Als Kamchak und ich die Stufen des Wagens hinabeilten, herrschte draußen schon lebhaftes Treiben. Männer eilten hin und her, einige mit Fackeln bewaffnet; Kaiilahufe donnerten. Grüne, blaue und gelbe Kriegslaternen brannten bereits auf Pfählen in der Dunkelheit, zur Kennzeichnung der Versammlungsorte für die Orlus, die Hundertschaften, und der Oralus, der Tausendschaften. Jeder Krieger der Wagenvölker gehört zu einer Or, einer Zehnerschaft, jede Zehnerschaft gehört zu einer Orlu, einer Hundertschaft, die ihrerseits einen festen Platz in einer Oralu, einer Tausendschaft, hat. Wer die Wagenvölker nicht kennt oder sie nur bei ihren schnellen Überfällen erlebt hat, hält sie manchmal für unorganisiert, für eine wilde Kriegerhorde — aber das ist nicht der Fall. Jeder Mann kennt seine Position. Während des Tages werden die Bewegungen dieser Einheiten durch das Boskhorn und Standarten bestimmt; bei Nacht durch Boskhörner und Kriegslaternen, die von einzelnen Reitern an langen Stangen mitgeführt werden.
Kamchak und ich bestiegen die Kaiila und kehrten im Galopp zu unserem Wagen zurück.
Wenn die Boskhörner erklingen, machen die Frauen der Wagenvölker die Waffen für ihre Männer bereit. Die Bosks werden angeschirrt, und man beobachtet die Zeichen der Kriegslaternen, um zu sehen, ob etwa die Wagen fortgefahren werden müssen.
Aphris hatte die Bosks bereits eingespannt. Kamchak sprang von der Kaiila und trat das Feuer aus. »Was ist los?« rief Aphris. Kamchak faßte sie grob am Arm, zerrte sie vor den Sleenkäfig, in dem Elizabeth kauerte, und schob sie zu dem anderen Mädchen hinein. Er konnte kein Risiko eingehen. Auf die verzweifelten Rufe Aphris’ hörte er nicht, sondern warf mir Lanze und Bogen zu. Dann sprang er in den Sattel seiner Kaiila und raste los.
Gleich darauf hatten wir die Herden erreicht. Dort hatten sich bereits die Tausendschaften gebildet, lange Reiterketten warteten mit stoßbereit erhobener Lanze.
Kamchak gliederte sich in keiner Zehnerschaft oder Hundertschaft ein. Er ritt vielmehr vor die Masse der Reiter, galoppierte zu einigen Kriegern hinüber, die dort bereits warteten. Hier hielt er hastig Kriegsrat, und ich sah, wie er den Arm hob. Rote Kriegslaternen stiegen in die Höhe, und zu meiner Verblüffung öffnete sich die gewaltigen Boskherden, von den Herdensleen zur Seite gebissen, und die Kette der Reiter, den Kriegslaternen folgend, strömte mit unglaublicher Präzision wie ein Fluß zwischen den Bosks hindurch.
Ich ritt an Kamchaks Seite, und nach wenigen Augenblicken hatten wir die beunruhigte Herde hinter uns gelassen und waren auf der freien Ebene. Im Licht der goreanischen Monde erblickten wir hingemetzelte Bosks, einige hundert Tiere und dahinter etwa tausend Tharlarionsreiter, die sich hastig zurückzogen.
Anstatt die Verfolgung aufzunehmen, zügelte Kamchak plötzlich seine Kaiila. Ich sah, daß eine gelbe Laterne auf halber Höhe schimmerte.
»Warum verfolgen wir sie nicht?« brüllte ich.
»Wartet!« schrie er. »Wir haben uns hereinlegen lassen. Hört ihr?«
In der Ferne hörten wir donnerndes Flügelschlagen, und dann entdeckten wir vor den goreanischen Monden die Silhouetten von Tarnkämpfern, die ins Lager herabstießen. Es waren wohl achthundert oder tausend Vögel. Ich hörte das Dröhnen der Tarntrommel, die den Formationsflug lenkte.
»Wir sind Narren!« brüllte Kamchak und riß seine Kaiila herum. »Jeder zu seinem eigenen Wagen zurück!«
Ich sah zwei gelbe und eine rote Laterne an den Pfählen.
Das Auftauchen von Tarnkämpfern so weit im Süden erstaunte mich. Soviel ich wußte, befand sich die nächste Tarnkavallerie im fernen Ar. Gewiß stand Ar nicht im Krieg mit den Tuchuks!
Also mußte es sich um Söldner handeln! Kamchak kehrte nicht zu seinem eigenen Wagen zurück, sondern galoppierte, von hundert Männern gefolgt, auf den Hügel zu, auf dem die Standarte der vier Boskhörner und der riesige Wagen Kutaituchiks standen, der Ubar der Tuchuks genannt wurde.
Bei den Wagen hätten die Tarnkämpfer nur Sklaven, Kinder und Frauen gefunden — aber kein Wagen war angezündet oder beraubt worden.
Wieder hörten wir das donnernde Flügelschlagen, und die Horde der Tarns rauschte über uns dahin. Einige Tuchukpfeile schwirrten sinnlos in den Himmel, fielen zwischen den Wagen wieder zu Boden.
Die zusammengenähten bunten Boskhäute, die die Riesenkuppel über Kutaituchiks Wagen gedeckt hatten, hingen zerfetzt herab. Wo sie nicht zerrissen waren, gähnten unzählige Löcher, als hätte der Gegner mit Dolchen immer wieder zugestochen und jede freie Stelle zu treffen versucht.
Fünfzehn oder zwanzig Wächter lagen tot am Boden, zumeist von zahllosen Pfeilen getroffen.
Kamchak sprang aus dem Sattel seiner Kaiila, riß eine Fackel aus einer Halterung und betrat den Wagen.
Ich folgte ihm und blieb verblüfft stehen. Tausende von Pfeilen waren durch die Kuppel in den Wagen gefeuert worden. Man konnte keinen Schritt tun, ohne auf Pfeilholz zu treten, das unter den Sohlen zerbrach. In der Mitte des Wagens hockte Kutaituchik, allein, vornübergebeugt — von fünfzehn oder zwanzig Pfeilen durchbohrt. Zu seiner Rechten stand der goldene Kandakasten. Ich sah mich um. Der Wagen war ausgeraubt worden — wahrscheinlich der einzige Wagen überhaupt.
Kamchak trat näher und setzte sich mit untergeschlagenen Beinen vor den alten Toten und barg das Gesicht in den Händen.
Ich störte ihn nicht.
Andere drängten hinter uns in den Wagen, doch sie hielten sich im Hintergrund.
Ich hörte Kamchak stöhnen: »Die Bosk entwickeln sich zur Zufriedenheit«, sagte er. »Die Quivas — ich werde versuchen, sie scharf zu halten. Ich werde dafür sorgen, daß die Wagenachsen gut geschmiert sind.« Dann neigte er den Kopf und begann zu schluchzen, wobei er sich vor und zurück wiegte.
Außer seinem Schluchzen war nur das Knistern der Fackel zu hören, die die Reste der zerfetzten Kuppel erleuchtete. Hier und dort sah ich umgestürzte Truhen, verstreute Juwelen, zerrissene Roben und Stoffe. Die goldene Kugel war nicht zu entdecken.
Wenn sie hier aufbewahrt worden war, hatte man sie mitgenommen.
Endlich stand Kamchak auf.
Er wandte sich zu mir um. Tränen schimmerten in seinen Augen. »Er ist früher ein großer Krieger gewesen«, sagte er.
Ich nickte.
Kamchak sah sich um, nahm einen der Pfeile zur Hand und brach ihn mitten durch.
»Das haben die Turianer auf dem Gewissen!« sagte er.
»Saphrar?«
»Kein Zweifel«, sagte Kamchak. »Wer sonst könnte Tarn-Söldner anwerben oder für die Ablenkung sorgen, die uns Narren zur Herde lockte? Er wollte die goldene Kugel.«
Ich schwieg.
»So wie du, Tarl Cabot.«
Ich starrte ihn verblüfft an.
»Aus welchem Grund hättest du sonst zu den Wagenvölkern kommen sollen?«
Ich brachte zuerst kein Wort heraus. »J-ja«, sagte ich schließlich. »Du hast recht. Ich möchte die Kugel für die Priesterkönige holen. Sie ist ihnen wichtig.«
»Sie ist wertlos«, sagte Kamchak.
»Nicht für die Priesterkönige«, sagte ich.
Kamchak schüttelte den Kopf. »Nein, Tarl Cabot«, sagte er fest, »die goldene Kugel ist wirklich wertlos.«
Der Tuchuk sah sich traurig um und betrachtete noch einmal die vornübergebeugte Gestalt Kutaituchiks. »Er war ein großer Mann!«
Ich nickte. »Es wird nun einen neuen Ubar der Tuchuks geben müssen«, bemerkte ich.
Kamchak blickte mich an. »Nein«, sagte er.
»Kutaituchik«, sagte ich, »ist tot.«
Kamchak sah mich ruhig an. »Kutaituchik war nicht Ubar der Tuchuks.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Er wurde Ubar der Tuchuks genannt«, sagte Kamchak, »aber er war es nicht.«
»Wie ist das möglich?« »Wir Tuchuks sind nicht ganz so dumm, wie die Turianer annehmen. Wegen eines solchen Angriffs wartete Kutaituchik hier im Wagen des Ubar.«
Ich schüttelte verwundert den Kopf.
»Er wollte es so«, sagte Kamchak. »Er wollte es so.« Er fuhr sich mit dem Arm über die Augen. »Er sagte, zu mehr tauge er in seinem Alter nicht mehr — nur noch hierfür und für nichts sonst.«
Ein großartiger Plan.
»Dann ist der wirkliche Ubar der Tuchuks also noch am Leben«, sagte ich.
»Ja.«
»Wer weiß aber, wer der wirkliche Ubar ist?«
»Die Krieger wissen es. Die Krieger.«
»Und wer ist Ubar der Tuchuks?«
»Ich.«