KAPITEL 10

Sie erwachte mit hämmernden Kopfschmerzen und einem Gefühl der Übelkeit, das wie mit glühenden Klauen in ihren Eingeweiden wühlte und langsam ihre Kehle hinaufzukriechen begann.

Robin lag bäuchlings über einem Pferderücken. Das Pferd bewegte sich über offensichtlich unebenen Boden, und das rhythmische Schaukeln ließ die Übelkeit in ihren Gedärmen noch schlimmer werden. Sie kämpfte noch einen Moment vergeblich dagegen an, dann übergab sie sich mit einem qualvollen Würgen, und eine eindeutig amüsierte Stimme in ihrer unmittelbaren Nähe sagte: »Ich glaube, unser Gast ist wach.«

Rauhes Gelächter antwortete darauf. Robin würgte noch ein wenig bittere Galle hervor, aber in ihrem Magen war jetzt nichts mehr, was sie noch von sich geben konnte. Die Übelkeit war immer noch da, nun aber nicht mehr so schlimm. Sie stöhnte leise und wollte sich ein wenig aufrichten, bekam aber sofort eine solche Kopfnuß verpaßt, daß sie um ein Haar wieder das Bewußtsein verloren hätte.

»Rühr dich nicht«, sagte eine drohende Stimme, »oder ich schneide dir gleich den Hals ab!«

»Sei nicht so grob, Otto«, mischte sich eine andere Stimme ein. »Wir müssen ihn noch befragen. Tote reden nicht viel... Es wird ohnehin Zeit für eine Rast... Reitet zu den Bäumen dort drüben.«

Robin wagte es nicht, noch einmal den Kopf zu heben, aber sie öffnete vorsichtig die Augen. Sie sah nichts als mit Gras bewachsenen Boden, der gleichmäßig unter ihnen entlang zog, aber sie stellte immerhin fest, daß es bereits wieder zu dämmern begonnen hatte. Sie mußten die ganze Nacht unterwegs gewesen sein.

Nach einigen Augenblicken hielten die Pferde an. Sie konnte hören, wie der Reiter hinter ihr aus dem Sattel stieg, und erwartete, nun ebenfalls vom Rücken des Pferdes gehoben zu werden. Der Mann tat jedoch nichts dergleichen, sondern griff nach ihrem Handgelenk und zerrte so kräftig daran, daß sie vom Pferd fiel und kopfüber im Gras landete. Instinktiv spannte sie alle Muskeln an, um den Aufprall abzufedern, aber er war trotzdem so hart, daß ihr für einen Moment schon wieder schwarz vor Augen wurde.

Das erste, was sie sah, als sich ihr Blick wieder klärte, war eine ganz in mattes Silber und fließendes Weiß gehüllte Gestalt, die riesig und drohend über ihr emporragte. Es war der Narbige. Sein Blick taxierte kalt Robins Gesicht. Als er zu dem Schluß zu kommen schien, daß sie bei Bewußtsein und klarem Verstand war, beugte er sich vor, grub seine in Eisen gehüllte Hand in ihre Schulter und riß sie so grob in die Höhe, daß sie einen halblauten Schmerzensschrei ausstieß. Fast schon brutal drehte er sie herum und versetzte ihr einen weiteren Stoß mit der flachen Hand zwischen die Schulterblätter, der sie ungeschickt auf den Baum zutorkeln ließ, unter dessen überhängenden Ästen sie angehalten hatten. Es war eine mächtige Ulme, deren Stamm so gewaltig war, daß vermutlich nicht einmal drei Männer mit ausgestreckten Armen sie hätten umfassen können. Ihre Krone war groß genug, ihnen allen Schutz zu bieten, und die weit ausladenden Äste berührten hier und da fast den Boden. Ein ausgezeichnet gewähltes Versteck. Im noch schwachen Licht der Dämmerung konnte ein eventueller Verfolger selbst in unmittelbarer Nähe daran vorbeireiten, ohne sie auch nur zu sehen.

Die Männer schienen sich jedoch keine Sorgen um irgendwelche Verfolger zu machen. Sie waren alles andere als leise, unterhielten sich laut und lachten sogar, was Robin geradezu obszön vorkam nach dem Gemetzel, das sie erst vor wenigen Stunden angerichtet hatten.

Während der Kreuzritter sie grob auf den Baumstamm zustieß, sah sich Robin unauffällig um. Sie befanden sich eindeutig nicht rnehr in der Umgebung des Dorfes, aber die Gegend war auch nicht menschenleer. Irgendwo, sehr weit im Norden, gewahrte sie das rote Funkeln eines Feuers, vielleicht ein erleuchtetes Fenster, vielleicht auch ein größeres Feuer, das nur weiter entfernt war. Im Osten begann ein verwaschener heller Umriß aus der Dämmerung aufzutauchen, ein Gut oder vielleicht auch ein sehr großer Bauernhof, der von einem überproportional hohen Turm überragt wurde. Er war vielleicht eine halbe Meile entfernt, vielleicht auch viel weiter; das graue Zwielicht machte es schwer, Entfernungen zu schätzen. In dem Gebäude brannte kein Licht.

Sie hatten den Baum erreicht. Der Templer machte eine drohende Geste. »Du wartest hier«, sagte er. »Rühr dich nicht von der Stelle.«

Damit drehte er sich einfach um und ließ sie stehen, um zu seinen Kameraden zurückzugehen. Die Gleichgültigkeit, mit der die Männer sie behandelten, verblüffte Robin im ersten Moment - bis sie begriff, daß sie sich deshalb wohl eher Sorgen machen sollte. Wenn ihr eines klar war, dann das, daß diese Männer gefährlich waren. Sie ließen nicht zu, daß ihnen jemand in die Quere kam - und wenn, dann brachten sie ihn kaltblütig um.

Mit klopfendem Herzen sah sie zu den gepanzerten Gestalten hin. Sie waren zu weit entfernt, als daß sie verstehen konnte, was sie redeten, aber sie sah an ihren Gesten, daß sie offenbar hitzig miteinander debattierten, und ihre Stimmen wurden manchmal lauter und klangen eindeutig verärgert. Vielleicht, dachte Robin verzweifelt, konnten sie sich nicht einigen, auf welche Weise sie sie umbringen sollten.

Sie sah wieder zu dem weißen Schemen hinüber. Der Hof war vielleicht doch näher, als sie im allerersten Moment geglaubt hatte. Vielleicht nahe genug, daß man sie hören würde, wenn sie nur laut genug schrie.

Sie verwarf den Gedanken fast sofort wieder; ebenso wie den, alles auf eine Karte zu setzen und einfach loszurennen. Beides hätte ihren sicheren Tod bedeutet. Wie wenig diesen Männern ein Menschenleben bedeutete, hatte sie ja mit eigenen Augen gesehen.

Die Männer stritten noch eine Weile miteinander, dann wandten sich zwei von ihnen um und kamen mit gemächlichen Schritten auf sie zu - es waren Otto und Gernot, der Sohn des Lehnsherren. Er trug die linke Hand jetzt in einer improvisierten Schlinge. Ein durchgebluteter Verband zierte seinen Oberarm, und als er näher kam, sah Robin, daß sein Gesicht noch immer kreidebleich war.

»Nun zu dir«, begann er übergangslos. »Wie ist dein Name?«

»Robin«, antwortete sie. Sie senkte den Blick und fugte hinzu: »Herr.«

»Robin, so.« Gernot runzelte die Stirn. »Ein ungewöhnlicher Name ... aber sei's drum. Und sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!«

Robin hob gehorsam den Kopf und sah Gernot ins Gesicht. Sie hatte Angst, aber es fiel ihr kein bißchen schwer, Gernots Blick standzuhalten. In den dunklen Augen des Ritters war etwas, das ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigte. Sie wußte, daß dieser Mann sie töten würde.

»Ich weiß nicht genau, was ich mit dir anfangen soll, Robin«, fuhr Gernot fort. »Du hast uns belauscht, nicht wahr? Ich meine: Du warst draußen bei der kleinen Kirche, als wir uns dort getroffen haben. Du kannst es ruhig zugeben - wir wissen es sowieso. Du hattest Gundolfs Pferd, als du ins Dorf gekommen bist.«

Robin nickte stumm.

»Du mußt keine Angst haben«, fuhr Gernot fort, aber der Ausdruck in seinen Augen sagte das genaue Gegenteil. »Es ist nicht schlimm, daß du uns belauscht hast. Kinder sind nun einmal neugierig.«

»Was hattest du dort draußen zu suchen?« fragte Otto.

»Ich... ich habe nur Blumen auf Helles Grab gelegt«, antwortete Robin stockend. »Ich wollte euch nicht belauschen, wirklich. Ich wollte gerade wieder gehen, aber dann habe ich euch gesehen und... und Angst bekommen. Ich habe mich in der Kapelle versteckt.«

»Und uns ausspioniert«, fügte Otto hinzu. Er senkte die Hand auf das Schwert und trat einen halben Schritt auf sie zu, aber Gernot hob rasch die Hand.

»Nicht, Otto«, sagte er. »Du erschreckst ihn nur. Ich glaube nicht, daß das nötig ist. Robin scheint mir ein ganz vernünftiger Bursche zu sein.« Er sah Robin durchdringend an, und für einen kurzen Moment erschien sogar so etwas wie ein Lächeln auf seinem Gesicht. Es hätte Robin nicht einmal überzeugt, wenn sie nicht gewußt hätte, was er kurz zuvor getan hatte. »Das bist du doch, oder?«

»Ja«, antwortete Robin. »Ich ... ich sage die Wahrheit.«

»Dann hast du auch nichts zu befürchten«, behauptete Gernot. »Aber du mußt verstehen, wie wichtig es für uns ist, zu entscheiden, ob wir dir glauben können oder nicht. Wenn du lügst, dann...«

»Dann werdet ihr mich töten«, fugte Robin den begonnenen Satz zu Ende. »So wie Janna und die anderen.«

Gernot schwieg, und nach einigen schweren Herzschlägen fügte Robin hinzu: »Warum habt ihr das gemacht? Sie hat niemandem etwas getan. Und die anderen auch nicht!«

Gernot seufzte. Er wurde nicht zornig, wie sie im ersten Moment fast befürchtet hatte, sondern senkte für einen Augenblick den Kopf und sah zu Boden. Als er sie wieder anblickte, lächelte er traurig. »Das glaube ich dir sogar, Kind«, sagte er. »Aber so ist das nun einmal. Manchmal müssen Menschen sterben, obwohl sie unschuldig sind. Glaube nicht, daß es uns leichtgefallen ist. Ihr Tod lastet schwer auf unserem Gewissen.«

Robin bezweifelte, daß Gernot so etwas wie ein Gewissen hatte. Aber sie hütete sich natürlich, das laut auszusprechen. Wider besseren Wissens hatte sie immer noch die verzweifelte Hoffnung, diesen Morgen vielleicht doch noch zu überleben: Wenn sie Gernot nur davon überzeugen konnte, ein naives kleines Kind zu sein.

»Warum?« fragte sie.

»Davon verstehst du nichts, Robin«, sagte er. »Das ist Politik.«

»Politik?« Diesmal mußte sie nicht so tun, als verstünde sie nicht, was dieses Wort bedeutete.

»Es ist kompliziert«, seufzte Gernot. »Selbst ich verstehe es nicht immer. Aber es ist nun einmal so.«

»Und deshalb werdet ihr mich auch töten.«

»Nicht, wenn du uns die Wahrheit sagst«, antwortete Gernot ernst. »Es macht uns keinen Spaß, Menschen zu töten, Robin. Wir haben getan, was getan werden mußte, aber wir hatten gewiß keine Freude daran.«

Vielleicht sagte er sogar die Wahrheit, dachte Robin, von seinem eigenen, verschrobenen Standpunkt aus. Aber was für ihn galt, das traf auf Otto ganz gewiß nicht zu. Der vermeintliche Tempelritter war ein durch und durch böser Mann, dem es Freude bereitete, zu töten, und vielleicht noch größere Freude, anderen Schmerzen zu bereiten.

»Du hast diese alte Frau gemocht, nicht wahr?« fragte Gernot.

»Janna?« Robin schüttelte heftig den Kopf. »Sie war eine alte Hexe. Niemand im Dorf hat sie gemocht. Alle haben nur daraufgewartet, daß sie stirbt.«

»Aber die anderen, die getötet wurden«, fuhr Gernot fort. »Es waren doch bestimmt Freunde von dir darunter oder Verwandte.«

»Ich habe keine Freunde«, log Robin. »Und auch keine Verwandten. Meine Eltern sind vor drei Jahren gestorben.«

Gernot tauschte einen langen, nachdenklichen Blick mit Otto. Robin hoffte, daß sie nicht zu dick aufgetragen hatte. Aber ein einziger Blick in Ottos Augen machte ihr klar, daß das überhaupt keine Rolle spielte.

»Mit wem hast du gesprochen?« wollte Gernot wissen. »Wem außer der alten Frau hast du von dem erzählt, was du gehört und gesehen hast?«

»Niemandem«, sagte Robin. »Wirklich, ich sage die Wahrheit! Ich... ich wollte es, ja. Ich habe das Pferd genommen und bin ins Dorf zurückgeritten, um alle zu warnen, aber es war schon zu spät. Ihr... ihr habt mich doch selbst gesehen! Ihr habt mich gerettet, als der Tempelherr Gero erschlagen hat!«

»Zum Ende des Kampfes hin, ja«, sagte Gernot. »Aber was war danach? Du hattest genug Zeit, um mit anderen zu reden. Ich muß wissen, ob du es getan hast!«

»Nein!« versicherte Robin. »Ich habe mit niemandem gesprochen, wirklich! Ich ... ich schwöre es!«

Gernot seufzte. »Ich würde dir gerne glauben, Robin. Aber wie kann ich das?« Er drehte sich halb herum und sah Otto an, und der Tempelritter schlug so schnell zu, daß Robin es nicht einmal sah.

Diesmal zielte er nicht nach ihrem Gesicht. Seine Faust bohrte sich in ihren Magen, trieb ihr den Atem aus den Lungen und ließ einen dumpfen, grausamen Schmerz in ihren Eingeweiden explodieren. Robin krümmte sich, fiel auf die Knie und schlug die Hände vor den Leib. Sie konnte nicht einmal schreien, denn sie bekam keine Luft mehr.

Otto riß sie an den Haaren in die Höhe und schlug ihr so hart mit dem Handrücken ins Gesicht, daß sein Kettenhandschuh ihre Wange aufriß. Robin öffnete den Mund zu einem verzweifelten Schrei, bekam aber immer noch keinen Laut heraus. Vielleicht würde sie jetzt sterben. Vielleicht hatte Ottos Hieb etwas in ihr zerbrochen, und sie würde einfach ersticken.

»Und jetzt wirst du uns die Wahrheit sagen, Bursche!« sagte Otto. »Mit wem hast du gesprochen, und was hast du ihm erzählt?« Um seinen Worten noch mehr Nachdruck zu verleihen, schlug er ihr noch einmal ins Gesicht, und Robin verlor beinahe das Bewußtsein. Sie sank gegen den Baum und wäre in die Knie gegangen, hätte Otto nicht die Hand in ihr Kleid gekrallt und sie festgehalten.

»Ich will mich ja nicht einmischen, Otto«, sagte Gernot. »Aber wie soll er antworten, wenn du ihm den Atem aus dem Leib prügelst?«

»Er wird schon noch genug Luft bekommen«, sagte Otto. »Und wenn nicht...« Er brach plötzlich und mitten im Satz ab, runzelte die Stirn und blickte seine eigene Hand an, die Robin gegen den Baumstamm preßte. Dann hob er auch die andere Hand, griff mit ihr in den Ausschnitt ihres Gewands und riß es mit einer einzigen Bewegung bis zum Bauchnabel hinab auf.

»Na, so eine Überraschung - unser kleiner Junge ist ein kleines Mädchen. Und ein recht ansehnliches außerdem«, fügte er mit einem anzüglichen Grinsen hinzu.

Gernot runzelte die Stirn. »Das überzeugt mich nicht unbedingt von deiner Ehrlichkeit, Robin«, sagte er.

»Aber ich sage die Wahrheit!« keuchte Robin. »Wirklich! Ich... ich habe nichts gesagt, weil ich so große Angst hatte!«

Otto schlug sie wieder und noch härter. Ihre Nase begann zu bluten. »Du sollst uns jetzt endlich die Wahrheit sagen!« herrschte er sie an. »Mit wem hast du gesprochen? Wer in deinem Dorf weiß von uns?«

»Niemand!« wimmerte Robin. »Ich schwöre es! Ich...«

Sie brach mit einem Schrei ab, als Ottos eisenbehandschuhte Hand ihre linke Brust ergriff und mit grausamer Kraft zusammenpreßte.

»Sag uns jetzt die Wahrheit, oder es wird schlimmer«, sagte Otto kalt.

»Aber ich sage die Wahrheit«, wimmerte Robin. Tränen des Schmerzes liefen über ihr Gesicht. »Wirklich! Ihr müßt mir glauben!«

Der Schmerz war unbeschreiblich. Otto drückte mit so gewaltiger Kraft zu, daß sie meinte, ihre Brust würde in Stücke gerissen. Nie zuvor hatte sie so entsetzliche Schmerzen erlitten. Ihr wurde schwarz vor Augen, und das nächste, was sie wahrnahm, war, daß Otto sie wieder brutal gegen den Baumstamm stieß.

»Laß es gut sein, Otto«, sagte Gernot. »Ich glaube, sie sagt die Wahrheit.«

»Und wenn nicht?« Otto grunzte. »Wir sollten zurückreiten und auch noch den Rest von diesem Bauernpack umbringen!«

»Das wäre nicht opportun«, sagte Gernot. »Wir brauchen sie noch. Außerdem: Wer würde ihr schon glauben? Mein Wort gegen das eines kleinen Bauernrnädchens. Hör auf, sie zu quälen. Wir reiten weiter.«

Otto zuckte mit den Schultern. Er wirkte enttäuscht. Er schlug Robin nicht noch einmal, aber seine Hand blieb weiter auf ihrer Brust liegen; wenn jetzt auch, ohne ihr Schmerzen zuzufügen.

»Sie ist wirklich ein hübsches Kind«, sagte er mit einem anzüglichen Grinsen. »Vielleicht noch ein bißchen jung, aber trotzdem ganz ansehnlich.«

»Beherrsche dich, Otto«, sagte Gernot streng. »Für so etwas ist jetzt keine Zeit. Wir müssen weiter. Es wird bald hell.«

»Schade«, sagte der Tempelritter. Das Bedauern in seiner Stimme klang durchaus echt.

»Ich schenke dir zehn davon, wenn unser Plan erst einmal aufgegangen ist. Jetzt beeile dich. Schneid ihr die Kehle durch!«

Robin bäumte sich entsetzt auf und begann mit verzweifelter Kraft auf Otto einzuschlagen und zu treten, aber der Tempelritter lachte nur. Sie wollte schreien, aber Otto legte ihr lachend eine riesenhafte, eisenverhüllte Hand auf den Mund und preßte sie gegen den Baumstamm. Gleichzeitig griff er mit der anderen Hand nach unten und zog einen Dolch aus dem Gürtel. Robin mobilisierte noch einmal alle Kräfte, rammte dem Tempelritter das Knie zwischen die Beine und fuhr ihm mit den Fingernägeln durchs Gesicht.

Das Ergebnis war weniger spektakulär, als sie gehofft hatte. Otto taumelte zwar mit einem schmerzhaften Grunzen einen halben Schritt zurück und nahm auch die Hand von ihrem Mund, griff aber sofort wieder zu und drehte Robin brutal den Arm auf den Rücken, als sie davonstürzen wollte. Sie hatte ihm ein paar üble Kratzer auf Stirn und Wange beigebracht. Blut lief über sein Gesicht. Aber er lachte nur.

»Kleine Wildkatze! Schade, daß du keine Gelegenheit hast, noch ein bißchen älter zu werden. Wir beide hätten bestimmt eine Menge Spaß miteinander.«

Robin schrie. Otto drängte sie mit seinem eigenen Körper so fest gegen den Baum, daß sie keine Gelegenheit hatte, noch einmal nach ihm zu treten, näherte sein Gesicht dem ihren und erstickte ihren Schrei mit einem brutalen Kuß. Mit der anderen Hand hob er den Dolch und zog die Klinge mit einer raschen Bewegung durch Robins Kehle.

Es tat nicht einmal besonders weh. Robin begriff im allerersten Moment nicht einmal, was geschah - sie fühlte nur die Berührung von kaltem Eisen und dann ein sanftes Brennen, keinesfalls einen so grausamen Schmerz, wie sie ihn erwartet hätte. Aber plötzlich lief etwas Warmes, Zähflüssiges ihre Kehle hinunter, und sie bekam keine Luft mehr, und dann füllte sich ihr Mund mit ihrem eigenen, salzig schmeckenden Blut.

Otto preßte seine Lippen noch für einige weitere Augenblicke auf ihren Mund, dann trat er lachend zurück, ließ endlich Robins Arm los und fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen. Sie waren rot von Robins Blut. Er sagte irgend etwas, aber sie verstand ihn nicht mehr. In ihren Ohren war plötzlich ein immer lauter und lauter werdendes Dröhnen und Rauschen, das jeden anderen Laut verschluckte und immer noch weiter zunahm.

Mit letzter Kraft schlug sie die Hände gegen den Hals. Warmes, klebriges Blut quoll in einem breiten Strom zwischen ihren Fingern hindurch, und dasselbe Blut lief in ihre Kehle hinein und versuchte, sie zu ersticken. Sie wollte schreien, wenigstens einen einzigen, allerletzten Atemzug tun, aber sie konnte nichts von alledem. Blut und roter, blasiger Schaum traten über ihre Lippen. Otto drehte sich langsam herum und ging davon, aber sie sah ihn nur noch als verzerrten Schemen, der ständig seine Form zu verändern schien und schließlich ganz verschwand.. Das also war der Tod. Sie hatte ihn sich anders vorgestellt; schmerzhafter, schlimmer, vor allem aber schneller. Wieso dauerte es so lange?

Sie fiel jetzt langsam nach vorne. Etwas in ihr klammerte sich noch immer mit verzweifelter Kraft an den erlöschenden Lebensfunken, denn sie löste die linke Hand vom Hals und fing den begonnenen Sturz auf. Immer verzweifelter versuchte sie zu atmen, und für einen winzigen Moment war es ihr fast, als füllten sich ihre Lungen mit kostbarer, unendlich süßer Luft.

Aber es war nur ein verzweifelter Wunsch, nichts als kindlicher Trotz, der sich selbst gegen das Unausweichliche noch auflehnte.

Sie konnte nicht atmen.

Ihr Arm gab unter dem Gewicht ihres Körpers nach, und sie fiel endgültig nach vorne.

Alles wurde warm. Eine große Dunkelheit begann von ihren Gedanken Besitz zu ergreifen. Robin rollte auf die Seite. Ihr letzter, fast absurder Gedanke war, daß sie wenigstens noch einmal den Himmel über sich sehen wollte, ehe sie starb. Aber über ihr war kein Himmel, nur das lichte Blätterdach der Ulme.

Die Welt rings um sie herum erlosch.

Es begann eine Zeit der Pein. Es war kein körperlicher Schmerz - das auch, aber er war, obgleich schlimm, seltsam unwirklich, als wäre es gar nicht wirklich sie, die ihn fühlte -, sondern etwas viel, viel Schlimmeres, eine Qual, die ihre Seele heimsuchte und die entsetzlicher war als alles, was sie sich jemals hatte vorstellen können. In den wenigen Augenblicken, in denen sie nicht mehr als ein bloßer Lebensfunke war, der in einem Ozean reiner Qual trieb, wurde ihr plötzlich erschreckend klar, daß sie sich wohl im Fegefeuer befinden mußte, jenem Vorhof der Hölle, von dem die alte Janna so oft gesprochen und mit dem ihre Mutter ihr manchmal (aber nicht im Ernst) gedroht hatte. Dieser schreckliche Ort konnte nicht der Himmel sein, und sie hatte in ihrem kurzen Leben nichts getan, was schlimm genug gewesen wäre, sie zu ewiger Verdammnis in der Hölle zu verurteilen. Aber sie war tot. Otto hatte ihr die Kehle durchgeschnitten, und wenn dieser Ort weder der Himmel noch die Hölle war, dann mußte es zwangsläufig das Fegefeuer sein.

Trotz aller Schrecken und allen Leids hatte der Gedanke etwas Beruhigendes. Jede Sekunde, die sie existierte, war pure Qual, aber sie wußte nun, daß es nicht für die Ewigkeit war.

Zumindest schien es sich jedoch um einen Gutteil der Ewigkeit zu handeln, denn die Qual nahm kein Ende. Sie wurde von Fieber und Krämpfen geschüttelt, und manchmal wachte sie mit dem grauenhaften Gefühl auf, ersticken zu müssen - was vollkommen absurd war, denn sie war schließlich schon tot. Nur manchmal, ganz selten, und in Abständen von Jahren oder auch Jahrhunderten, glaubte sie ein Gesicht zu sehen, das nicht in diesen Vorhof der Hölle zu passen schien. Es war ein junges, fremdartiges Gesicht mit hohen Wangenknochen, kupferfarbener Haut und Augen, in denen sich das Wissen um uralte Geheimnisse mit großer Sanftmut, aber auch mindestens ebenso großer Stärke paarte; ein sehr schönes, aber trotzdem auch sehr männliches Gesicht. Wahrscheinlich das Antlitz eines Engels, der von Zeit zu Zeit vorbeikam, um nachzusehen, ob ihre Seele schon weit genug geläutert war, damit man sie aus dem Fegefeuer entlassen könnte.

Und irgendwann war es dann schließlich soweit. Ihr Bewußtsein klärte sich wieder, aber diesmal fand sie sich nicht am Grunde eines Ozeans aus rotem Schmerz und erstickender Qual wieder, sondern an einem ihr vollkommen unbekannten Ort. Allerdings bezweifelte sie, daß es sich um den Himmel handelte.

Wenn dies das Paradies war, dann war es vollkommen anders, als irgendein Mensch auf der Welt es sich je vorgestellt hatte.

Sie lag auf einem schmalen, nicht besonders bequemen Bett. Aus irgendeinem Grund war sie nicht in der Lage, auch nur einen Muskel zu rühren, geschweige denn den Kopf zu drehen, so daß alles, was sie sah, die Decke über ihr war. Irgendwann einmal mußte sie wohl weiß getüncht gewesen sein, aber viele Jahre hatten sie in ein unansehnliches Durcheinander aus Schmutz- und Wasserflecken verwandelt. Es war sehr warm, und ein unangenehmer, strenger Geruch lag in der Luft, der Geruch nach Krankheit und menschlichen Ausscheidungen, aber auch nach bitterer Medizin und Kräutern.

Sie hörte Geräusche: Ein Klappern und Hantieren, Schritte und das Rascheln von grobem Stoff. Dann eine Stimme: »Ich habe Euch doch gesagt, daß sie heute morgen wach wird, Bruder. Sie ist erwacht. Aber bitte strengt sie noch nicht zu sehr an. Sie ist noch sehr schwach.«

Schritte näherten sich, und sie spürte, wie jemand neben ihr Bett trat, konnte aber nur einen Schatten ganz am Rande ihres Gesichtsfeldes erkennen. Sie versuchte noch einmal und jetzt mit aller Energie, den Kopf zu drehen, aber es war, als wäre sie vollkommen gelähmt. Vielleicht war sie es.

»Es ist ein Wunder«, sagte die Stimme links neben ihr. Sie kam ihr vage bekannt vor, aber sie wußte nicht, woher. »Gott der Herr hat uns wieder einmal seine Allmacht demonstriert und an diesem Menschenkind ein Wunder gewirkt!«

Ein Räuspern, dann sagte die erste, leisere Stimme: »Vielleicht mit einem ganz klein wenig Mithilfe ärztlicher Kunst.«

»Versündigt Euch nicht, Bruder Tobias. Gott der Herr verabscheut Hoffärtigkeit. Und ich auch, nebenbei bemerkt.«

Der Schatten verschwand aus ihrem Augenwinkel. Schritte umkreisten das Bett, und als die Gestalt auf der anderen Seite in ihr Blickfeld trat, wußte Robin endgültig, daß sie nicht im Himmel war.

Das Gesicht, das unter einem fast kahlen Schädel hervor auf sie herabblickte, gehörte Bruder Abbé. Das hier konnte nicht der Himmel sein.

Dabei hatte sie im ersten Moment fast Mühe, ihn überhaupt wiederzuerkennen. Ohne sein Kettenhemd und den weißen Wappenrock wirkte er vollkommen verändert. Er trug nur ein schlichtes, graues Gewand, das an eine Mönchskutte erinnerte, und als einzigen Schmuck ein - allerdings sehr großes - goldenes Kreuz, das an einer ebenfalls goldenen Kette vor seiner Brust hing. Irgendwie war er immer noch eine beeindruckende Erscheinung, nun aber auf eine vollkommen andere Art als zuvor, als sie ihn das erste Mal gesehen hatte.

Bruder Abbé ließ ihr ausreichend Zeit, um sein Gesicht zu betrachten und sich davon zu überzeugen, daß er auch tatsächlich der war, für den sie ihn hielt, dann lächelte er und sagte: »Du siehst richtig, mein Kind. Gottes Wege sind manchmal unergründlich, meinst du nicht auch?«

Sie wollte antworten, aber ihre Stimme versagte ihr ebenso den Gehorsam wie der Rest ihres Körpers. Als sie es trotzdem versuchte, war das einzige Ergebnis ein heftiger Schmerz, der ihre Kehle zu zerreißen schien.

»Versuche nicht zu sprechen, Kind.« Ein zweiter, etwas älterer Mann in einer grauen Mönchskutte erschien neben Bruder Abbé und lächelte sie an. Er hatte ein schmales, fast asketisch wirkendes Gesicht, aber sehr freundliche Augen und schmale Hände, die ständig in Bewegung waren und einen äußerst geschickten Eindruck machten. »Es wäre nicht gut, wenn du dich zu sehr anstrengst.«

»Hör nicht auf Bruder Tobias«, sagte Abbé grinsend. »Er ist ein alter Schwarzseher. Wenn es nach ihm ginge, dann stünde der Jüngste Tag bevor, und zwar jeden Tag.«

»Ich sage nur, daß sie sich nicht anstrengen darf«, sagte Tobias beleidigt. »Und schon gar nicht reden.«

»Es wäre aber besser, wenn sie es könnte«, erwiderte Abbé. »Ich meine: Es könnte von einiger Wichtigkeit sein, zu erfahren, warum ein Mädchen aus einem Dorf, das einen halben Tagesritt entfernt ist, mit durchgeschnittener Kehle vor den Toren unserer Komturei gefunden wird - neben einem Pferd, das am Tag zuvor von unserer Weide gestohlen wurde.« Er wandte sich wieder direkt an Robin. »Nun, mein Kind? Ich weiß, ich verlange viel, aber vielleicht nur einige winzige Worte?«

Tobias verdrehte die Augen. »Abbé! Sie kann nicht reden, selbst wenn sie es wollte! Es wird Wochen dauern, bis sie wieder sprechen kann. Wenn überhaupt.«

Abbé sah ganz so aus, als wolle er auffahren, aber dann beherrschte er sich mit einiger Mühe und zwang sich sogar wieder zu einem Lächeln. »Also gut, dann versuchen wir es auf eine andere Art. Wenn du mich verstehst, dann schließ einfach die Augen. Einmal für ja, zweimal für nein. Hast du das verstanden?«

Robin blinzelte einmal.

»Wunderbar!« Bruder Abbés Gesicht hellte sich auf. »Dann beantworte mir nur einige wenige Fragen, mein Kind, danach übergebe ich dich wieder in Tobias Obhut.«

»Zwei«, sagte Tobias. »Nur zwei, danach werdet Ihr sie in Ruhe lassen, Bruder Abbé.«

»Muß ich dich wirklich daran erinnern, wer der Vorsteher der Komturei ist, Tobias?« seufzte Abbé.

»Ihr, Bruder«, antwortete Tobias mit einem Lächeln, das sich nicht einmal die Mühe machte, irgend etwas anderes als Spott auszudrücken. »Gleich nach Gott - und mir, wenn es dem Herrn in seiner übergroßen Güte gefällt, einen der unseren mit einer Krankheit heimzusuchen, um seinen Glauben auf die Probe zu stellen. Bitte bedenkt, wer Euch einen heilsamen Trank braut, wenn Euch wieder einmal die Galle plagt oder die Winde drücken.« Er seufzte. »Das ist das Problem mit der Heilkunst, Bruder Abbé: Sie ist unberechenbar. Manchmal wirkt meine Medizin, manchmal nicht. Manchmal schmeckt sie süß und manchmal sehr bitter.«

Abbé starrte ihn an. In seinen Augen funkelte etwas, das pure Mordlust sein konnte. Aber er nickte. »Du bist ein gemeiner Erpresser, Tobias. Aber gut - zwei Fragen.« Er drehte sich wieder zu Robin um. »Die Männer, die dir das angetan haben, mein Kind - ich nehme nicht an, daß sie aus deinem Dorf stammen. Hast du sie schon einmal gesehen?«

Robin blinzelte einmal. Das entsprach möglicherweise nicht ganz der Wahrheit, wohl aber dem, was Bruder Abbé meinte. Und sie kannte ja immerhin die Identität von mindestens einem der Männer.

»Gut«, sagte Abbé. »Und würdest du sie wiedererkennen?«

Robin blinzelte erneut, was Abbés Lächeln noch ein wenig zufriedener werden ließ. »Das ist gut«, sagte er. »Und jetzt sag mir, haben sie nur dich überfallen?«

Robin schloß zweimal rasch hintereinander die Augen.

»Dann war es euer ganzes Dorf?«

Ein einzelnes Blinzeln. Ja.

»Waren es Räuber?«

Robin schloß zweimal die Augen. Sie war sehr müde. Die Lider wieder zu heben, bereitete ihr fühlbare Mühe.

»Das waren jetzt bereits vier Fragen«, sagte Tobias.

»Ich kann selbst zählen«, fuhr ihn Bruder Abbé an. Seine Stimme war plötzlich scharf. Jeder Unterton von gutmütigem Spott war daraus verschwunden. »Und jetzt hört gefälligst mit diesem Unsinn auf! Hier geht es um mehr als die Gesundheit dieses Mädchens. Jemand hat versucht, sie zu töten, und wie es aussieht, nicht nur sie. Jemand, der sich eigens die Mühe gemacht hat, sie vor unsere Tür zu legen. Und ich möchte gerne wissen, warum!«

»Ihr werdet es nicht erfahren, wenn Ihr sie überanstrengt«, antwortete Tobias.

»Wird sie daran sterben?«

»Das nicht. Aber...«

»Dann werde ich es ihr wohl zumuten müssen«, schnitt ihm Abbé das Wort ab. »Hör mir zu, Robin. Ich weiß, was ich von dir verlange, und ich würde es nicht tun, wenn es nicht wirklich wichtig wäre. Vielleicht hängt das Leben vieler weiterer Menschen davon ab. Willst du mir also helfen?«

Robin schloß die Augen, um ihre Zustimmung zu signalisieren, aber sie hob die Lider nicht mehr. Und noch bevor Bruder Abbé eine weitere Frage stellen konnte, war sie eingeschlafen.

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