2

Dabei fragte ich mich nicht zum erstenmal, was ich, Tarl Cabot, auf der Erde geboren und später Krieger der goreanischen Stadt Ko-ro-ba, der Türme des Morgens, eigentlich hier suchte.

In den langen Jahren seit meinem ersten Besuch auf der Gegenerde hatte ich viele Dinge gesehen und erlebt, hatte manche Gefahren und erstaunliche Situationen überstanden, hatte auch manche Freuden genießen können — doch ich wußte nicht, ob ich je etwas so Unvernünftiges, ja, Törichtes getan hatte wie jetzt.

Vor einigen Jahren waren am Höhepunkt einer seit Jahrhunderten schwelenden Intrige zwei Männer, Angehörige zweier goreanischer Städte, von den Priesterkönigen mit einer geheimen gefahrvollen Aufgabe betraut worden — sie sollten einen Gegenstand zu den Wagenvölkern bringen, die nach allgemeiner Auffassung zu den freiesten, isoliertesten und wildesten Volksgruppen des Planeten gehörten — einen Gegenstand, den sie sicher aufbewahren sollten.

Die beiden Gesandten hatten ihre Aufgabe erfüllt, doch sie waren später bei einem Krieg zwischen ihren Städten umgekommen und hatten das Geheimnis ihrer Mission mit ins Grab genommen. Ich selbst hatte im Sardargebirge davon erfahren und hatte den Eindruck, daß außer mir vielleicht nur wenige Angehörige der Wagenvölker die wahre Bedeutung des geheimnisvollen Gegenstands kannten — und um ehrlich zu sein, nicht einmal ich wußte, ob ich ihn erkennen würde, wenn ich ihn zu Gesicht bekam.

Konnte ich, Tarl Cabot, ein Mensch, dieses Objekt finden und es nach dem Wunsch der Priesterkönige ins Sardargebirge zurückbringen, wo es seine einzigartige und einmalige Rolle im Geschick dieser barbarischen Welt spielen mußte?

Ich wußte es nicht. Aber worum handelte es sich bei diesem Gegenstand?

Man könnte ihn als das Ziel heftiger Intrigen bezeichnen, als Quell tiefgreifender Zwistigkeiten unter dem Sardargebirge — Auseinandersetzungen, von denen die Menschen Gors nichts ahnten —, als die kostbare, einzige Hoffnung einer uralten unglaublichen Rasse, als Same, ein Stück lebendiges Gewebe, die schlummernde Fähigkeit zur Wiedergeburt, der Same der Götter, ein Ei — das letzte und einzige Ei der Priesterkönige.

Aber warum setzten sich die Priesterkönige nicht selbst auf seine Spur — mit ihren Flugschiffen und ihren durchschlagenden Waffen und fantastischen Geräten?

Priesterkönige ertragen die Sonne nicht. Sie sind nicht wie die Menschen, und niemand würde sie für Priesterkönige halten. Die Menschen stellten sich die Priesterkönige nach ihrem eigenen Ebenbild vor. Ein Priesterkönig hatte mir einmal gesagt: »Der Mensch ist dem Menschen gegenüber wie ein Larl; wenn wir es zuließen, würde er auch uns Priesterkönige so behandeln.«

So war ich losgezogen — weil ich von der Bedeutung meiner Mission überzeugt war, und weil sie meinem Freund Misk etwas bedeutete, von dem an anderer Stelle die Rede ist. Ein Großteil seines Lebens galt dem Traum eines neuen Lebens für die Priesterkönige, neuen Nachkommen, einem neuen Anfang.

Ich erinnerte mich an die stürmische Nacht im Schatten des Sardargebirges, als wir uns über seltsame Dinge unterhielten, als ich ihn schließlich verließ und mich beim Anführer meiner Reisegruppe nach dem Weg in das Land der Wagenvölker erkundigte.

Nun hatte ich sie gefunden.

Wenn ich meine Mission erfolgreich abschloß, war das vielleicht die Rettung für meine Mitmenschen, die die Priesterkönige dann weiterhin vor der Selbstvernichtung durch eine unkontrollierte technologische Entwicklung bewahren mochten. Aber der herausragende Grund für meine Bemühungen war meine Freundschaft zu Misk, der ein Priesterkönig war.

Wie sollte ich aber vorgehen? Konnte ich einfach zu den Wagenvölkern kommen, mich als Tarl Cabot aus Ko-ro-ba vorstellen? Sagen: »Ich bringe zwar keine Beweise, keine Referenzschreiben, aber ich komme von den Priesterkönigen und möchte gern den Gegenstand abholen, den ihr für sie verwahrt. Sie möchten ihn nämlich gern zurück haben. Vielen Dank. Auf Wiedersehen«?

Ich lachte. Es war besser, wenn ich zunächst möglichst wenig sagte.

Der Gegenstand war vielleicht gar nicht mehr bei den Wagenvölkern. Außerdem gab es vier Stämme — die Paravaci, die Kataii, die Kassars und die gefürchteten Tuchuks. Wer konnte wissen, bei welchem Volk das Ei hinterlegt worden war?

Vielleicht war es versteckt worden und längst vergessen? Vielleicht wurde es angebetet, vielleicht war es ein Sakrileg, auch nur daran zu denken!

Und wenn ich das Ei in meinen Besitz brachte, wie wollte ich es fortschaffen?

Ich hatte keinen Tarn, keinen der wilden Reitvögel dieser Welt; ich hatte auch keinen Tharlarion, wie sie von den Kriegern vieler Städte als Reittier benutzt werden.

Ich war zu Fuß unterwegs auf den baumlosen südlichen Ebenen Gors, auf den Ebenen Turias, im Land der Wagenvölker.

Wie es hieß, brachten die Wagenvölker einen Fremden sofort um. Das Wort für Fremder und Feind ist in der goreanischen Sprache identisch.

Ich mußte mich offen nähern, da ein Anschleichen wegen der Herdensleen unmöglich war — gezähmte Wachtiere, die bei Einbruch der Dunkelheit aus ihren Käfigen gelassen wurden, um die Herden zu bewachen.

Es überrascht mich, wie weit ich noch von den Herden entfernt gewesen war. Zwar sah ich die hochwallenden Staubwolken und spürte das Zittern der Erde schon seit einiger Zeit, aber noch hatte ich mein Ziel nicht erreicht.

Jetzt allerdings hörte ich das Brüllen der Bosks, das vom Wind herangetragen wurde. Staub verdunkelte den Himmel. Gras und Boden schienen unter meinen Füßen zu vibrieren.

Ich kam an brennenden Feldern und Hütten vorbei, an rauchenden Ruinen von Sa-Tarna-Kornkammern, an den niedergerittenen Zäunen von Korrälen. Schließlich entdeckte ich am Horizont eine gezackte Linie, höckrig dahinrollend wie eine wogende Flut, wie eine lebendige Woge, die aus der Erde aufzusteigen schien und in einem gewaltigen Bogen sich weiterwälzend von einer Ecke des Blickfelds bis zur anderen erstreckte. Die Herden der Wagenvölker, die den Staub wie Flammen zum Himmel züngeln ließen; wie ein Gletscher aus Fell und Hörnern, der sich über die Prärie in meine Richtung schob.

Und dann sah ich den ersten Vorreiter, der mir ohne Eile entgegenkam. Ich machte die schlanke Linie seiner Lanze aus, die er auf dem Rücken trug.

Ich erkannte einen kleinen runden Lederschild, der schwarz lackiert zu sein schien; er trug einen konischen fellbesetzten Eisenhelm, ein farbiges Kettennetz schützte sein Gesicht und ließ nur die Augen frei. Er war mit einer gefütterten Jacke bekleidet; sie war pelzbesetzt und hatte einen Pelzkragen; seine Stiefel bestanden aus Boskleder und waren ebenfalls pelzgesäumt; um die Hüften trug er einen breiten Gürtel.

Er saß sehr aufrecht im Sattel. Die Lanze blieb auf dem Rücken, aber in der Rechten hielt er den kleinen, kräftigen Hornbogen der Wagenvölker, und am Sattel befand sich ein lackierter, rechteckiger Köcher, der bis zu vierzig Pfeilen enthalten konnte. Am Sattel hing auch ein zusammengerolltes Lasso aus geflochtenem Boskleder, und auf der anderen Seite eine lange Bola mit drei Gewichten, die für die Jagd auf Tumits und Menschen bestimmt ist; am eigentlichen Sattel, und zwar auf der rechten Seite, was darauf hindeutete, daß der Reiter Rechtshänder war, befanden sich die sieben Scheiden für die fast legendären Quivas, die ausbalancierten Sattelmesser der Prärie. Es hieß, daß die Nachkommen der Wagenvölker im Gebrauch des Bogens, der Quiva und der Lanze unterwiesen wurden, noch ehe sie einen Namen erhielten.

Die Wagenvölker führten oft Krieg untereinander, aber einmal in zehn Jahren kommen alle Völker zusammen, und in diesem Jahr war es wieder soweit. Bei den Wagenvölkern heißt diese Zeit das Omenjahr, obwohl es sich dabei nicht um ein ganzes Jahr, sondern nur um eine Jahreszeit handelt. Die Wagenvölker rechnen das Jahr von der Zeit des Schnees bis zur Zeit des Schnees; das Omenjahr dauert mehrere Monate und besteht aus drei Phasen — der Passage von Turia, die im Herbst stattfindet, aus dem Überwintern, das nördlich von Turia und südlich des Cartius stattfindet, wobei der Äquator in dieser Hemisphäre natürlich im Norden liegt; und aus der Rückkehr nach Turia im Frühling oder, wie die Wagenvölker sagen, zur Zeit des Kurzen Grases. Nahe der Stadt Turia, im Frühling, wird das Omenjahr dann abgeschlossen; dort werden die Omen ausgesprochen, gewöhnlich von mehreren hundert Haruspexen, die Boskblut und Verrleber lesen, um zu bestimmen, ob die Zeichen günstig stehen für die Wahl eines Ubar San, eines Hohen Ubar für alle Wagenvölker.

Wie ich gehörte hatte, waren die Omen jedoch seit über hundert Jahren nicht mehr günstig gewesen. Ich vermutete, daß dies an den Feindseligkeiten und Streitereien zwischen den Völkern liegen mochte, die eigentlich gar keine Einigkeit wollten. Die Haruspexe mußten sich dieser Tatsache bewußt sein. Außerdem wäre es für Turia oder die anderen Städte im Norden nicht gut gewesen, wenn sich die isolierten wilden Völker der Ebenen unter einem Banner vereint und ihre Herden nach Norden getrieben hätten — aus den trockenen Ebenen auf die saftigeren Weiden der Täler des östlichen Cartius und vielleicht sogar weiter den Vosk hinauf.

Vor tausend Jahren, so hieß es, hatten die Wagenvölker schon einmal Tod und Vernichtung bis vor die Tore Ars und Ko-ro-bas getragen.

Der Reiter hatte mich bereits von weitem gesehen und ritt langsam auf mich zu. Das Reittier der Wagenvölker, in den nördlichen Gegenden unbekannt, ist die erschreckende, aber schöne Kaiila. Es ist ein fleischfressendes, hochmütiges Wesen mit seidigem Fell, langem Hals und sanftem, anmutigem Gang. Es ist lebendgebärend und zweifellos ursprünglich ein Säugetier, obwohl die Jungen nicht gesäugt werden. Die Jungtiere beginnen kurz nach der Geburt zu jagen. Es gehört zu den Instinkten der Mutter, ihre Kinder grundsätzlich in der Nähe von Beutetieren zur Welt zu bringen. Bei der gezähmten Kaiila wurde eine gefesselte Verr oder ein Gefangener dem neugeborenen Tier zum Fraße vorgeworfen.

Die Kaiila ist sehr beweglich und somit dem langsameren bedächtigeren Tharlarion überlegen. Sie braucht auch weniger Nahrung als ein Tarn.

Der Kopf der Kaiila weist zwei große Augen auf, die von dreifachen Lidern gegen die Sandstürme in den Prärien geschützt werden.

Der Reiter hatte seine Kaiila nun gezügelt und wartete auf weitere drei Krieger, die hinter ihm aufgetaucht waren und mich nun einzukreisen begannen. Zu meiner Linken bezog ein Mann mit gelblackiertem Schild Position. Er trug ein Windtuch als Mundschutz vor dem Gesicht. Ein Kataii, sagte ich mir. Der dritte Reiter hatte einen roten Schild. Das Blutvolk also, die Kassars. Ich wandte mich um und war nicht überrascht, den vierten Reiter hinter mir zu entdecken. Er trug einen Umhang aus weißem Fell und eine weiße Kappe, die den konischen Metallhelm locker verhüllte. Das Leder seines Wamses war schwarz. Seine Gürtelschnalle bestand aus Gold. Die Lanze hatte einen Widerhaken, mit dem er einen berittenen Gegner aus dem Sattel zerren konnte. Um den Hals trug er ein breites Juwelenband. Ich sollte später erfahren, daß es sich hierbei um eine Herausforderung an die Gegner handelte; sie soll zu einem Angriff animieren, damit der Reiter sein Waffengeschick unter Beweis stellen kann, ohne lange nach Gegnern zu suchen. Nach der Aufmachung handelte es sich um einen Paravaci, um einen Angehörigen des Reichen Volkes, des reichsten Wagenvolkes.

»Tal!« rief ich und hob meine Hand. »Ich bin Tarl Cabot und komme in Frieden!«

Ich sah, wie die Kaiila erstarrten, ihre Flanken zu zittern begannen.

»Sprecht ihr Goreanisch?« rief ich.

Die Lanzen zuckten herab. Die Speere der Wagenvölker sind flexibel und leicht, dabei scharf wie Schwerter; sie werden mit einer Schlaufe gehalten, damit sie auch im Nahkampf nicht verlorengehen. Sie werden selten geworfen.

Der Mann hinter mir sagte in stark gefärbtem Goreanisch: »Ich bin Tolnus von den Paravaci.« Von links ertönte der Schrei: »Und ich bin Conrad von den Kassars!« Rechts dröhnte ein Lachen: »Ich bin Hakimba von den Kataii!« Die Reiter zogen ihre Windtücher herab. Auch der Reiter vor mir hob seine farbige Kettenmaske in die Höhe. Ich schaute in die Gesichter von vier Männern, Krieger der Wagenvölker. Jedes dieser Gesichter wies parallele farbige Narben auf, die mich an die Gesichtszeichen primitiver Erdvölker erinnerten. Hier jedoch schienen zeremonielle Gründe ausschlaggebend zu sein, Zeichen des Ruhms und des Status, der Arroganz und des Stolzes. Die Narben waren mit Nadeln und Messern eingeritzt und mit Pigmenten und Boskdung in die Haut gegerbt worden, paarweise angeordnet, von der Wange in Richtung Nase verlaufend. Jeder der Männer hatte solche Narben, jedoch anders geordnet. Der Anblick dieser Narben, dieser häßlichen, erschreckenden Zeichen, die vielleicht auch Feinde einschüchtern sollten, ließ mich einen Augenblick daran denken, daß die Wagenvölker vielleicht gar keine Menschen waren, sondern Angehörige einer fremden Rasse, Wesen, die von den Priesterkönigen aus irgendeinem unerfindlichen Grund auf diese Welt gebracht worden waren. Aber ich erinnerte mich rechtzeitig an die alten Gerüchte über den schrecklichen Narbenkodex der Wagenvölker, wonach jede Narbe eine Bedeutung hatte, die von den Angehörigen der Paravaci, der Kassars, der Kataii und der Tuchuks klar abgelesen werden konnte, als hätten sie ein Buch vor sich. Damals wußte ich nur von der Mutnarbe, die sich stets ganz oben befindet und ohne die es keine anderen Narben gibt. Die Wagenvölker schätzen Mut über alles.

Nun hob der Mann vor mir seinen kleinen lackierten Schild. »Hör meinen Namen!« rief er. »Ich bin Kamchak von den Tuchuks!«

Kaum hatte er geendet, kaum hatten die Männer ihre Namen genannt, als sich auch schon alle vier Kaiila wie auf ein geheimes Zeichen in Bewegung setzten und sich wutschnaubend auf mich stürzten. Die Reiter waren nach vorn gebeugt, die Lanzen weit vorgestreckt, bemüht, mich als erster zu erreichen.

Загрузка...