Kamchak ging zwischen den Wagen hindurch auf den Lärm zu, und ich folgte ihm. Auch andere Tuchuks drängten in unsere Richtung. Wir wurden von bewaffneten Dienern gestoßen, von Jungen mit noch narbenlosen Gesichtern, von ledergekleideten Frauen, die ihre Feuer im Stich ließen, von wilden, halbnackten Kindern und turianischen Sklavenmädchen, die sehen wollten, was es mit dem Horn und der Trommel auf sich hatte.
Wir erreichten eine breite Grasstraße, eine Scheide zwischen den Wagen, eine Art Zentrum in der Stadt aus Harriga oder Boskwagen. Zahlreiche Tuchuks und Sklaven drängten sich in dieser Straße, Handaufleger und Haruspexe, Sänger und Musiker und hier und dort auch fliegende Händler, die gelegentlich von den Tuchuks zugelassen werden, weil ihre Waren willkommen sind. Wie ich später erfuhr, trug jeder dieser Männer ein winziges Brandmal auf dem Unterarm, ein Zeichen in der Form von Boskhörnern, das dem Betreffenden freie Durchfahrt auf den Ebenen der Wagenvölker gestattet. Die Schwierigkeit lag natürlich darin, dieses Brandzeichen zu erlangen. Wenn bei einem Sänger das Lied keinen Gefallen fand oder die Waren eines Händlers abgelehnt wurden, hatte das meist den Tod zur Folge.
Jetzt erblickte ich weiter unten auf der breiten Grasbahn zwei Kaiilareiter, die auf uns zukamen. Eine Lanze war zwischen ihnen befestigt, etwa anderthalb Meter über dem Boden. Und zwischen den beiden Reittieren, an die Lanze gefesselt, die Hände auf dem Rücken gebunden, stolperte ein Mädchen.
Ich war verblüfft, denn dieses Mädchen war nicht wie eine Goreanerin gekleidet — sie war sicher nicht aus irgendeiner Stadt der Gegenerde, auch nicht eine Bäuerin der Sa-Tarna-Felder oder aus den Weinbergen, auf denen die Ta-Trauben gezüchtet werden, es war auch kein Mädchen der Wagenvölker.
Kamchak trat in die Mitte der breiten Straße, hob eine Hand, und die beiden Reiter zügelten ihre Tiere.
Das Mädchen keuchte atemlos und zitterte am ganzen Körper. Sie wäre zu Boden gesunken, wenn die Lanze sie nicht gehalten hätte. Ihre Augen wirkten seltsam glasig. Ihre Kleidung war verschmutzt und zerrissen, die Schuhe baumelten ihr um den Hals, gelbe Nylonstrümpfe hingen in Fetzen um ihre Waden.
Auch Kamchak schien überrascht von der seltsamen Kleidung, ganz besonders aber von dem breiten Lederkragen, den die Fremde um den Hals genäht trug.
Kamchak trat vor das Mädchen hin und nahm ihren Kopf in beide Hände. Sie hob den Blick, und als sie so plötzlich in das wilde, narbige Gesicht starrte, schrie sie hysterisch auf und versuchte sich loszureißen, aber ihre Fesseln waren zu stark. Sie wimmerte und warf den Kopf hin und her. Es war offensichtlich, daß sie ihren Augen nicht traute, daß sie ihre Umgebung nicht begriff.
Sie hatte dunkles Haar und dunkelbraune Augen. Sie schrie auf, als Kamchak ihr die Schuhe von den Schultern riß. Sie waren orangefarben, hatten hohe Absätze und trugen eine Aufschrift, die für einen Goreaner unleserlich sein mußte — eine englische Aufschrift.
Das Mädchen versuchte zu sprechen. »Ich heiße Elizabeth Cardwell«, sagte sie .»Ich bin amerikanische Staatsbürgerin. Ich wohne in New York City.«
Kamchak starrte die Reiter verblüfft an. Auf Goreanisch sagte einer der beiden: »Sie ist eine Barbarin. Sie kann kein Goreanisch.«
Ich dachte mir, daß es sicher am besten war, wenn ich vorläufig den Mund hielt.
Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Wie war es möglich, daß ein Mädchen von der Erde zu den Tuchuks gebracht wurde? Hatten die Priesterkönige das Mädchen auf diese Welt geholt? War sie das Opfer einer Akquisitionsreise? Aber angeblich waren diese doch nach dem kürzlichen unterirdischen Krieg der Priesterkönige gestoppt worden. Hatte man die Reisen schon wieder aufgenommen? Gewiß war dieses Mädchen noch nicht lange auf Gor, vielleicht erst seit Stunden. Aber wenn die Priesterkönige wieder Akquisitionsreisen durchführten — warum? Steckten womöglich andere Priesterkönige dahinter — war vielleicht etwas Bestimmtes beabsichtigt, etwas, das mit mir zu tun hatte?
Plötzlich warf das Mädchen den Kopf in den Nacken und schrie hysterisch: »Ich bin wahnsinnig! Ich bin wahnsinnig!«
Ich hielt es nicht mehr aus und sagte: »Nein, es ist alles in Ordnung mit Ihnen.«
Das Mädchen starrte mich an, während die Tuchuks verblüfft die Köpfe wandten.
Ich sagte zu Kamchak: »Ich verstehe ihre Sprache.«
Einer der Reiter richtete seine Lanze auf mich und rief aufgeregt: »Er spricht ihre Sprache!«
»Bitte!« flehte das Mädchen. »Helfen Sie mir!«
»Sie müssen still sein«, sagte ich.
Ich wußte nur zu gut, was jetzt geschehen würde, was das Schicksal jeder Frau war, die in die Hände goreanischer Männer fiel. Sie war eine Gefangene, die ihrem Schicksal als Sklavin nicht entgehen konnte.
Kamchak trat vor sie hin, betastete ihr gelbes Kleid und riß es ihr vom Leib.
»Bitte«, flehte das Mädchen und wandte sich an mich.
Aber ich konnte nichts unternehmen.
Kamchak hob die Kleidung vom Boden auf, rollte sie zusammen und schickte eine Frau damit fort. Das gefesselte Mädchen sah hilflos zu, wie das Bündel, ihre ganzen Besitztümer aus der alten Welt, zu einem Kochfeuer gebracht und in die Flammen geworfen wurden.
»Nein, nein!« schrie sie.
»Sag ihr«, wandte sich Kamchak an mich, »daß sie schnell Goreanisch lernen muß, wenn sie nicht sterben will.«
Ich übersetzte, und die Fremde schüttelte heftig den Kopf. »Sagen Sie den Leuten, daß ich Elizabeth Cardwell heiße. Ich weiß nicht, wo ich bin — ich will zurück nur in meine Heimat. Ich bin amerikanische Staatsbürgerin und in New York City zu Hause — ich zahle Ihnen alles, jeden Betrag, ich ...«
»Aber Sie haben nichts«, antwortete ich, und sie errötete. »Außerdem haben wir gar nicht die Möglichkeit, Sie wieder nach Hause zu bringen.«
»Wieso?« wollte sie wissen.
»Haben Sie nicht den Unterschied der Schwerkraft bemerkt — auch daß die Sonne hier ganz anders aussieht?«
»O nein!« jammerte sie.
»Sie sind hier nicht auf der Erde«, sagte ich. »Sie sind auf Gor — auf einer zweiten Erde vielleicht, jedenfalls nicht auf Ihrer Heimatwelt. Sie sind auf einem anderen Planeten.«
Sie schloß die Augen und begann zu stöhnen. »Aber wie ... wie ...«
»Das weiß ich nicht.«
Kamchak stieß mich ungeduldig in die Seite.
»Was hat sie gesagt?« fragte er.
»Sie ist natürlich sehr durcheinander«, sagte ich. »Sie möchte in ihre Heimatstadt zurück.«
»Und wie heißt die?« fragte Kamchak.
»New York.«
»Nie davon gehört.«
»Sie ist sehr weit entfernt von hier.«
»Wie kommt es, daß du ihre Sprache sprichst?«
»Ich habe einmal in Ländern gelebt, wo ihre Sprache gesprochen wird. Sie sind sehr weit von hier.«
»Weiter als die Inseln Cos und Tyros?« fragte er.
»Viel weiter«, erwiderte ich. »Zu weit, als daß man den Bosk dorthin treiben könnte.«
Kamchak grinste mich an.
Einer der Reiter meldete sich zu Wort. »Sie war allein. Wir haben die Umgegend abgesucht, aber da war niemand sonst.«
»Wie ist sie hergekommen?« wollte Kamchak wissen.
Ich übersetzte die Frage, und das Mädchen sah mich an, schloß die Augen und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, sagte sie.
Als ich übersetzt hatte, gab Kamchak einem Jungen Zeichen, der eine Haut mit Ka-la-na-Wein herbeibrachte und Elizabeth Cardwell davon zu trinken gab. Erschöpft, verwirrt und staubbedeckt stand das Mädchen von der Erde nackt vor Kamchak von den Tuchuks.
»Sie muß Goreanisch lernen«, sagte der Krieger noch einmal. »Laß sie sagen: ›La Kajira‹.«
»Sie müssen die goreanische Sprache lernen«, wandte ich mich an das Mädchen. »Sagen Sie: ›La Kajira‹.«
Sie blickte mich hilflos an. Dann wiederholte sie: »La Kajira. — Was heißt das überhaupt?«
»Es bedeutet: Ich bin ein Sklavenmädchen.«
»Nein!« rief sie. »Nein! Nein!«
Kamchak nickte den beiden Kaiilareitern zu. »Bringt sie zum Wagen von Kutaituchik.«
Die beiden Reiter wendeten ihre Tiere und verschwanden zwischen den Wagen.
Ich sah Kamchak an. »Hast du ihren Kragen gesehen?« fragte ich.
Er hatte kein Interesse an dem breiten Lederkragen des Mädchens gezeigt.
»Natürlich«, sagte er.
»So einen Kragen habe ich noch nie gesehen«, sagte ich.
»Es ist ein Briefkragen«, sagte Kamchak. »In das Leder ist eine Nachricht eingenäht.«
Meine Verblüffung schien ihn zu amüsieren, denn er lachte »Komm, gehen wir zum Wagen von Kutaituchik.«