzwischen auf sie acht.«

Salim verließ im Sturmschritt das Zimmer, und Robin konnte sich selbst nur noch mit Mühe davon abhalten, sich einfach loszureißen und hinter ihm herzulaufen.

»Nun beruhige dich doch, mein Kind.« Tobias ließ sich vor ihr halb in die Hocke sinken, um ihr direkt ins Gesicht zu blicken. »Was ist denn nur mit dir los? Dort draußen ist absolut nichts, wovor du dich zu fürchten brauchtest! Komm, ich zeige es dir.«

Er richtete sich wieder auf und schob sie vor sich her zum Fenster. »Siehst du?« fragte er. »Dort unten ist nichts, was dich bedrohen könnte!«

Die Sonne war weiter gesunken, und die Dämmerung legte sich wie ein graues Leichentuch über die Komturei und begann alle Farben auszulöschen. Abbé und die anderen Ritter waren zu bleichen Schemen geworden, die einen seltsam lautlosen Tanz in der Dämmerung aufzuführen schienen. Im allerersten Moment erschrak sie, als sie Salim nicht sah, dann wurde ihr bewußt, daß er noch gar nicht unten angekommen sein konnte.

Trotzdem hatte sich die Szene in den wenigen Augenblicken vollkommen verändert. Auf Abbés Befehl hin hatten die Knechte die Pferde herbeigebracht und waren jetzt dabei, sie in aller Hast aufzuzäumen, während andere hin und her hetzten, um die Waffen der Tempelherren zu bringen - wie sie von Salim wußte, übten die Ritter nicht mit den gleichen Schwertern, Schilden und Morgensternen, die sie für einen wirklichen Kampf bevorzugten. Man mußte nicht besonders scharfsinnig sein, um zu erkennen, daß sich Abbé und die anderen auf einen solchen vorbereiteten.

»Was bei allen Heiligen geht dort vor?« murmelte Tobias. »Gunthar wird doch nicht so verrückt sein, und...« Er brach mitten im Wort ab und schüttelte den Kopf. »Nein. Mach dir keine Sorgen, Robin. Wenn ein Angriff bevorstünde, würde Abbé die Komturei nicht verlassen.«

Das klang, als sagte er diese Worte nur aus dem einzigen Grund, um sie zu beruhigen. Aber Robin wußte es besser. Es stand kein Angriff bevor. Die schreckliche Gefahr, die sie spürte, lag irgendwo dort draußen. Abbé und die anderen durften den Hof auf gar keinen Fall verlassen!

Aber sie hatte keine Möglichkeit, sie zu warnen. Selbst wenn sie hätte sprechen können - die Ritter hätten bestimmt nicht auf sie gehört.

Ein erster, noch weit entfernter Blitz zerriß die hereinbrechende Nacht, und eine geraume Weile danach rollte ein gedämpftes Donnern heran.

»Ein Gewitter«, murmelte Tobias. »Endlich. Das Land braucht Regen. Und wir auch.« Dann blinzelte er. »Ist es das? Fürchtest du dich vor dem Gewitter?« Er lächelte. »Das mußt du nicht. Ein Gewitter ist nichts Böses, weißt du? Es kann dir nichts tun - wenn du ein paar einfache Vorsichtsmaßnahmen beherzigst.«

Ein zweiter Blitz und ein schon etwas rascher nachfolgender und lauterer Donnerschlag schienen seine Worte auf der Stelle ad absurdum fuhren zu wollen. Tobias fuhr ganz leicht zusammen, sah fast erschrocken zum Horizont hin und schenkte ihr dann ein zweites, noch aufmunternderes Lächeln.

»Das ist wirklich nichts, wovor du Angst zu haben brauchst«, sagte er noch einmal. »Und jetzt solltest du dich wieder beruhigen ... möchtest du einen heißen Kräutertee?«

Nein, den wollte sie ganz bestimmt nicht. Tobias' Tee hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem, den ihre Mutter ihr ein paarmal gegeben hatte, wirkte nur viel stärker. Wenn sie einen einzigen Becher davon trank, würde sie vermutlich bis morgen früh durchschlafen.

Tobias schien das für eine ausgezeichnete Idee zu halten, denn er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern nickte heftig und sagte: »Das ist genau das Richtige. Warte, ich gehe nur rasch und hole heißes Wasser.«

Er entfernte sich, und Robin wußte, daß er so bald nicht wiederkommen würde. Es gab in diesem Turm keinen Kamin und somit auch keine Feuerstelle. Der einzige Herd befand sich in der Küche, in der für beinahe fünfzig Personen gekocht wurde und die fast das gesamte Erdgeschoß des großen Wirtschaftsgebäudes auf der anderen Seite des Hofes einnahm. Er würde eine Viertelstunde brauchen, um zurückzukommen.

Unten auf dem Hof schwangen sich Abbé und die anderen in die Sättel, und Robin beugte sich weiter vor, um mehr sehen zu können. Wieder rollte dumpfer Donner über das Land, und ein erster, beinahe warmer Wassertropfen berührte ihr Gesicht. Wind kam auf. Das Gewitter näherte sich sehr schnell, und Robin war sich jetzt sicher, daß es ein wirklich schweres Unwetter werden würde.

Als Abbé den Arm hob, um seinen Begleitern das Zeichen zum Aufbruch zu geben, stürmte Salim tief unter ihr aus dem Turm und rannte mit wehendem Mantel und heftig wedelnden Armen auf die Tempelritter zu. Robin war überrascht, zu sehen, daß Abbé sein Pferd noch einmal zügelte und sich zu dem Tuareg hinunterbeugte, um mit ihm zu reden. Salim schien nicht begeistert zu sein von dem, was er hörte. Er deutete ein paarmal aufgeregt zum Turm hinauf und gestikulierte dabei immer heftiger, und auch Abbés Bewegungen drückten seinen Unmut immer deutlicher aus. Es war nicht zu übersehen, daß sie in einen heftigen Streit geraten waren - was Robin einigermaßen seltsam vorkam. Salim war nur ein einfacher Sklave, und Abbé und seine Begleiter in sichtlicher Eile. Wieso wies er ihn nicht einfach in seine Schranken oder ließ ihn kurzerhand stehen?

Bruder Abbé tat nichts dergleichen, sondern debattierte statt dessen noch eine geraume Weile weiter mit dem Tuareg, und schließlich war nicht er, sondern Salim es, der das Gespräch beendete und sich wieder herumdrehte - vielleicht aus keinem anderen Grund als dem, daß es mittlerweile stärker zu regnen begonnen hatte. Als die Reiter endlich ihre Pferde in Bewegung setzten und sich dem Tor näherten, stürzte das Wasser bereits vom Himmel, und es war spürbar kälter geworden. Am Horizont flackerten die Blitze in immer rascherer Folge, und die Donnerschläge krachten jetzt so kurz hintereinander, daß es fast wie ein einziges, ununterbrochen grollendes Rumpeln und Dröhnen klang.

Robin zog sich wieder ins Zimmer zurück, wischte sich das nasse Haar aus der Stirn und versuchte, sich über ihre widersprüchlichen Gefühle klarzuwerden. Ihr Innerstes war noch immer in Aufruhr. Vielleicht redete sie sich ja auch alles nur ein. Seit gut einer Woche befand sie sich in einem Ausnahmezustand. In diesen wenigen Tagen war beinahe mehr geschehen als in den fünfzehn Jahren ihres gesamten Lebens zuvor. Sie durfte jetzt nicht anfangen, in jeder kleinen Geste eine Verschwörung und hinter jedem Schatten einen Hinterhalt zu vermuten.

Sie sah nervös zur Tür, sagte sich aber plötzlich, daß Salim noch gar nicht zurück sein konnte. In den letzten Tagen hatte sie sich mehr als einmal gewünscht, wenigstens für eine oder zwei Stunden allein zu sein. Jetzt sehnte sie Salims Rückkehr herbei. Selbst Bruder Tobias mit seinem dreimal vermaledeiten Kräutertee wäre ihr in diesem Moment lieber gewesen als die Einsamkeit, die ganz plötzlich zu ihrem Feind geworden war.

Ein plötzliches, blauweißes Flackern erhellte die Kammer und ließ Robin erschrocken die Augen zusammenpressen. Als es erlosch, war die Dunkelheit ungleich intensiver. Der dazugehörige Donnerschlag erfolgte fast augenblicklich. Das Gewitter schien nun fast unmittelbar über der Komturei zu toben.

Trotzdem ging sie noch einmal zum Fenster, hob schützend die Hand vors Gesicht und sah hinaus. Der Hof war menschenleer. Der Wind war nicht nur spürbar kälter geworden, sondern hatte deutlich an Kraft zugenommen und peitschte den Regen in dichten Schwaden über den Hof; wie große, silberne Spinnweben, die beständig ihre Form wechselten. Eine einsame Gestalt in einer vor Nässe triefenden Kutte hastete mit gesenktem Kopf durch den Regen, das war alles.

Als Robin vom Fenster zurücktrat und sich herumdrehte, erhellte ein weiterer, greller Blitz die Kammer. In dem jäh auflodernden weißblauen Licht erkannte sie eine riesenhafte, schwarze Gestalt, die im Türrahmen erschienen war und drohend auf sie herabsah.

Robin prallte erschrocken zurück, schlug die Hand vor den Mund und schalt sich gleich darauf in Gedanken eine Närrin. Natürlich war es weder ein Riese noch ein Dämon, sondern nur Salim, der zurückkam, um ihr Bericht zu erstatten. Licht und Schatten hatten ihre Augen genarrt, das war alles. Sie atmete erleichtert auf und machte einen Schritt auf den Tuareg zu, und die faustgroße Eisenkugel eines Morgensterns schlug Funken und Steinsplitter genau dort aus der Wand, wo sich ihr Kopf befunden hätte, wäre sie stehengeblieben.

Robin keuchte vor Schrecken, warf sich zur Seite und prallte schmerzhaft mit der Hüfte gegen die Bettkante. Sie strauchelte, versuchte ihren Sturz abzufangen und warf sich dann statt dessen mit aller Kraft nach vorne, als sie spürte, daß es ihr nicht gelingen würde. Sie vollführte eine mehr unfreiwillige, trotzdem aber sehr schnelle Rolle übers Bett, in dem sie die letzten sechs Nächte verbracht hatte, griff Halt suchend um sich und landete einen halben Meter tiefer auf dem harten Steinboden. Der Aufprall trieb ihr die Luft aus den Lungen, aber der Sturz rettete ihr vermutlich das Leben, denn der Angreifer hatte keineswegs aufgegeben. Der Morgenstern sauste wuchtig auf das Bett hinab und zertrümmerte es. Holzsplitter, zerrissener Stoff und Stroh regneten auf sie herab, und zum ersten Mal gab der unheimliche Angreifer einen Laut von sich: Ein unwilliges Knurren, wie das eines tollwütigen Hundes, dem seine schon sicher geglaubte Beute im letzten Moment doch noch zu entkommen drohte.

Irgendwie gelang es Robin, wenigstens halbwegs auf die Füße zu kommen, während der Angreifer noch damit beschäftigt war, seine Waffe aus den Überresten des zusammengebrochenen Bettes zu befreien. Sie stolperte in Richtung Tür, prallte im Dunkeln und orientierungslos vor Angst erneut gegen ein Hindernis und wurde zur Seite geworfen. Hinter ihr näherten sich schwere Schritte. Metall klirrte. Robin warf sich blindlings zur Seite, zog den Kopf zwischen die Schultern und betete, daß sie die richtige Richtung gewählt hatte. Der Morgenstern zertrümmerte den Tisch, gegen den sie gerade gestolpert war, und erneut hörte sie dieses wütende, fast tierhafte Knurren.

Das Flackern eines Blitzes zeigte ihr, daß sie auf dem besten Wege war, gegen die Wand neben der Tür zu rennen. Sie warf sich blitzschnell nach links, spürte eine Bewegung hinter sich und wurde von etwas an der Schulter getroffen; nicht der tödlichen Wucht des Morgensterns, sondern etwas Weicherem, dessen Wucht aber trotzdem ausreichte, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen und ungeschickt gegen die Wand prallen zu lassen; vermutlich eine Hand. Robin rollte keuchend herum, riß die Arme vor das Gesicht und sah die Gestalt des Angreifers riesig und verzerrt über sich emporwachsen. Sein Gesicht war mit einem schwarzen Tuch maskiert, so daß sie es nicht erkennen konnte, aber seine Augen blickten mit einer Mischung aus Haß und kalter Entschlossenheit auf sie herab.

Robin wollte sich zur Seite werfen, aber der Mann stieß sie mit solcher Kraft wieder gegen die Wand, daß ihr die Luft wegblieb. Er war zu nahe, um seine heimtückische Waffe einzusetzen, also schlug er ihr mit der flachen Hand so wuchtig ins Gesicht, daß ihr Kopf gegen die Wand prallte und sie halb benommen in die Knie sank. Er schob den Morgenstern unter seinen Gürtel und zog statt dessen einen schmalen, beidseitig geschliffenen Dolch mit einer mehr als handlangen Klinge. Mit einer raschen Bewegung griff er brutal in ihr Haar, riß sie daran in die Höhe und zielte mit dem Dolch in der anderen Hand auf ihr Herz.

Robin trat nach seinem Knie. Sie traf, aber da er unmittelbar vor ihr stand, tat sie ihm wahrscheinlich nicht einmal weh. Immerhin brachte sie ihn aus dem Gleichgewicht, und da sie im gleichen Moment in einer verzweifelten Bewegung den Oberkörper zur Seite drehte, traf das Messer nicht ihr Herz, sondern schrammte nur an ihrem Oberarm entlang und hinterließ eine heftig brennende Spur auf ihrer Haut. Der Kerl grunzte wütend, ließ ihr Haar los und versuchte statt dessen, nach ihrem Gesicht zu greifen.

Robin biß ihm in die Hand. Ihre Zähne gruben sich in seine Finger und preßten mit aller verzweifelten Kraft zu. Der Mann brüllte vor Schmerz, warf sich zurück und versuchte sich loszureißen, aber Robin biß nur noch kräftiger zu. Sie schmeckte Blut und konnte spüren, wie seine Knochen unter dem Druck ihrer Kiefer knackten, und vermutlich hätte sie ihm tatsächlich einen oder gar mehrere Finger abgebissen, hätte er ihr nicht in diesem Moment mit der anderen Hand einen Hieb vor die Schläfe versetzt, der ihr fast das Bewußtsein raubte.

Für einen Moment war sie wehrlos. Sie wankte. Alles drehte sich um sie, und sie brach nur deshalb nicht zusammen, weil sie schon halb besinnungslos an der Wand lehnte. Hätte der Angreifer den Moment ausgenutzt, hätte er sie töten können, ohne daß sie auch nur Widerstand leistete.

Der Bursche verzichtete aber darauf. In dem immer hektischer werdenden Flackern der Blitze sah sie, daß auch er zwei, drei Schritte zurückgetaumelt war und die Hand unter die linke Achsel gepreßt hatte. Er krümmte sich vor Schmerz. Der Dolch war seiner anderen Hand entglitten und zu Boden gefallen. Seine Spitze war abgebrochen, als er gegen die Wand geprallt war.

»Verdammt! Miststück!« stöhnte er. »Du hast mir fast die Hand abgebissen! Das wirst du mir bezahlen! Ich wollte es schnell tun, aber jetzt wirst du leiden!« Er lachte. »Schreien kannst du ja nicht, nicht wahr?«

Das Dröhnen hinter Robins Schläfen ließ allmählich nach. Ihr Herz hämmerte, als wolle es zerspringen, und sie zitterte noch immer am ganzen Leib, aber ihre Kräfte kehrten rasch wieder zurück. Trotzdem blieb sie in unveränderter Haltung stehen und tat so, als könne sie sich nur noch mit letzter Kraft auf den Beinen halten. Sie hatte nur noch eine einzige, verzweifelte Chance.

Und sie nutzte sie.

Der Angreifer kam wieder näher, maß sie mit einem lauernden Blick und bückte sich, um seinen Dolch aufzuheben. Robin legte jedes bißchen Kraft, das ihr noch geblieben war, in eine einzige verzweifelte Bewegung und trat ihm ins Gesicht.

Der Mann brüllte vor Überraschung und Schmerz und kippte nach hinten, und Robin stieß sich von der Wand ab, sprang mit dem Mut der Verzweiflung einfach über ihn hinweg und stürmte aus der Tür.

Nach drei Schritten prallte sie gegen eine Gestalt, die scheinbar aus dem Nichts vor ihr auftauchte.

Diesmal verlor sie das Gleichgewicht. Sie prallte ungeschickt gegen die Wand und fiel auf die Knie herab. Etwas Heißes spritzte auf ihre Hände und ihr Gesicht, und in der Dunkelheit vor ihr erscholl ein wütender Fluch. »Was zum Teufel...?«

Zwei grelle Blitze flammten nahezu gleichzeitig auf und enthüllten ihr die Gestalt von Bruder Tobias, der dicht vor ihr mit fast komisch aussehenden Bewegungen um sein Gleichgewicht kämpfte - ein Unterfangen, das noch zusätzlich dadurch erschwert wurde, daß er einen Krug mit einer dampfend heißen Flüssigkeit in den Händen balancierte. Ein unglaublich lauter, rollender Donnerschlag verschluckte den Rest seiner Worte und bewahrte ihn so davor, sich noch weiter zu versündigen.

Mit einiger Mühe fand er sein Gleichgewicht wieder, und Robin rappelte sich mühsam hoch und sah hinter sich. Von dem Angreifer war noch nichts zu sehen, aber sie konnte in den Pausen zwischen den Donnerschlägen hören, wie er aufstand und sich polternd durch das Zimmer bewegte. Sie wollte weiterrennen, aber Tobias griff blitzschnell zu und hielt sie mit überraschender Kraft fest.

»Kind, was ist denn nur los?« keuchte er. »So beruhige dich doch! Du bist ja vollkommen...«

Er brach ab. Ein grellweißer Blitz zerriß die Nacht außerhalb des Turms und verwandelte sein Gesicht in eine wächserne Totenmaske, deren schreckgeweitete Augen auf einen Punkt irgendwo hinter ihr gerichtet waren. Robin riß sich endgültig los, fuhr in der gleichen Bewegung herum und sah den maskierten Angreifer mit gewaltigen Schritten auf sich zustürmen. Seine rechte, heftig blutende Hand hielt jetzt wieder den Morgenstern, dessen stachelbewehrte Kugel sich in ein silbern fließendes, tödliches Rad dicht über seinem Kopf verwandelt hatte. Er war noch zwei Schritte entfernt, dann noch einen, und Bruder Tobias reagierte mit einer Schnelligkeit und vor allem Kaltblütigkeit, die sie ihm niemals zugetraut hatte.

Mit einem blitzschnellen Schritt trat er zwischen sie und den maskierten Mörder, hob seinen Krug und schüttete ihm dessen brühheißen Inhalt ins Gesicht. Der Angreifer heulte vor Schmerz auf und kam ins Stolpern. Die Kugel seines Morgensterns prallte gegen die Wand, und die Waffe wurde ihm aus der Hand gerissen und hätte ihn um ein Haar am Kopf getroffen, als sie davonflog.

Bruder Tobias machte einen hastigen Schritt zur Seite, als der Bursche an ihm vorbeistolperte, hob seinen Krug und schlug ihn der maskierten Gestalt mit solcher Gewalt auf den Schädel, daß er zerbrach. Der Angreifer fiel mit weit vorgestreckten Armen aufs Gesicht, schlitterte noch ein kleines Stück weiter und blieb benommen liegen. Tobias ergriff Robins Arm und zerrte sie so schnell hinter sich her auf die Treppe zu, daß sie ins Stolpern geriet und beinahe gestürzt wäre.

»Schnell!« keuchte er. »Die Treppe hinunter! Lauf!« Robin fand mit einiger Mühe ihr Gleichgewicht wieder, hatte aber trotzdem Schwierigkeiten, mit Tobias Schritt zu halten. Der Mönch war alt genug, um ihr Großvater sein zu können, vermochte sich aber behender und schneller zu bewegen als sie.

Über ihnen erscholl plötzlich ein wütendes Gebrüll, das sich mit dem nunmehr fast ununterbrochen rollenden Donner vermischte und Robin schier das Blut in den Adern gerinnen ließ. Sie warf einen gehetzten Blick über die Schulter zurück und sah, wie der Angreifer die oberste Stufe heruntertaumelte und hastig nach dem Geländer griff, als er das Gleichgewicht zu verlieren drohte. Er brüllte ununterbrochen vor Wut und Schmerz; keine Worte, sondern nur ein unartikuliertes, keuchendes Geschrei, das ihm auch noch den Rest jeglicher Menschlichkeit nahm.

»Schneller!« keuchte Tobias. »Lauf! Warte nicht auf mich!« Noch ehe Robin wirklich begriff, was er überhaupt meinte, ließ Tobias ihr Handgelenk los, ergriff sie aber unmittelbar darauf am Ellbogen und schob sie so schwungvoll an sich vorbei die Treppe hinunter, daß sie schon wieder um ihr Gleichgewicht kämpfen mußte. Sie legte den Rest des Treppenabsatzes unfreiwillig zurück, indem sie immer zwei, manchmal auch drei Stufen auf einmal übersprang, und fand ihre Balance erst auf dem nächsten Absatz ungeschickt wieder. Sie hielt nicht an, sondern stürmte mit unvermindertem Tempo weiter, sah sich aber im Laufen um.

Tobias stürmte hinter ihr die Treppe herab, war aber schon ein gutes Stück zurückgefallen und entfernte sich immer weiter, obwohl sie wußte, daß er sie mit Leichtigkeit hätte einholen können.

Sie wußte auch genau, warum, und der Gedanke erfüllte sie mit einem Gefühl hilflosen Entsetzens. Sie wollte nicht, daß dieser sanftmütige alte Mann sich für sie opferte, aber alles ging so entsetzlich schnell. Die Dinge schienen sich auf furchtbare Weise verselbständigt zu haben, als wäre ihr freier Wille einfach ausgeschaltet und sie selbst nicht mehr als Teil eines Geschehens, dessen Verlauf und Ende längst festgelegt waren. Sie war nicht fähig, stehenzubleiben oder auch nur langsamer zu laufen. Keuchend erreichte sie den nächsten Absatz, griff nach dem Treppengeländer und sprintete die Stufen hinab. Hinter ihr schienen Tobias und der maskierte Verfolger einen bizarren Totentanz aufzuführen. Blitze zuckten in immer rascherer Folge und tauchten die Treppe in einen Wechsel aus grellem Licht und vollkommener Schwärze, so daß die beiden Männer zu verschwimmen und manchmal zwei, manchmal drei Stufen weiter unten aufzutauchen schienen, wie Dämonen, die aus ihrem Gefängnis im tiefsten Schlund der Hölle ausgebrochen waren.

Sie hatte fast die Hälfte des Weges nach unten zurückgelegt, als der Maskierte Tobias einholte. Er stieß ihn einfach zur Seite, als hätte er gar kein Interesse an ihm. Tobias prallte gegen das Treppengeländer, streckte aber trotzdem die Hand aus und krallte sich in den Mantel des Maskierten.

Der Mann riß sich los, kam ins Stolpern und verlor endgültig das Gleichgewicht, als Tobias sich auf ihn warf. Die beiden Männer stürzten aneinander geklammert die Treppe herunter.

»Lauf!« brüllte Tobias noch im Fall. »Versteck... dich!«

Ein weiterer Blitz zuckte auf, und Robin sah das rasche, silberne Schimmern von Stahl, dann hatte sie die nächste Treppe erreicht und jagte sie hinunter, so schnell sie nur konnte. Über ihr erscholl ein Schrei, dann polterten schwere Schritte. Robin jagte wie von Furien gehetzt weiter, erreichte die nächste Treppe und wieder die nächste. Endlich hatte sie das Erdgeschoß und somit den Ausgang erreicht. Vom Schwung ihrer eigenen Bewegung getragen, jagte sie hinaus in den peitschenden Regen. Kalter Schlamm spritzte unter ihren Füßen auf. Sie strauchelte, riß schützend die Hände vor das Gesicht und stolperte beinahe blind weiter.

Es war vollkommen dunkel geworden. Das blau schimmernde Weiß der fast ununterbrochen zuckenden Blitze brach sich in den niederprasselnden Regenschleiern und verwandelte sie in dicht gewobene Vorhänge aus Silber, hinter denen alles verschwand, das weiter als drei oder vier Schritte entfernt war. Sie konnte keines der anderen Gebäude der Komturei sehen. Selbst der Turm, aus dem sie gerade gestürmt war, war zu einem Schemen verblaßt, der im fast regelmäßigen Auflodern der Blitze erschien und wieder verschwand.

Der Angreifer war verschwunden. Vermutlich befand er sich nur noch wenige Schritte hinter ihr, konnte sie aber im Toben der entfesselten Naturgewalten so wenig sehen wie sie ihn. Sie mußte in Bewegung bleiben. Laufen. Sich irgendwo verstecken. Bruder Tobias' Opfer durfte nicht umsonst gewesen sein.

Sie rannte jetzt nicht mehr mit verzweifelter Kraft weiter, sondern fiel in einen langsameren und - wie sie hoffte - kräftesparenden Trab. Sie würde nicht mehr lange durchhalten. Ihr Herz hämmerte. Ihre Lungen brannten bei jedem Atemzug, und sie schmeckte schon wieder ihr eigenes, bitteres Blut. Ihre Glieder schienen sich in Blei verwandelt zu haben. Wenn sie vor Erschöpfung zusammenbrach, dann würde der Mann sie finden und zu Ende bringen, was er oben im Turm angefangen hatte.

Der Hof schien viel größer geworden zu sein, als sie ihn in Erinnerung hatte. Robin stolperte durch den eisigen Regen, sah sich wieder gehetzt um und betete, daß sie endlich auf eine Mauer stoßen würde, eine Tür, Menschen.

Statt dessen prallte sie jählings mit der Schulter gegen rauhen Stein, riß erschrocken die Arme in die Höhe und kippte nach vorne, während ihre Hände ins Leere griffen. Sie schlug schwer auf dem festgestampften, aber trockenen Boden auf, rollte keuchend auf die Seite und sah im flackernden Licht der Blitze, daß sie den Hof auf ganzer Länge überquert hatte. Fünf Meter über ihrem Kopf erhob sich das gemauerte Gewölbe des Torbogens.

Robin stemmte sich mühsam in die Höhe. Sie war so schwach, daß sie mit beiden Händen an der Wand Halt suchen mußte, um nicht sofort wieder zu stürzen. Trotzdem schob sie sich Schritt für Schritt weiter an der Wand entlang. Sie hatte Angst, das Bewußtsein zu verlieren, und ihrer allerersten Erleichterung, vermeintlich in Sicherheit zu sein, folgte eine rasche und um so größere Ernüchterung.

Sie war alles andere als in Sicherheit. Ganz im Gegenteil. Der Mörder konnte es sich nicht leisten, lange nach ihr zu suchen. Wenn er ihre Spur auf dem vom Regen aufgeweichten Hof verloren hatte, dann würde er die Komturei verlassen - und zweifellos durch genau dieses Tor. Sie hatte sich selbst in eine tödliche Falle hineinmanövriert.

Aber sie brauchte einfach eine Pause, und sei es nur eine einzige, kostbare Minute. Das jenseitige Ende des Torweges war noch fünf oder sechs Schritte entfernt, aber ihre Kraft reichte einfach nicht mehr, diese geringe Entfernung zurückzulegen.

Sie blieb stehen. Jeder Atemzug brannte wie Feuer in ihren Lungen, und der gesamte Torweg schien plötzlich nach links wegzukippen und sich dann jäh in die entgegengesetzte Richtung zu neigen. Robin fiel schwer auf die Knie.

Als der Schwindelanfall vorbei war, sah sie die Gestalt.

Im flackernden Licht der Blitze schien es, als wäre der Torweg durch einen silbernen Vorhang verschlossen, und die riesenhafte Gestalt ihres Verfolgers tauchte wie ein leibhaftiger Todesengel aus dem versilberten Wasserfall auf. Er stockte einen Moment, überrascht, sie zu sehen, dann fuhr er erschrocken zusammen und stürmte auf sie los.

»Robin! Bei Allah, was ...?«

Robin hob mühsam den Kopf. Der Mann beugte sich über sie, aber es war nicht ihr Verfolger. Es war Salim. Sein Gesicht glänzte vor Nässe, und in seinen Augen flackerte etwas, das zwischen Panik und Sorge schwankte. »Was ist denn nur geschehen? Du ... bei Allah, du blutest ja!«

Er wollte nach ihrem verletzten Arm greifen, aber Robin schüttelte müde den Kopf. »Nicht... schlimm«, krächzte sie. »Mörder. Bruder Tobias... tot.«

Ihre Stimme war kaum zu verstehen; ein heiseres, qualvolles Krächzen, und jedes Wort war eine pure Qual und schien ihre Kehle zu zerreißen.

Salims Augen weiteten sich. »Du kannst...« Er fuhr zusammen wie unter einem Peitschenhieb. »Was sagst du?«

»Mörder«, krächzte Robin noch einmal. »Im... Turm.« Sie wußte noch nicht einmal, ob Salim sie überhaupt verstand. Ihre Stimme hatte keinerlei Ähnlichkeit mehr mit der, an die sie sich erinnerte, und hörte sich in Salims Ohren wahrscheinlich eher wie ein Schrei an. Aber er begriff immerhin, daß etwas nicht stimmte. Sein Kopf flog in den Nacken, und seine rechte Hand senkte sich in einer blitzschnellen Bewegung zum Gürtel. Sie griff ins Leere, aber die Bewegung kam so schnell und selbstverständlich, daß selbst Robin in ihrem geschwächten Zustand begriff, daß er dort normalerweise eine Waffe trug.

Für die Dauer von zwei oder drei Herzschlägen starrte er konzentriert in den silbernen Vorhang aus Regen, dann stand er mit einem Ruck auf, beugte sich noch einmal vor und hob Robin, scheinbar ohne Anstrengung, auf die Arme. Sie versuchte schwach, sich zu wehren. Es war absurd, aber selbst jetzt war es ihr noch unangenehm, auf Hilfe angewiesen zu sein. Salim ignorierte ihre ohnehin nur symbolische Gegenwehr allerdings, drehte sich auf dem Absatz herum und trug sie zu einer schmalen Tür in der Mitte des Torbogens. Er stieß sie mit der Schulter auf, trat gebückt in den vollkommen dunklen Raum dahinter und lud Robin behutsam auf dem harten Steinboden ab.

»Du bleibst hier liegen«, sagte er eindringlich. »Ganz egal, was passiert oder was du hörst. Ich schlage Alarm und schicke jemanden, der dich abholt.«

Robin wollte ihn zurückhalten, aber Salim hatte sich bereits herumgedreht und warf die Tür hinter sich zu. Vollkommene Dunkelheit schlug über Robin zusammen; zuerst über ihrem Körper, aber nur einen kurzen Moment später auch über ihren Gedanken.

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