KAPITEL 21

Bis die Nacht hereinbrach, schlugen die Tempelritter drei weitere Angriffe von Gunthars Leuten zurück. Die vierte - und bis dahin schlimmste - Attacke begann mit dem ersten Grau der Dämmerung und dauerte fast eine halbe Stunde. Robin sah davon so wenig wie von den vorangegangenen. Sie hatte sich in ihrem Zimmer verkrochen, aber was sie nicht sehen konnte, das zeigte ihr ihre außer Rand und Band geratene Phantasie dafür um so deutlicher. Der Turm erbebte minutenlang unter gewaltigen, dröhnenden Schlägen, dann setzte wieder der schreckliche Chor gellender Schreie ein, und wenig später drang flackernder Feuerschein vom Hof herauf.

Kurz darauf wurde an ihre Tür geklopft, und einer von Abbés Männern kam herein und sagte, daß der Tempelritter sie zu sprechen wünschte. Robin stand auf, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und folgte dem Mann hinunter in den ersten Stock des Turms. Die Luft war hier unten noch stickiger geworden. Flackerndes rotes Licht, Hitze und schwerer, Übelkeit erregender, süßlich riechender Qualm schlugen ihr von der Treppe entgegen. Sie hörte Schreie und sah hektische Bewegung. Etliche von Abbés Männern waren damit beschäftigt, aus Brettern und schweren Bohlen und Balken eine Barrikade zu errichten, die den letzten Treppenabsatz blockierte. Anscheinend, dachte sie, teilten nicht alle Abbés Einschätzung, daß sie sich wochenlang ohne Probleme hier halten konnten, wenn es sein mußte.

Der Raum, in dem Abbé und die anderen Tempelritter sie erwarteten, ähnelte auf beeindruckende Weise dem Zimmer, in dem sie ihm das letzte Mal begegnet war - er war kleiner und etwas besser möbliert, aber auch er war zu einem Hort des Leids geworden. Sie sah zahlreiche Verletzte und mindestens zwei Männer, deren Weg durch das irdische Jammertal beendet war, wie Abbé es ausgedrückt hätte. Vor allem der Anblick eines der beiden Toten erfüllte Robin mit Bitterkeit. Es war einer von denen, die sie selbst verbunden und so gut es ging versorgt hatte. Ihre Hilfe hatte ihm nicht viel genutzt, sondern ihm, im Gegenteil, vielleicht den Tod gebracht.

»Bitte setz dich, Robin.« Abbé deutete auf den einzigen freien Stuhl, den es noch am Tisch gab. Während sie langsamer als nötig darauf zuging, streifte sie die versammelten Tempelritter mit einem prüfenden Blick. Sie waren nur noch zu viert: Abbé selbst, die Ritter Jeromé und Xavier und Heinrich. Sie wußte, daß Ferdinand schon während der Nacht verwundet worden und im Hauptgebäude zurückgelassen worden war. Vielleicht war Raimund mittlerweile ebenfalls gefallen, aber wahrscheinlicher erschien es ihr, daß er sich irgendwo im Turm aufhielt und die Verteidigung überwachte.

Sie setzte sich, und Abbé begann übergangslos: »Wir haben den letzten Angriff zurückgeschlagen, aber ich weiß nicht, ob wir noch einem weiteren standhalten können, Robin. Unser Bruder Raimund hat sein Leben geopfert, um die Feinde daran zu hindern, in den Turm einzudringen, aber sie werden nicht locker lassen. Gunthar ist wie von Sinnen vor Blutdurst. Er will Rache für den Tod seines Sohnes. Ich habe ihn unterschätzt - sowohl das Können seiner Männer, als auch seine Entschlossenheit. Er wird nicht eher ruhen, bis er diesen Turm gestürmt und jedes Leben darin ausgelöscht hat.«

Robin sah ihn erschrocken an. Abbé erzählte ihr nichts Neues. Warum verschwendete er kostbare Zeit damit, ihr Dinge zu sagen, die jedermann hier wußte - und sie am allerbesten?

»Es sei denn«, fuhr Abbé nach einer langen Pause fort, »er bekommt, was er will.«

»Was meint Ihr damit?« fragte Salim. Er wirkte alarmiert; auf eine Art erschrocken, die ihrerseits Robin mit schleichendem Schrecken erfüllte. Allerdings schien er der einzige am Tisch zu sein, dem die Antwort auf diese Frage nicht klar war - Robin eingeschlossen.

Abbé ignorierte ihn. »Ich möchte dich um etwas bitten, Robin«, fuhr er fort. »Es steht mir nicht zu. Keiner von uns hat das Recht, eine solche Frage zu stellen, und ich wohl am wenigsten. Aber ich muß es tun, wegen all der unschuldigen Leben, die sonst ausgelöscht werden.«

Er sprach nicht weiter, und Robin sah ihm auch an, daß er im Moment einfach nicht die Kraft hatte, es zu tun, also nahm sie ihm die Entscheidung ab.

»Ihr wollt, daß ich... mit Euch ... gehe?« würgte sie mühsam hervor. Sie mußte sich zu jedem Wort zwingen. Es war nicht nur die Verletzung an ihrer Kehle, die ihre Stimme daran hindern wollte, ihr zu gehorchen. Seltsam - sie hatte überhaupt keine Angst, obwohl das, was Abbé von ihr verlangte, praktisch ihren sicheren Tod bedeutete.

»Mit Euch gehen?« fragte Salim. »Wohin? Antwortet!« Das letzte Wort hatte er beinahe geschrien.

Abbé wandte nun doch den Kopf und sah Salim für die Dauer eines Herzschlags mit steinernem Gesicht an. Dann drehte er sich wieder zu Robin herum.

»Ich werde Gunthar geben, wonach er verlangt«, sagte er. »Er glaubt, daß ich die Schuld am Tode seines Sohnes trage. Also werde ich zu ihm gehen und mich seiner Gnade ausliefern.«

»Ihr wollt... was?« fragte Salim fassungslos. »Seid Ihr... seid Ihr von Sinnen?«

»Gunthar ist ein vernünftiger Mann, trotz allem«, sagte Abbé. »Ich kenne ihn seit vielen Jahren, und ich weiß, daß er dieses Blutvergießen so wenig will wie ich. Vielleicht wird er mich töten, ohne mich anzuhören, aber vielleicht auch nicht. Vielleicht hört er mir zu, und wenn Robin hier ihm sagt, was wirklich geschehen ist, dann wird die Wahrheit am Ende doch noch obsiegen, wenn Gott es will.«

»Ja, und vielleicht schickt er Euch auch seine himmlischen Heerscharen, um Euch beizustehen«, sagte Salim böse. »Seid kein Narr, Abbé! Er wird Euch töten, er wird Robin töten, und dann wird er hierher kommen und alle anderen umbringen. Und wenn nicht er, dann Gernot und dieser Hund Otto! Ihr wißt das!«

»Gott wird mich beschützen«, sagte Abbé überzeugt. »Mein Entschluß steht fest. Ich werde zu ihm gehen.«

»Das lasse ich nicht zu!« Salim sprang erregt halb von seinem Stuhl auf. »Ihr wißt genau, was...«

»Salim!« Abbés Stimme war nicht einmal besonders laut, aber plötzlich so scharf, daß Salim wie unter einem Peitschenhieb zusammenfuhr. »Was erdreistest du dich? Hüte deine Zunge, verdammter Heide, oder ich lasse sie dir herausreißen!«

Der Tuareg stand noch einen Moment lang erstarrt und mit wutverzerrtem Gesicht da, aber dann ließ er sich zurücksinken. In seinen Augen loderte blanker Zorn, doch plötzlich schien ihm klarzuwerden, daß Abbé und er nicht allein waren.

»Bitte verzeiht, Herr«, sagte er mit einem demütigen Senken des Kopfes. Es war keine echte Demut, begriff Robin. Er senkte den Kopf, damit niemand sein Gesicht sah, und die Gefühle, die sich darauf spiegelten. »Es tut mir leid. Es war nur die Furcht um Euer Leben, die mich zu diesen Worten hingerissen hat. Aber ich bitte Euch, eines zu bedenken: Es geht hier nicht nur um Euer Leben. Nicht einmal um die unseren. Hier steht weitaus mehr auf dem Spiel.«

»Schweig!« donnerte Abbé, aber Salim bekam in diesem Moment Hilfe von unerwarteter Seite.

»Ich fürchte, er hat recht, Bruder«, sagte Jeromé. Er hob die Hand, als Abbé auffahren wollte. »Es tut mir leid. Ich kann Euch verstehen. Wir alle hier verstehen und respektieren Eure Beweggründe. Sie ehren Euch, aber ich fürchte, Euer Sklave hat Recht. Gunthar ist von Sinnen vor Schmerz. Er wird Euch nicht zuhören. Und es steht mehr auf dem Spiel als nur Euer Leben. Ihr habt nicht das Recht, es zu opfern.«

»Uns bleibt keine Wahl«, beharrte Abbé.

»Das ist nicht wahr!« sagte Salim. »Wir können ihnen standhalten. Sie sind nicht mehr als Bauern, die mit Knüppeln bewaffnet sind! Ihre Verluste sind fünfmal so hoch wie unsere.« Er mußte spüren, daß seine Worte auf wenig fruchtbaren Boden fielen, denn er fügte nach einem Moment hinzu: »Wir könnten Hilfe rufen!«

»Hilfe? Woher?« Abbé machte eine zornige Geste, so als wolle er Salims Worte einfach vom Tisch fegen. »Die nächste Komturei ist einen halben Tagesritt entfernt!«

»Ich werde hinreiten und noch vor Tagesanbruch wieder zurück sein«, behauptete Salim.

»Unsinn«, antwortete Abbé. »Du hast gesehen, was mit Karl passiert ist.«

»Karl war ein braver Mann«, erwiderte Salim in einem abfälligen Ton, der im krassen Gegensatz zu seinen Worten stand. »Zweifellos mutig und guten Willens, aber er war nur ein Knecht. Ich kann es schaffen. Ihr wißt, daß das so ist. Ich kann mich hinausschleichen und Eure Freunde holen. Wenn Ihr bis zum Morgen aushaltet.«

»In Raimunds Komturei leben vier Ritter«, sagte Abbé traurig. »Von denen einer so alt ist, daß er sich sein Brot in Milch aufweichen muß, um es zu essen. Sie würden auch noch sterben.« Er schüttelte erneut den Kopf. »Uns bleibt keine andere Wahl, Salim.«

»Das will ich nicht einsehen«, beharrte Salim. »Es gibt immer einen Ausweg. Habt ihr Christen nicht ein Sprichwort, in dem es heißt: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott?« Er stand auf. »Ich flehe Euch an, Bruder Abbé, bedenkt Euch noch einmal. Gunthar wird nicht vor Mitternacht wieder angreifen. Er hat schwere Verluste erlitten.«

»So wie wir.«

»Gebt mir eine Stunde«, bat Salim. »Mehr verlange... mehr erbitte ich nicht von Euch.«

»Wir werden keine Stunde mehr haben«, sagte Abbé. »Sieh nach draußen. Sie bereiten bereits den nächsten Ansturm vor. Mein Entschluß steht fest, unwiderruflich. Es ist zuviel Blut vergossen worden. Ich werde dafür sorgen, daß es aufhört.«

»Verzeiht, Abbé ...« begann Jeromé, wurde aber diesmal sofort und in scharfem Ton von Abbé unterbrochen.

»Genug! Noch bin ich der Vorstand dieser Komturei! Ich habe entschieden, Punktum!«

Der Zorn in Salims Augen loderte noch heller auf- aber er widersprach nicht mehr, sondern fuhr auf dem Absatz herum und stürmte aus dem Raum. Abbé sah ihm kopfschüttelnd nach und erhob sich dann ebenfalls. »Laßt uns beten, meine Brüder«, sagte er. »Und danach bringt mir mein Schwert und meinen Mantel. Ich möchte nicht wie ein Bettler vor Gunthar hintreten.«

Niemand rührte sich. Xavier, Jeromé und Heinrich sahen ihn nur stumm an, und auf ihren Gesichtern spiegelte sich eine Mischung aus Trauer, Schmerz und einer bitteren Entschlossenheit, die Robin begreifen ließ, daß es hier um mehr ging, als sie erfassen konnte.

Aber konnte es denn um mehr gehen als um das Leben eines Menschen?

»Meine Brüder!« sagte Abbé beinahe beschwörend. »Muß ich euch an euren Eid erinnern?«

»Wir haben geschworen, uns gegenseitig mit unseren Leben zu beschützen«, antwortete Jeromé. »Und wir haben Euch die Treue geschworen. Doch wir alle gemeinsam haben auch einen Schwur auf eine größere Sache geleistet. Wir werden nicht zulassen, daß Ihr ihn brecht. Ihr wißt, was auf dem Spiel steht.«

»Dann verdammt ihr mich«, sagte Abbé. Seine Stimme war zu einem Flüstern herabgesunken. »Gott ist mein Zeuge, daß ich nicht getan habe, was Gunthar mir vorwirft. Und doch ist es meine Schuld, denn wäre ich nicht schwach geworden, dann wäre vielleicht nichts von alledem passiert. Ich werde Buße dafür tun, ob ihr es wollt oder nicht.«

»Das können wir nicht zulassen«, sagte Xavier leise.

Robin stockte der Atem. Hatte sie schon Salims dreistes Benehmen in tiefste Verwirrung gestürzt, so weigerte sie sich für den Moment fast zu glauben, was sie hörte und sah. Das war offene Meuterei! Unvorstellbar in einer so festgefügten Gesellschaft wie der der Tempelritter.

Abbé schwieg.

»Zwingt uns nicht, Gewalt anzuwenden«, sagte Xavier.

»Aber ihr würdet es tun«, flüsterte Abbé. Er schloß die Augen; ein gebrochener, besiegter Mann, dem selbst die letzte Gnade noch verweigert worden war.

»Bitte begebt Euch in Eure Zelle, Bruder«, sagte Jeromé. »Wir geben Euch Bescheid, sobald wir... zu einem Entschluß gekommen sind.«

»Und händigt uns Eure Waffen aus«, fügte Xavier hinzu. So wie auch die beiden anderen hatte er nicht die Kraft, Abbé dabei anzusehen.

Der kahlköpfige Tempelritter stand auf. Langsam, als hingen unsichtbare Zentnergewichte an seinen Gliedern, die jede noch so winzige Bewegung zur Qual machten, zog er Dolch und Morgenstern aus dem Gürtel und legte beides auf den Tisch. Dann griff er mit beiden Händen nach oben und zog eine Kette unter dem Gewand hervor, an der das schwere, goldene Kreuz hing. Er streifte die Kette über den Kopf, küßte das Kreuz und legte es mit einer fast ehrfurchtigen Bewegung auf den Tisch. Ohne noch ein weiteres Wort zu sagen, drehte er sich herum und verließ den Raum. Jeromé nickte fast unmerklich in Xaviers Richtung, woraufhin sich der Tempelritter ebenfalls erhob und Abbé folgte.

Auch Robin wollte aufstehen, um wieder in ihr Zimmer hinaufzugehen. Sie war noch immer vollkommen verstört, aber mittlerweile hatte sie auch ein wenig Angst, und das möglicherweise nicht ohne Grund. Eine Weile hatte sie sich an den Gedanken geklammert, daß die Ritter sie einfach nicht zur Kenntnis genommen hatten. Sie war ein Nichts im Vergleich zu ihnen, so unbedeutend, daß es einfach keine Rolle spielte, ob sie da war oder nicht!

Aber natürlich war das nichts als ein verzweifelter - und bei Lichte betrachtet nicht sehr realistischer - Wunsch. Männer wie Jeromé und Xavier taten nichts ohne Grund. Und sie pflegten auch niemanden zu vergessen.

»Setz dich«, befahl Jeromé.

Robin gehorchte. Ihr Herz begann zu klopfen. Sie hatte große Angst.

»Du hast deine Sprache also wiedergefunden«, begann Jeromé.

»Ein... wenig«, flüsterte Robin stockend. Sie hob die Hand an den Verband um ihren Hals. »Schmerzen.«

»Das mag sein«, erwiderte Jeromé kalt. »Trotzdem wirst du uns jetzt erzählen, was in jener Nacht in eurem Dorf geschehen ist. In allen Einzelheiten.«

Es gab keinen Widerspruch. Jeromés Stimme war frei von jedweder Drohung, aber vielleicht war es gerade das, was sie so bedrohlich machte.

Robin begann zu erzählen. Jedes Wort bereitete ihr Schmerzen, und jedes Wort kostete sie noch ein bißchen mehr Mühe als das vorherige, so daß sie Jeromés Wunsch nach allen Einzelheiten sicher nicht nachkommen konnte. Aber sie berichtete, so gut es eben ging, von dem, was sie in der Nacht hinter der alten Kapelle gesehen und gehört hatte, und Jeromés Gesicht verdüsterte sich mit jedem Wort, das er hörte. Aber er unterbrach sie nicht, sondern ließ sie zu Ende erzählen, auch wenn sie noch so lange brauchte, immer wieder stockte, Kraft sammelte und lange, schmerzerfüllte Pausen einlegte.

Dann begann er zu reden.

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