Der Morgen dämmerte bereits, als sie zur Komturei zurückkehrten. Es hatte bis lange nach Mitternacht gedauert, ein gutes Dutzend flacher Gräber am Waldrand auszuheben, in denen sie Ottos Männer, aber auch den Schankwirt und seine Frau beerdigten, die bei dem Feuer den Tod gefunden hatten, und, zu Robins Überraschung, auch Bruder Jeromé. Anschließend hatten Horace und seine Brüder gut zwei Stunden im Gebet zugebracht, wobei sie keinen Unterschied zwischen Feind und Freund gemacht hatten, sowenig wie damals Abbé, als er Helle, Olof und Jan den letzten Segen gab. Und sowenig wie die letzten Ruhestätten an der alten Kapelle, an der alles Unglück begonnen hatte, unterschieden sich diese Gräber voneinander. Als Robin, die mit gesenktem Blick dagestanden und so getan hatte, als ob sie auch betete, sich endlich herumdrehte und zu ihrem Pferd ging, hätte sie nicht mehr sagen können, wer in welchem Grab lag. Es spielte wohl auch keine Rolle.
Sie hatten den Rückweg zur Komturei so schnell bewältigt, wie sie konnten, aber das war nicht sehr schnell gewesen. Keiner von ihnen hatte noch viel Kraft. Auf den letzten Meilen wäre Robin mehrmals fast im Sattel eingeschlafen, und ihr Kettenhemd schien mittlerweile eine Tonne zu wiegen und mit jedem Schritt Wirbelwinds schwerer zu werden. Trotz des baumwollenen Unterkleides war sie überall wundgescheuert, und ihr rechter Arm schmerzte noch immer.
Der Hof war hell erleuchtet. Hinter jedem Fenster brannte Licht, und auf dem Hof selbst brannten zahlreiche Fackeln, die, dem Grad ihres Herunterbrennens nach zu schließen, die Dunkelheit die ganze Nacht über vertrieben hatten. Robin überlegte, ob der Grund für diese Aufregung möglicherweise Salims und ihr Verschwinden war, glaubte es aber nicht. Außerdem war es ihr im Grunde egal. Sie war unendlich müde, und sie wollte nur noch schlafen.
Bis dahin aber sollte noch viel Zeit vergehen.
Ihr Kommen mußte bemerkt worden sein, denn als sie durch das Tor ritten, kam ihnen eine aufgeregte Menschenmenge entgegen, die von Bruder Abbé angeführt wurde. Er sah übernächtigt und blaß aus, und seine fahrigen Bewegungen verrieten, daß er wahrscheinlich die ganze Nacht über kein Auge zugetan hatte.
»Bruder Horace!« rief er schon von weitem. »Gelobt sei der Herr! Ihr könnt Euch nicht vorstellen, in welch großer Sorge ich gewe...«
Er brach mitten im Satz ab, erstarrte mitten in der Bewegung und riß ungläubig die Augen auf, als er Robin sah, die unmittelbar neben Horace ritt. Und vor allem, was sie trug.
»Robin«, murmelte er. Dann verfinsterte sich sein Gesicht. »Was erdreistest du dich?! Du wirst auf der Stelle ...«
Horace unterbrach ihn. »Ich bitte Euch, Bruder Abbé, geht nicht zu streng mit Bruder Robin ins Gericht. Ohne ihn wäre wohl keiner von uns noch am Leben.«
Abbé starrte sie mit offenem Mund an. »Bruder Robin?«
»Er ist ein tapferer Bursche und ein mutiger Kämpfer vor dem Herrn«, fuhr Horace fort. »Aber der Schreck steckt ihm noch in den Knochen. Es war das erste Mal, daß er einen wirklichen Kampf erlebt hat.«
»Ja, das ... war gewiß hart«, murmelte Abbé. Er war noch blasser geworden. Es fiel ihm sichtbar schwer, überhaupt zu reden. Bevor er weitersprach, warf er einen fast ängstlichen Blick in die Runde. Er suchte nach Heinrich und Xavier, begriff Robin. Die beiden anderen Tempelritter befanden sich jedoch nicht auf dem Hof.
»Was... was ist geschehen?« fuhr er unsicher fort. »Wir hörten von einem Kampf, und ihr alle seid voller Blut.«
»Es ist vornehmlich das Blut unserer Gegner«, antwortete Horace. Er stieg ächzend vom Pferd. »Was Ihr gehört habt, entspricht der Wahrheit - auch wenn ich mich frage, wieso schlechte Nachrichten sich immer so viel schneller verbreiten als gute. Der Verräter Otto hat uns in einen Hinterhalt gelockt. Er hat mit dem Leben dafür gezahlt.«
»Otto ist tot?« vergewisserte sich Abbé.
»Er fiel von meiner Hand«, bestätigte Horace.
»Und Gernot?«
Horace wirkte leicht irritiert. Aber er antwortete nicht sofort, sondern machte eine befehlende Handbewegung, woraufhin Salim und Gernot aus dem Torgewölbe traten. Gernot hatte sich im Laufe der Nacht wieder genug erholt, um aus eigener Kraft im Sattel sitzen zu können. Sein Gesicht hatte sich jedoch blau und grün verfärbt, und sein rechtes Auge war vollkommen zugeschwollen.
»Er ist verletzt«, sagte Horace überflüssigerweise. »Doch es ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Er hat Glück gehabt. Er ist dem Verräter in die Hände gefallen, wie Ihr seht. Hätte ihn Euer Sklave nicht rechtzeitig gefunden, so wäre er wohl jetzt tot.« Er maß Abbé mit einem nachdenklichen Blick. »Aber wieso fragt Ihr nach ihm?«
»Gunthar von Elmstatt ist auf dem Weg hierher«, antwortete Abbé. Robin konnte sehen, wie sich die Gedanken hinter seiner Stirn schier überschlugen. »Als ich von Eurer Ankunft hörte, dachte ich erst, er wäre es.«
»Ihr könnt ihn beruhigen«, antwortete Horace. »Sein Sohn wird wieder gesund werden.« Er zögerte. »Ich fürchte, ich habe auch schlechte Nachrichten, Bruder Abbé. Unser Bruder Jeromé ... er fand den Tod im Kampf gegen die Verräter.«
»Jeromé?« Abbé erschrak. »Jeromé ist tot.«
»Er gab sein Leben, um die unseren zu beschützen«, sagte Horace. In Robins Ohren klang es wie etwas, das er irgendwann einmal auswendig gelernt hatte und nun herunterleierte.
»Er hat gekämpft wie ein Löwe«, fugte Salim hinzu. »Aber die Übermacht war einfach zu groß.«
Abbé starrte ihn an, doch Salims Blick blieb vollkommen ausdruckslos.
»Laßt uns das bitte alles zu einem späteren Zeitpunkt besprechen«, sagte Horace. »Es war eine sehr anstrengende Nacht und ein sehr langer Ritt. Meine Brüder bedürfen der Ruhe - und vielleicht einer kleinen Stärkung. Und ich muß mit Euch und den anderen reden.«
»Selbstverständlich.« Abbé drehte sich herum und begann heftig zu gestikulieren. »Rasch. Bereitet die Zimmer für unsere Gäste vor. Und macht Wasser heiß, und bereitet ein kräftiges Frühstück. Jemand soll saubere Kleider bringen. Und kümmert euch um die Pferde!«
Er hätte vielleicht noch die nächste halbe Stunde damit verbracht, Befehle zu erteilen, hätte Horace ihn nicht unterbrochen. »Gemach, Bruder«, sagte er lächelnd. »Ein einfaches Bett und eine warme Suppe mögen für den Anfang genügen. Macht Euch nicht zu viele Umstände.«
»Es sind keine Umstände.« Abbé hob die Stimme und rief über die Schulter zurück: »Ihr habt Bruder Horace gehört! Kümmert euch um unsere Gäste!« Seine Stimme wurde leiser, als er sich wieder direkt an Horace wandte. »Man wird Euch Eure Zimmer zuweisen und frische Kleider bringen. Wenn Ihr mich in der Zwischenzeit entschuldigen wollt: Ich möchte mich gerne persönlich um Gernot kümmern. Seinen Vater und mich verbindet eine langjährige Freundschaft.«
»Natürlich«, sagte Horace.
Abbé trat an Gernots Pferd und streckte die Hand aus. »Salim, hilf mir.«
Mit vereinten Kräften hoben sie Gernot vom Pferd. Der junge Adelige war so schwach, daß er kaum auf eigenen Beinen stehen konnte. Salim und Abbé mußten ihn stützen. Als sie sich herumdrehten und langsam losgingen, sagte er: »Und Ihr, seid so gut und folgt mir auch, Bruder Robin.«