KAPITEL 9

Zeit hatte für die Menschen im Dorf noch niemals viel bedeutet. Die Leute draußen in den Städten und Burgen und Gehöften mochten ihr Verstreichen in Stunden messen, in Minuten und vielleicht sogar Sekunden, aber hier hatten allenfalls Tageszeiten gegolten, darüber hinaus nur die Jahreszeiten.

Nun schien sie ihre Bedeutung vollends verloren zu haben.

Robin saß seit Stunden im Gras und starrte die Ruine ihres niedergebrannten Hauses an. Es mußten Stunden sein, denn es war den Dorfbewohnern mittlerweile gelungen, die meisten Brände zu löschen und ein Übergreifen des Feuers auf den Rest der Ortschaft zu verhindern. Nur Robins Heim und die beiden benachbarten Häuser waren vollkommen zerstört worden, alle anderen Brände waren gelöscht oder zumindest so weit eingedämmt worden, daß nicht mehr die Gefahr bestand, daß sie erneut aufflackerten. Eine Zeitlang war es sehr laut und hektisch ringsum geworden. Überall waren Menschen gewesen, die verzweifelt gegen die Flammen ankämpften, Wasser in die brennenden Gebäude gössen oder die Flammen mit Decken oder Sand zu ersticken versuchten, vor Schmerz schrien, wenn sie sich verbrannten und sich gegenseitig Warnungen zuschrien.

Später dann, als der Kampf gegen das Feuer gewonnen schien, war es etwas ruhiger geworden, und nun hatten die Menschen damit begonnen, die Toten wegzuschaffen. Robin war ein paarmal angesprochen worden, aber sie hatte nicht reagiert, und sie wußte nicht einmal, von wem (obwohl sie sich schemenhaft zu erinnern glaubte, daß es einmal sogar Gernot von Elmstatt gewesen war). Schließlich hatten die anderen wohl begriffen, daß sie in ihrem Schmerz einfach allein sein wollte.

Stunden, Minuten, vielleicht die ganze Nacht... sie wußte nicht, wie lange sie schon hier saß und aus blicklosen Augen auf das starrte, was von ihrem Geburtshaus übriggeblieben war. Das Dach und eine der Wände waren verschwunden, als hätten sie sich in der immensen Hitze einfach aufgelöst, und die stehengebliebenen Wände waren zu geschwärzten Ruinen zusammengesackt. Hier und da glühte es noch, und manchmal ertönte ein scharfes Knacken, und ein glühender Funkenschauer erhob sich in die Luft.

Robin sah es kaum. So wenig, wie sie das Verstreichen der Zeit registrierte, so wenig sah sie die Einzelheiten der Zerstörung. Sie saß reglos da, umklammerte ihre an den Leib gezogenen Knie mit den Händen und wartete darauf, daß der Schmerz kam. Er kam nicht. Die Betäubung, von der sie gehofft hatte, daß sie irgendwann einmal vergehen würde, hielt noch immer an. Vielleicht würde sie nie wieder imstande sein, irgend etwas anderes zu spüren als diese schreckliche, alles verschlingende Leere. Warum konnte sie nicht einfach sterben?

Sie hörte Schritte, dann das Rascheln von Stoff, und jemand setzte sich ächzend neben sie ins Gras. Robin ließ noch einige Augenblicke verstreichen, ehe sie langsam den Kopf drehte. Die alte Janna. Seltsam - sie hatte wie ganz selbstverständlich angenommen, daß sie tot sein müsse. Aber sie schien nicht einmal verletzt. Sie hatte zwar Blut im Gesicht, aber Robin sah auch sofort, daß es nicht ihr eigenes war.

Janna schien darauf zu warten, daß sie etwas sagte, aber Robin blickte sie nur einen kurzen Moment lang ausdruckslos an und starrte dann wieder zur Ruine hin.

Nach einer Weile sagte Janna leise: »Ich weiß nicht, ob es ein Trost für dich ist. Aber sie hat nicht gelitten.«

Robin begriff im ersten Moment nicht einmal, was die alte Frau überhaupt meinte. Nicht nur all ihre Gefühle waren erloschen, auch ihre Gedanken bewegten sich sonderbar träge und schwerfällig. »Wer?«

»Deine Mutter«, antwortete Janna. »Sie war die erste, die die Tempelritter erschlagen haben, einfach so. Sie kamen ins Dorf geritten, zogen ihre Schwerter und haben sie und Carla erschlagen, ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen. Ich glaube, sie haben es nur getan, weil sie einfach die ersten waren, die ihren Weg kreuzten.«

Jannas Stimme war sehr leise, fast nur ein Flüstern, aber auch voller Bitterkeit. Der Schmerz, den Robin in sich selbst vermißte, war überdeutlich darin zu hören.

»Warum ... kann ich nicht weinen?« fragte Robin stockend.

»Die Tränen werden kommen«, antwortete Janna. »Später.«

»Aber ich fühle... gar nichts«, sagte Robin. »Mutter ist tot. Carla und Gero und so viele andere. Aber da ist... gar nichts.«

»Und deshalb machst du dir Vorwürfe«, sagte Janna nickend. »Aber das ist ganz normal, glaub mir.«

»Daß ich keine Trauer empfinde?«

»Oh, du empfindest Trauer«, behauptete Janna. »So viel Trauer, daß du dir selbst nicht gestattest, sie in ihrer ganzen Tiefe zu spüren, weil dein Verstand daran zerbrechen würde.«

Robin sah sie fragend an. »Ist das denn immer so?«

»Nein«, antwortete Janna. »Nur wenn der Schmerz zu schlimm ist, und auch nicht bei jedem. Ein jeder hat seine eigene Art, damit fertig zu werden, weißt du? Manche fressen es in sich hinein und werden bitter und böse. Andere zerbrechen daran. Mach dir keine Sorgen. Es liegt nicht daran, daß du herzlos wärest. Die Trauer wird kommen. Später. Und dann die Wut und der Zorn.«

Sie wollte nach Robins Hand greifen, aber Robin zog ihren Arm zurück, und Janna beließ es bei einem Achselzucken.

»Die Mörder werden bezahlen«, fuhr sie fort. »Wir sind vielleicht nur einfache Leute, deren Leben nicht viel zählt, aber Freiherr von Elmstatt ist ein gerechter Mann. Er wird dieses Verbrechen nicht auf sich beruhen lassen.«

»Er wird gar nichts tun«, sagte Robin leise.

»Du tust ihm Unrecht, Kind«, beharrte Janna. »Er ist ein harter Mann, der selten Gnade vor Recht ergehen läßt, das ist wohl wahr. Aber gerade deshalb wird dieses Verbrechen nicht ungesühnt bleiben. Seine Söhne haben ihr Leben riskiert, um uns zu beschützen.«

»Es ist alles Lüge«, murmelte Robin.

Janna sah sie verständnislos an. »Was ist Lüge?«

»Alles«, antwortete Robin. »Der Überfall, der Kampf. Es war alles abgesprochen. Ich wußte, daß Gernot am linken Arm verletzt werden würde.«

»Wie hättest du das wissen können?« fragte Janna. Ihre Stimme klang beunruhigt, aber vielleicht aus einem anderen Grund, als Robin annahm. Ihre alten Augen wirkten plötzlich sehr wach.

»Weil ich sie belauscht habe«, antwortete Robin. »Ich war draußen bei der Kapelle. Gernot und die Tempelritter haben sich dort getroffen und alles abgesprochen. Sie haben einen Toten dort hingelegt, aber ich weiß nicht, warum.«

Janna seufzte. Sie sagte nichts, aber Robin war natürlich klar, daß sie ihr nicht glaubte. Sie war nur ein junges Mädchen, dessen Wort gegen das eines Adligen stehen würde. Bestenfalls würden sie denken, daß der Schmerz über den Verlust ihrer Mutter ihr den Verstand verwirrt hatte. Vermutlich dachte Janna dasselbe.

Sie sagte auch nach einer Weile nichts, aber plötzlich spürte Robin eine Berührung, und Janna sank schwer gegen ihre Schulter. Ganz instinktiv fing sie sie auf, ließ die alte Frau behutsam zu Boden sinken und keuchte vor Schrecken, als etwas Warmes, Klebriges über ihre Finger lief. Jannas Augen waren weit geöffnet, aber es war kein Leben mehr darin. Jemand hatte ihr die Kehle durchgeschnitten.

Ein Schatten beugte sich über sie. Robin sah erschrocken hoch und blickte in ein bärtiges, von einer auffälligen Narbe entstelltes Gesicht.

»Also hatte Gernot doch recht«, sagte der Tempelritter kopfschüttelnd. »Du hast uns belauscht. Du hast alles gehört und gesehen.« Er seufzte. »Weißt du denn nicht, daß Neugier eine schwere Sünde ist, mein Kind?«

Robin sah den Schlag nicht einmal kommen, mit dem die gepanzerte Faust des Tempelritters ihre Schläfe traf und ihr Bewußtsein auslöschte.

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