KAPITEL 13

Zum erstenmal seit zwei Tagen durfte sie ihr Gefängnis verlassen - nicht allein, sondern in Begleitung Salims und Bruder Tobias. Im ersten Moment war sie fast ein wenig beleidigt. Nachdem sie gut und gerne achtzehn Stunden hintereinander geschlafen hatte, fühlte sie sich ausgeruht und bei Kräften wie schon seit langem nicht mehr und kam sich deshalb ein bißchen gegängelt vor. Vielleicht war es auch einfach so, daß Bruder Abbé ihr nicht traute. Er bemühte sich zwar - vor allem im Beisein anderer - den väterlichen Beschützer herauszukehren, aber sie spürte, daß sich hinter dieser Freundlichkeit, auch wenn sie durchaus echt sein mochte, noch etwas anderes verbarg. Vielleicht machte sie ihn einfach nur nervös. Aber vielleicht war da auch noch mehr. Mit großer Wahrscheinlichkeit war es einfach so, daß sie eine zumindest potentielle Bedrohung für Abbé darstellte, denn immerhin war sie nun die einzige, die das kannte, was Jan Abbés schmutziges kleines Geheimnis genannt hatte.

Schon auf halbem Wege nach unten wich ihr Groll jedoch der Einsicht, daß sie vielleicht gut daran getan hatte, ihr Zimmer nicht allein zu verlassen. Die neue Kraft, die sie spürte, erwies sich nämlich als äußerst trügerisch. Der Turm hatte sieben oder acht unterschiedlich hohe Etagen, und ihre Energie reichte nicht einmal, die Hälfte dieser Strecke zu überwinden. Sie bekam - wenigstens am Anfang - nicht viel von der Umgebung zu sehen, auf die sie so neugierig gewesen war. Eine einfache Holztreppe, deren Stufen noch dazu unterschiedlich hoch waren, führte an ausnahmslos verschlossenen Türen vorbei in engen Kehren nach unten. Die Wände mußten einmal weiß gewesen sein, starrten aber nun mancherorts geradezu vor Schmutz, und in der Luft lag der trockene Geruch nach Kleie und altem Hühnerdreck. Hätte sie es nicht besser gewußt, so hätte sie angenommen, sich auf einem Bauernhof oder einem alten Gut zu befinden - aber wer hätte je von einem Bauerngehöft mit einem fünfzehn Manneslängen hohen Turm gehört?

Bevor sie losgegangen waren, hatte Salim ihr angeboten, sie die Treppe hinunterzutragen; etwas, das sie natürlich empört von sich gewiesen hatte. Verletzt oder nicht, sie war schließlich kein kleines Kind mehr. Doch bevor sie die halbe Treppe hinter sich gebracht hatte, wünschte sie sich fast, sein Angebot angenommen zu haben, und als sie im ersten Stock angelangt waren, zitterten ihre Knie so stark, daß sie sich hinsetzen mußte, um einen Moment auszuruhen.

»Wenn es nicht geht, dann gehe ich zu Bruder Abbé und sage ihm, daß er auf deine Hilfe verzichten muß«, sagte Bruder Tobias ernst. Robin schüttelte den Kopf, aber er fuhr unbeirrt fort: »Ich weiß, daß du glaubst, ihm diesen Gefallen schuldig zu sein - aber nichts ist so wichtig, daß es sich lohnt, sein Leben dafür aufs Spiel zu setzen.«

So, wie er es sagte, klangen seine Worte wirklich überzeugend, und Robin mußte wieder an den nicht ganz ernst gemeinten Streit zwischen ihm und Abbé denken, dessen Zeuge sie vor ein paar Tagen geworden war. Sie war aber plötzlich gar nicht mehr so sicher, daß es sich tatsächlich nur um ein scherzhaftes Geplänkel gehandelt hatte. Zweifellos war Bruder Abbé derjenige, der hier das Sagen hatte - aber ebenso zweifellos endete seine Autorität dort, wo es um das Wohl derer ging, die ihr Leben und ihre Gesundheit in Tobias' Hände gelegt hatten. Zumindest schien der Mönch mit den schlanken Händen und dem asketischen Gesicht fest entschlossen, es schlimmstenfalls auf eine Konfrontation ankommen zu lassen.

Das wollte sie nicht. Tobias hatte ihr das Leben gerettet. Abgesehen von ihrer Mutter war er vielleicht der einzige Mensch auf der Welt, der jemals ganz selbstlos etwas für sie getan hatte. Sie stand schon jetzt so tief in seiner Schuld, daß der Rest ihres Lebens wohl nicht reichen würde, um sie wieder zurückzuzahlen. Sie gab ihm mit Gesten zu verstehen, daß mit ihr alles in Ordnung sei und sie nur einen Moment brauchte, um wieder zu Atem zu kommen.

»Wie du willst«, sagte Tobias. Er wirkte wenig begeistert, versuchte aber nicht noch einmal, sie zu überreden. »Aber wir haben nicht sehr viel Zeit. Abbés Officium liegt auf der anderen Seite des Hofes, und es ist schon fast Zeit für das Gebet.«

Robin streckte die Hand nach dem Treppengeländer aus, um sich in die Höhe zu ziehen, aber nun kam ihr Salim zur Hilfe.

»Dann eilt Euch doch, um rechtzeitig zu Eurem Gebet zu kommen, Tobias«, sagte er. »Ich bleibe hier bei ihr, bis sie wieder zu Kräften gekommen ist.«

Tobias wirkte unschlüssig. »Bruder Abbé hat mir eindeutig aufgetragen, sie nicht aus den Augen zu lassen«, sagte er.

»Aber ich bin doch Euer Auge und Euer Ohr«, sagte Salim lächelnd. »Wovor fürchtet Ihr Euch? Daß ich sie entführe und ein Lösegeld für sie fordere? Oder daß ihre Genesung plötzlich auf wundersame Weise Fortschritte macht und sie sich auf ein Pferd schwingt und davonreitet?« Er schüttelte den Kopf. »Geht zu Euren Brüdern und betet mit ihnen zusammen zu Eurem Christengott, Tobias - bevor Ihr am Ende noch eine Sünde begeht, für die Ihr in der Hölle schmoren müßt.«

Er lachte bei diesen Worten, aber es war seltsam: Für einen ganz kurzen Moment schien es Robin, als hätte sich alles ins Gegenteil verkehrt, als wäre plötzlich er der Herr und Tobias der Sklave. Irgend etwas, das sich hinter seinem fast kindlichen Lachen verbarg, machte seine Worte zu einem Befehl, dem Tobias nahezu widerspruchslos gehorchte.

»Also gut«, sagte er. »Aber du haftest mit deinem Leben dafür, daß sie im Officium ist, sobald wir das Gebet beendet haben.«

»Das werde ich«, versprach Salim feierlich, senkte sein Haupt und fügte halblaut und mit einem Grinsen in Robins Richtung hinzu: »Was immer das Leben eines Sklaven wert sein mag.«

»Hüte deine Zunge, Sarazene«, grollte Tobias. »Bevor du sie verlierst.«

Er ging, am Anfang noch langsam und gemessenen Schrittes, dann, kaum daß er außer Sichtweite war, polterte er regelrecht die Treppe hinunter und schien zu rennen. Robin hatte keine Ahnung von den Gepflogenheiten der Tempelritter, aber ein Gebet mußte hier wohl einen vollkommen anderen Stellenwert haben, als sie es gewohnt war.

»Ich dachte schon, er geht gar nicht mehr!« Salim ließ sich mit einem Seufzen auf die gleiche Treppenstufe sinken wie Robin und blickte stirnrunzelnd in die Richtung, in der Tobias verschwunden war.

»Wie ist es - reicht dir eine kleine Pause, oder soll ich dich den Rest des Weges tragen? Es macht mir nichts aus. Ich bin stark genug.«

Robin schüttelte heftig den Kopf, und Salim lachte. »Du gefällst mir, weißt du das? Du könntest fast eine Tuareg-Frau sein. Natürlich sind sie viel schöner, als ein Christenweib jemals sein könnte - aber du bist genauso stolz und stark wie eine von uns.« Er schwieg einen Moment, dann fuhr er fort: »Wenn wir eure Eroberungsheere endlich geschlagen haben und unsererseits hierherkommen, um euch den wahren Glauben zu bringen - was zweifellos in wenigen Jahren der Fall sein wird -, dann werde ich dich in meinem Harem aufnehmen. Natürlich nicht als meine Lieblingsfrau, aber...«

Was immer er noch hatte sagen wollen, ging in einem schmerzerfüllten Japsen unter, als Robin ihm wuchtig den Ellbogen in die Rippen stieß. Salim keuchte, rutschte hastig so weit von ihr weg, wie es auf der schmalen Treppe möglich war, und rieb sich die Seite.

»Oder vielleicht auch nicht«, murrte er.

Robin mußte lachen, ob sie wollte oder nicht. Salim war ihr immer noch ein bißchen unheimlich, aber vielleicht lag das nur an seinem fremdartigen Äußeren - und natürlich an dem Umstand, daß er ein Heide war.

Sie streckte erneut die Hand nach dem Geländer aus. Salim sprang rasch auf, um ihr zu helfen, sagte aber trotzdem: »Wir haben Zeit. Die Gebete unserer Wohltäter dauern immer endlos. Ich habe nie verstanden, wie ihr auch nur eine einzige Stadt erobern konntet - wo ihr doch fast den ganzen Tag mit Beten beschäftigt seid.«

Er griff nach Robins Hand, zog sie mit einer kraftvollen Bewegung in die Höhe und legte vielleicht ein wenig zu viel Schwung in die Bewegung, denn Robin kam zwar auf die Füße, verlor aber prompt das Gleichgewicht und stürzte gegen ihn. Salim legte rasch den Arm um sie und hielt sie fest - ein wenig zu fest nach Robins Dafürhalten, und mehr als nur ein wenig zu lang. Für einen Moment waren sich ihre Gesichter ganz nahe, so nahe, daß Robin stieß ihm die flachen Hände so kräftig vor die Brust, daß Salim sie nicht nur losließ, sondern auch überrascht einen Schritt nach hinten taumelte und um ein Haar tatsächlich die Treppe heruntergefallen wäre.

»He!« protestierte er. »Warum so grob? Ich wollte doch nur... mein Eigentum zurück!«

Nicht, daß Robin verstand, was er damit meinte - aber sie glaubte sehr wohl zu wissen, was er von ihr wollte. Sie hätte nicht einmal sagen können, ob es ihr unangenehm war oder nicht.

Aber nicht jetzt. Es war zu früh. Viel zu früh.

Sie deutete die Treppe hinab, und Salim hob die Schultern; enttäuscht, aber vielleicht auch ein bißchen trotzig. »Ganz wie du meinst. Wenn du es nicht abwarten kannst, zu deinen frommen Freunden zu kommen...«

Sie gingen weiter. Salim war nicht gekränkt genug, um seine Pflichten zu vernachlässigen, und stützte sie, bis sie das Ende der Treppe erreicht hatten und aus dem Turm hinaus ins Freie traten.

Robin blinzelte. Die Sonne stand hoch an einem wolkenlosen Himmel, und es kam ihr ungewöhnlich warm vor, selbst für einen Hochsommertag. Robin beschattete die Augen mit einer Hand, während Salim das Gesicht direkt in die Sonne hob; wie jemand, der nach einem viel zu langen Winter endlich wieder einmal einen sonnigen Morgen erlebte.

»Dort drüben.« Salim deutete auf ein langgestrecktes Gebäude auf der anderen Seite des Hofes. »Schaffst du das?«

Robin war nicht ganz sicher, aber sie nickte trotzdem. Sie fühlte sich schwach, aber die wärmenden Strahlen der Sonne und die überraschend klare, sauerstoffreiche Luft taten ihr ungemein wohl. Ihr wurde erst jetzt richtig bewußt, wie stickig und düster es trotz des großen Fensters in Tobias' Turmkammer gewesen war.

Während sie auf Salims Arm gestützt langsam über den Hof ging, sah sie sich neugierig um. Das Anwesen war groß, aber vollkommen anders, als sie erwartet hatte. Nach allem, was sie von Abbé - und vor allem von Jan! - gehört hatte, hatte sie sich diese Komturei nicht anders denn als eine gewaltige Trutzburg vorgestellt, zehnmal so groß wie Burg Elmstatt (die sie ebenfalls noch nie gesehen hatte und nur aus Erzählungen kannte), mit gewaltigen Türmen und trutzigen, zinnengekrönten Mauern, auf deren Wehrgängen hunderte schwergepanzerte Ritter patrouillierten. Was sie sah, war allerdings das genaue Gegenteil: Ein zwar großer, mit Ausnahme des Turms aber ganz gewöhnlicher Bauernhof, der von einem halben Dutzend Stallungen, Scheunen, Remisen und Wirtschaftsgebäuden gebildet wurde, sowie dem zweistöckigen Haus, zu dem Salim sie jetzt führte und von dem sie nicht genau sagen konnte, ob es sich nun um eine Kirche, ein ganz normales Wohnhaus oder eine sonderbare Mischung aus beidem handelte. Die einzige Bewegung, die sie im Moment wahrnahm, wurde von einem struppigen Hund und einem Dutzend Hühnern verursacht, die auf dem Hof nach Futter pickten. Es roch nach Mist, schmorender Holzkohle und frisch gemähtem Heu. Wo waren all die Ritter? Wo waren die Krieger, von denen Jan erzählt hatte, das mächtige Heer, das hier ausgebildet wurde, um das Heilige Land und die Stadt Christi aus der Tyrannei der Muselmanen zu befreien?

Salim registrierte ihre neugierigen Blicke, deutete sie aber vollkommen falsch. »Sieh dich nur gründlich um«, sagte er. »Diese Gelegenheit wirst du so schnell nicht wieder bekommen. Normalerweise darf keine Frau diesen Ort betreten. Deine gottesfürchtigen Freunde sind da ziemlich eigen. Wenn Bruder Abbé nicht ein gutes Wort für dich eingelegt hätte, dann hätte ich dich vorgestern nacht nicht einmal hierherbringen dürfen. Die anderen Tempelherren sind nicht begeistert von deinem Hiersein. Bruder Jeromé schäumt immer noch vor Wut - aber das hast du ja schon selbst gemerkt.« Er sah sie fragend an. »Woher kennst du Bruder Abbé?«

Die Frage kam so überraschend, daß Robin sie vermutlich ganz automatisch beantwortet hätte, wenn sie in der Lage gewesen wäre zu sprechen.

»Ich weiß, ich weiß, du kannst nicht antworten«, fuhr Salim fort. »Und wenn du es könntest, würdest du es nicht tun. Vielleicht ist es sogar besser so. Aber ich wüßte zu gerne, woher Abbé dich kennt. Ich habe sein Gesicht gesehen, als ich dich hereingebracht habe ... Ich glaube, er wäre nicht unbedingt vor Kummer vergangen, wenn es Tobias nicht gelungen wäre, dein Leben zu retten.«

Robin war regelrecht erleichtert, daß sie in diesem Moment ihr Ziel erreicht hatten und Salim verstummte. Allmählich wurde ihr der junge Tuareg fast unheimlich. Entweder war er ein wirklich scharfsinniger Beobachter, oder es stimmte, was man über die Muselmanen erzählte, daß sie über dämonische Kräfte verfugten.

Im Inneren des Gebäudes war es so kühl, daß sie im ersten Moment fror. Durch die Tür fiel helles Sonnenlicht herein, aber als Salim sie hinter ihr schloß, schien die Nacht zurückzukehren, denn es gab nur ein einziges, schmales Fenster. Immerhin konnte sie erkennen, daß sie sich in einer weitläufigen, allem Anschein nach vollkommen leeren Halle befanden, von der zahlreiche Türen abzweigten. Einziger Wandschmuck war ein doppelt mannsgroßer, weißer Teppich, auf dem das blutrote Tatzenkreuz der Tempelritter prangte. Eine breite Treppe aus Holz führte im hinteren Teil der Halle nach oben, und in der Luft lag eine verwirrende Mischung der gegensätzlichsten Gerüche: Weihrauch und frisches Heu, eine sachte Spur des offenbar allgegenwärtigen Pferdemists, aber auch der Geruch von gebratenem Fleisch, der Robin nicht nur auf der Stelle das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ, sondern ihren Magen auch zu einem hörbaren Knurren veranlaßte. Immerhin hatte sie in den letzten Tagen so gut wie nichts gegessen.

Salim grinste, enthielt sich aber jeden Kommentars und deutete stumm auf die Treppe. Er streckte die Hand aus, aber Robin ignorierte sie und ging aus eigener Kraft weiter, wenn auch mit etwas wackeligen Knien. Dabei hätte sie in diesem Moment selbst nicht einmal sagen können, warum. Es war keineswegs so, daß ihr Salims Hilfe oder gar seine Berührung unangenehm gewesen wäre. Aber vielleicht war ja auch ganz genau das der Grund.

Langsam, aber aus eigener Kraft, ging sie die Treppe hinauf. Salim bot ihr nicht noch einmal seine Hilfe an, ging aber dicht neben ihr her, um im Notfall rasch zugreifen zu können. Er maß sie mit verstohlenen Blicken, in denen sich Überraschung mit einer Art widerwilliger Bewunderung mischte. Robin ihrerseits erfüllte dieser Blick mit Stolz.

Die Treppe endete auf einem hohen, ebenfalls sehr düsteren Flur, der sich in beiden Richtungen über die gesamte Länge des Gebäudes zu erstrecken schien. Es gab keine Fenster, sondern nur eine Anzahl schmaler Türen, in die in Augenhöhe kleine Gucklöcher eingelassen waren. Das wenige Licht, das durch diese Öffnungen hereindrang, reichte kaum aus, um in beiden Richtungen bis zum Ende des Flures sehen zu können.

Salim deutete nach links und legte dann unsinnigerweise den Zeigefinger über die Lippen. Dann fuhr er zusammen, machte eine entschuldigende Geste und grinste verlegen.

Sie setzten sich in Bewegung. Salims Ziel war offensichtlich die geschlossene Tür ganz am Ende des Korridors, aber Robin ließ natürlich die Gelegenheit nicht verstreichen, einen Blick in einen der angrenzenden Räume zu werfen, als sie an einer offenstehenden Tür vorbeikamen.

Die Kammer, in die sie blickte, war winzig - kaum breiter als die Tür selbst und höchstens fünf Schritte lang. Sie bot gerade Platz für ein Bett, das alles andere als bequem aussah, einen niedrigen dreibeinigen Schemel und eine hölzerne Truhe. Ein großes, geschnitztes Kreuz hing an der dem Bett gegenüberliegenden Wand. Das war alles. Selbst das Haus, in dem sie aufgewachsen war, kam ihr gegen diese winzige Zelle großzügig und luxuriös vor. Und das sollte der sagenhafte Reichtum der Tempelritter sein, von dem Jan erzählt hatte? Wo waren all das Gold, die Edelsteine und kostbaren Stoffe, von denen der junge Ritter ihr vorgeschwärmt hatte?

Auch als Salim die Tür am Ende des Flures öffnete und sie den dahinterliegenden Raum betraten, entdeckte sie wenig von all den erwarteten Schätzen. Der Raum war sehr viel größer als die Zelle, die sie gesehen hatte, aber kaum weniger bescheiden eingerichtet. Es gab einen langen, aus schweren Eichenbalken gefertigten Tisch, der Platz genug für ein halbes Dutzend Stühle an beiden Seiten und einen etwas größeren Stuhl mit geschnitzten Lehnen am Kopfende bot, und an der Wand neben der Tür das allgegenwärtige Holzkreuz, diesmal gut mannsgroß. Ein kleiner Altar an der gegenüberliegenden Wand und ein großer Schrank mit geschnitzten Türen vervollständigte die Einrichtung. Immerhin war es der erste Raum, den sie hier sah, dessen Wände nicht vor Schmutz starrten.

Salim schloß die Tür und machte eine weit ausholende Geste. »Bruder Abbés Officium.« So wie er das sagte, schien es sich wohl um etwas ganz Besonderes zu handeln, aber Robin konnte an diesem Raum nichts Außergewöhnliches erkennen. Geros Stube war größer gewesen und weitaus besser eingerichtet.

»Komm.« Salim machte eine einladende Geste, ging mit schnellen Schritten voraus und öffnete zu Robins Verwirrung den Schrank. Er war vollkommen leer, viel größer, als sie erwartet hatte, und er war in Wahrheit auch gar kein Schrank. Er hatte keine Rückwand. Wo sie sein sollte, lag ein kleines, fensterloses Zimmer, das gerade Platz für einen einzelnen Stuhl bot.

»Eins von Bruder Abbés kleinen Geheimnissen«, sagte Salim spöttisch, als sie keine Anstalten machte, den Schrank zu betreten, sondern ihn nur fragend ansah. »Er hat eine Menge davon, aber ich fürchte, sie sind nicht alle so harmlos wie dieses. In diesem Raum werden manchmal Dinge von großer Wichtigkeit besprochen. Da erweist es sich schon einmal als recht nützlich, wenn einer zuhört, ohne daß es jedermann weiß.« Er wiederholte seine einladende Geste. »Keine Sorge. Niemand kann dich sehen, wenn du dort drinnen bist.«

Robin gehorchte zögernd, nicht nur weil sie ohnehin keine andere Wahl hatte, sondern weil sie mittlerweile auch kaum noch stehen konnte. Der Weg über den Hof und hier herauf hatte sie doch sehr ermüdet. Sie mußte sich mit einer Hand an der Tischkante festhalten, während sie zum Schrank ging, und als Salim ihr diesmal seine Hand entgegenstreckte, schlug sie sie nicht aus.

Salim stellte den Stuhl unmittelbar hinter den Schranktüren auf, wartete, bis sie darauf Platz genommen hatte, und zog die Türen dann zu. Es wurde dunkel, aber nicht stockfinster. In die Tür war eine Anzahl kleiner Öffnungen eingelassen, durch die man nahezu den ganzen Raum auf der anderen Seite überblicken konnte, und durch die überraschend viel Licht hereinfiel.

Robin spürte, wie Salim hinter sie trat, dann legte sich seine schmale, aber sehr kräftige Hand auf ihre Schulter. Robin wollte sie abstreifen, überlegte es sich dann aber anders.

Sie warteten.

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