15

Turia wurde nun belagert — obwohl die Tuchuks allein die Stadt nicht völlig einkesseln konnten. Die anderen Wagenvölker sahen den Mord an Kutaituchik und die Verwüstung seines Wagens als ein Problem, das man getrost dem Volk der vier Boskhörner überlassen sollte. Sie meinten, daß die Kassars, die Kataii und die Paravaci nichts damit zu tun hätten. Es hatte einige Kassars und auch einige Kataii gegeben, die sich mit in den Kampf stürzen wollten, aber die ruhigen Paravaci hatten diese Leute überzeugt, daß der Streit allein Turia und die Tuchuks anging und nicht die Wagenvölker im allgemeinen. Tatsächlich waren Abgesandte der Stadt auf Tarns zu den drei anderen Wagenvölkern geflogen und hatten deren Ubar versichert, daß die Stadt ihnen gegenüber keinerlei feindliche Absichten hege.

Den Landweg jedoch vermochte die Kavallerie der Tuchuks einigermaßen erfolgreich zu blockieren. Viermal hatten die riesigen Tharlarions der Stadt den Weg freikämpfen wollen, doch jedesmal hatten sich die Hundertschaften zurückgezogen, bis der Angriff sich verzettelt hatte und die Tharlarions von den wenigen Kaiila eingekreist worden waren; und dann fielen die turianischen Reiter rasch den Pfeilen der Tuchuks zum Opfer. Mehrmals hatten Tharlarioneinheiten auch versucht, Karawanen zu schützen, die die Stadt verließen, oder waren erwarteten Karawanen entgegengezogen — aber jedesmal zwangen die schnellen Tuchukreiter diese Wagenzüge zum Umkehren oder brachten die Karawanen bis zum letzten Mann auf.

Am meisten fürchteten die Tuchuks die Tarnsöldner der Stadt, denn diese vermochten relativ ungestört vom Rücken ihrer Tiere aus auf die Krieger zu schießen — aber diese einzige wirksame turianische Waffe vermochte die Tuchuks nicht aus der Nähe der Stadt zu vertreiben. Auf der freien Prärie wehrten sich die Tuchuks, indem sie ihre Hundertschaften in Zehnerschaften aufteilten und somit als kleine und wenige Gruppen kaum Ziele boten. Es ist nicht leicht, vom Rücken eines Tarn aus einen Kaiilareiter zu treffen, wenn dieser sich der Gefahr bewußt ist und Ausweichmanöver macht; wagte sich der Tarnkämpfer sogar zu nahe an sein Ziel heran, waren er und sein Tier dem Gegenfeuer der Tuchuks ausgesetzt, die ihre kleinen Bogen wohl einzusetzen verstanden. Die Schießkünste der Tarnkämpfer sind am wirksamsten gegen Massen von Infantrie oder gegen größere Tharlarioneinheiten. Wichtig war auch die Tatsache, daß viele der Tarnsöldner mit der zeitraubenden und unangenehmen Aufgabe betraut waren, die Stadt aus der Luft mit Nachschubgütern zu versorgen — mit Pfeilholz und Nahrungsmitteln, die teilweise vom fernen Cartius herbeigeschafft werden mußten. Ich vermutete, daß die Söldner, die als Tarnkämpfer einer besonders stolzen Volksgruppe angehörten, den Turianern für diese Dienste einen hohen Preis abverlangten, denn die Zumutung, Lasten zu transportieren, ließ sich nur durch das Gewicht goldener Tarnmünzen einigermaßen mildern. Wasserprobleme gab es in der Stadt nicht, denn sie wurde aus gekachelten Brunnen versorgt, von denen einige viele hundert Meter tief sind; es gibt auch Reservoirs, die aus der Schneeschmelze und durch den Frühlingsregen gespeist werden.

Kamchak saß des öfteren wütend auf seiner Kaiila und beobachtete die fernen weißen Mauern Turias. Er konnte nichts gegen die Luftversorgung der Stadt unternehmen. Ihm fehlten Belagerungsmaschinen, Truppen und die Kriegserfahrung der nördlichen Städte. Er stand hier vor dieser Stadt als Nomade, auf seine Weise von den Mauern gehemmt. »Ich möchte wissen«, sagte ich, »warum die Tarnkämpfer nicht gegen die Wagen vorgegangen sind — etwa mit Brandpfeilen —, warum sie nicht die Bosks angreifen und aus der Luft töten, so daß wir uns zurückziehen müßten.«

Das erschien mir die einfachste Strategie zu sein. Es gab schließlich auf der Prärie keine Möglichkeit, Wagen oder Bosks zu verstecken.

»Es sind Söldner«, knurrte Kamchak geringschätzig.

»Wie meinst du das?«

»Wir haben sie bezahlt, daß sie unsere Wagen nicht verbrennen und die Bosks in Ruhe lassen.«

»Sie erhalten also Geld von beiden Seiten?«

Aus irgendeinem Grund ärgerte mich das, obwohl es mich natürlich freute, daß die Wagen und die Bosks dadurch in Sicherheit waren. Wahrscheinlich war ich wütend, weil ich mich selbst als Tarnkämpfer betrachtete und es mir irgendwie unehrenhaft vorkam, daß die Dienste der mächtigen Tarn gleichermaßen beiden Seiten angeboten wurden.

»Aber«, fuhr Kamchak fort, »letztlich wird Saphrar aus Turia meinen Preis überbieten — und die Wagen werden brennen, und die Bosks werden getötet...« Er knirschte mit den Zähnen. »Noch hat er den Preis nicht erreicht«, sagte Kamchak, »weil wir ihm noch nicht wirklich geschadet haben.«

Ich nickte.

»Wir ziehen uns zurück«, sagte Kamchak. Er wandte sich an einen Untergebenen. »Die Leute sollen sich bereit machen«, sagte er, »die Bosks weiterzutreiben.«

»Du gibst auf?« fragte ich.

In Kamchaks Augen blitzte ein rätselhaftes Feuer auf. Dann lächelte er. »Natürlich.«

Ich zuckte die Achseln.

Ich wußte, daß ich irgendwie in die Stadt eindringen mußte — denn dort lag jetzt die goldene Kugel. Irgendwie mußte ich versuchen, dieses Gebilde in meinen Besitz zu bringen und ins Sardargebirge zu schaffen. War ich nicht aus diesem Grund zu den Wagenvölkern gekommen? Ich verfluchte mich, weil ich so lange gewartet und somit meine Chance vertan hatte. Zu meiner Verbitterung lag das Ei jetzt nicht mehr in einem Tuchukwagen auf offener Prärie, sondern ruhte wahrscheinlich im Hause Saphrars, einer Kaufmannsfestung hinter den hohen weißen Mauern Turias. Ich weihte Kamchak nicht in meine Pläne ein, denn er hätte sich bestimmt gegen meine sinnlose Mission ausgesprochen. Vielleicht hätte er mich sogar am Verlassen des Lagers gehindert.

Andererseits kannte ich die Stadt nicht. Ich hatte keine Ahnung, wie ich sie betreten sollte.

Ein geschäftiger Nachmittag begann. Die Vorbereitungen zum Abmarsch waren in vollem Gange. Schon hatte man die Herden etwas von der Stadt fort nach Westen getrieben. Die Wagenbosks wurden gestriegelt, Zaumzeug und Wagen wurden kontrolliert, Fleisch wurde geschnitten, um in der Sonne getrocknet zu werden. Am nächsten Morgen würden die Wagen in langer Kette den langsam dahintrottenden Herden folgen und Turia zurücklassen. Inzwischen ging die Omenbefragung — auch mit den Haruspexen der Tuchuks — weiter. Ich hatte sagen hören, daß sich die Omen normal entwickelten — es stand also schlecht für die Wahl eines Ubar San.

Seit dem Tod Kutaituchiks hatte sich Kamchaks Art zum Schlechten gewandelt. Er trank und scherzte und lachte nur noch selten. Mir fehlten seine ständigen Wettangebote, seine Bereitschaft, sich im Wettkampf mit mir zu messen. Er wirkte niedergeschlagen, schlechtgelaunt, von einem großen Haß auf Turia und seine Einwohner zerfressen. Besonders Aphris hatte darunter zu leiden. Sie stammte aus Turia. Immer wieder hatte er sie seine Gefühle gegenüber der Stadt spüren lassen. Allerdings war der Sklavenmeister nicht gekommen, weder an jenem ersten Abend, noch an den Tagen danach. Kamchak hatte wichtigere Dinge im Kopf als die Kennzeichnung seiner Sklavinnen, und er begnügte sich damit, die Mädchen abends wieder in den Käfig einzuschließen. Besonders Aphris schien dieses Verhalten zu kränken; seine plötzliche Härte und Gleichgültigkeit machten ihr zu schaffen. Ich versuchte ihn mehrmals zur Besinnung zu bringen, doch ich vermochte ihn nicht umzustimmen. Er sah Aphris an, kehrte in seinen Wagen zurück und saß mit untergeschlagenen Beinen stundenlang da, sagte kein Wort und starrte ins Leere. Die Arbeit am Wagen wurde inzwischen von Tuka und einem anderen Mädchen erledigt, das er mietete. Elizabeth ließ die strenge Behandlung stoisch über sich ergehen, aber manchmal hörte ich sie nachts weinen.

Ich mußte lange suchen, bis ich zwischen den Wagen den Mann fand, den, ich sprechen wollte. Er saß mit untergeschlagenen Beinen im Schatten eines Wagens, die Waffen in ein Ledertuch geschlagen griffbereit neben sich. Es war Harold, der junge blonde blauäugige Tuchuk, den Hereena vom Ersten Wagen so geringschätzig behandelt hatte.

Er aß ein Stück Boskfleisch nach Art eines Tuchukkriegers — er hielt das Fleisch in der Linken und zwischen den Zähnen, schnitt es mit seiner Quiva wenige Millimeter von den Lippen entfernt ab und kaute das losgeschnittene Stück.

Wortlos setzte ich mich neben ihm nieder und sah ihm beim Essen zu. Er beobachtete mich wachsam.

»Wie steht es mit den Bosk?« fragte ich nach einigen Sekunden.

»Nicht schlechter, als zu erwarten war.«

»Sind die Quivas geschärft?«

»Ja, und wir schmieren die Achsen unserer Wagen.« Er reichte mir ein Stück Fleisch und fuhr fort: »Du bist Tarl Cabot, der Korobaner.«

»Ja, und du bist Harold — der Tuchuk.«

Er sah mich an und lächelte. »Ja, ich bin Harold — der Tuchuk.«

»Ich gehe nach Turia«, sagte ich.

»Das ist interessant. Ich gehe auch nach Turia.«

»In wichtiger Mission?«

»Nein.«

»Worum geht es bei dir?«

»Um ein Mädchen. Ich will mir ein Mädchen holen.«

»Ah«, sagte ich.

»Und was hast du in Turia vor?«

»Nichts Wichtiges.«

»Eine Frau?«

»Nein, eine goldene Kugel.«

»Davon habe ich gehört«, sagte Harold. »Sie wurde aus dem Wagen Kutaituchiks gestohlen.« Er sah mich an. »Man sagt, sie sei wertlos.«

»Vielleicht«, sagte ich, »aber ich gehe wohl trotzdem nach Turia und sehe mich mal danach um. Stoße ich zufällig darauf, nehme ich sie vielleicht mit und bringe sie mit zurück.«

»Wo soll deiner Meinung nach die goldene Kugel liegen?«

»Ich vermute, daß sie sich irgendwo im Palast Saphrars, eines turianischen Kaufmanns, befindet.« »Das ist interessant«, sagte Harold, »denn ich hatte mir gedacht, ich versuche mal mein Glück in den Vergnügungsgärten eines turianischen Händlers namens Saphrar.«

»Das ist wirklich interessant. Vielleicht ist es derselbe Mann.«

»Möglich«, sagte Harold. »Ist er klein, ziemlich dick, mit zwei gelben Zähnen?«

»Genau.«

»Das sind Giftzähne — eine turianische Sitte.«

»Ich werde versuchen, mich nicht beißen zu lassen.«

Dann saßen wir noch eine Zeitlang beisammen, ohne etwas zu sagen, und ich sah ihm beim Essen zu. Der Wagen, an dem er saß, gehörte nicht ihm. Er hatte auch keine eigene Kaiila. Soviel ich wußte, besaß Harold kaum mehr als die Kleidung am Leibe, seine Waffen und das Fleisch, das er aß.

»Du wirst in Turia umkommen«, sagte Harold.

»Vielleicht.«

»Du weißt ja nicht einmal, wie du in die Stadt kommst«, sagte er.

»Das stimmt.«

»Ich kann nach Belieben in die Stadt«, sagte er. »Ich kenne einen Weg.«

»Vielleicht kann ich dich begleiten.«

»Vielleicht«, sagte er und wischte seine Quiva am Ärmel ab.

»Wann gehst du nach Turia?« fragte ich.

»Heute nacht.«

Ich sah ihn an. »Warum hast du so lange gewartet?«

»Kamchak sagte mir, ich sollte auf dich warten«, erwiderte er lächelnd.

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