3 Der König unter dem Hügel

Es war doch wunderbar, überlegte Eilin, wie sich in der kurzen Spanne einer Stunde das Leben und die Zukunftsaussichten eines Menschen dramatisch ändern konnten. Ihre neue Verantwortung Heß ihr keine Zeit mehr zum Grübeln. Yazour hatte die alte Feuerstelle in den Überresten der Küche ihres zerstörten Inselturms freigeräumt. Jetzt errichtete er an dem einzig intakten Teil der Mauer einen primitiven Schuppen. Obwohl Eilin ihre mächtigsten Gedanken ausgesandt hatte, war sie außerstande gewesen, die Wölfe zu finden, die gemeinsam mit Aurian den weiten Weg aus den südlichen Bergen bis hierher gemacht hatten. So traurig es war, sie schienen im Feuer umgekommen zu sein. An ihrer Stelle hatte die Magusch ein Wolfspaar aus dem Tal ausfindig gemacht und herbeigerufen. Die beiden Wölfe hatten im Augenblick eine eigene Familie und waren Nachfahren von Aurians Kindheitsgefährten – und Wölfe hatten innerhalb ihrer eigenen Rasse ein langes Gedächtnis. Sie waren glücklich und fühlten sich zutiefst geehrt, den Sohn der Magusch und den Enkelsohn der Lady vom Tal als Ziehkind annehmen zu dürfen.

Iscalda sah jetzt schon viel besser aus. Obwohl Eilin nicht über die besonderen Heilkräfte ihrer Tochter verfügte, hatte sie die geringfügigeren Verletzungen der Stute, die Kratzer und die kleinen Schnittwunden, gesäubert und anschließend ihre Zauberkräfte benutzt, um Iscaldas Schmerzen zu lindern und das Zusammenwachsen des Fleisches zu beschleunigen. Sie dankte den Göttern dafür, daß das verletzte Vorderbein nicht gebrochen war, obwohl die Muskeln eine schwere Zerrung davongetragen hatten. Eilin hatte alles in ihrer Kraft Stehende getan, aber Iscalda würde wahrscheinlich trotzdem noch eine ganze Weile lahmen. Am Ende hatte die Magusch auf Yazours Anraten auf die Heilmittel der Sterblichen zurückgegriffen und das verletzte Glied in eine warme Kompresse aus Moos und Kräutern gehüllt.

Eilin war froh, daß sie doch noch auf Yazour gehört hatte. Als er ihr das erste Mal vorschlug, bei ihr zu bleiben, hatte sie ihn mit einem kurzen Nein abgefertigt. Aber nach eingehender Überlegung hatte sie doch ihre Meinung geändert – und es stellte sich heraus, daß dies eine der besten Entscheidungen ihres Lebens gewesen war. Der tüchtige junge Mann war Aurians Freund gewesen, und seine Geistesgegenwart sprach eindeutig für ihn. Dankbar sog Eilin den köstlichen Duft des Wildbrets ein, das Yazour auf einem Spieß übers Feuer gehängt hatte. Er kann nicht nur jagen und Spuren lesen, er kann auch noch kochen, dachte sie mit einem Lächeln. Wenn ich meine Tochter wiedersehe – und ich muß weiter daran glauben, daß ich sie wiedersehen werde –, muß ich sie zu der Wahl ihrer Gefährten beglückwünschen. Die Magusch verspürte schon lange nicht mehr den Wunsch, den jungen Mann fortzujagen. Die Entdeckung Wolfs hatte alles geändert. Eilin mußte zwar immer noch ihr Heim wiederaufbauen und ihr Tal zu neuem Leben erwecken, aber die zusätzliche Verantwortung für ihren Enkel hatte sie gezwungen, ihre Vorstellungen schleunigst zu überdenken. Zu den Dingen, die der arme Forral sie gelehrt hatte, gehörte die Einsicht, daß es keine Schande war, ein ehrliches Hilfsangebot anzunehmen, genausowenig, wie sie sich dafür schämen mußte zuzugeben, daß sie nicht alles allein tun konnte. Aus bitterer Erfahrung wußte sie, was geschehen würde, wenn sie sich übernahm – Wolf würde derjenige sein, der darunter litt, und das arme Kind hatte schon schwer genug zu tragen. Sie wollte bei ihm nicht dieselben Fehler machen wie bei Aurian.

Trotz der Demütigungen, die sie ihm zugefügt hatte, brachte Hellorin es einfach nicht fertig, der Magusch lange zu zürnen. Wenn er daran dachte, wie sie allein in ihrem Tal saß, ihr Heim zerstört und ihre Tochter genauso verschollen wie sein Sohn, tat sie ihm leid. Nichtsdestoweniger hatte sie einen großen Teil ihrer Einsamkeit selbst verschuldet – und er mußte sich vor einer Horde wütender und ungeduldiger Phaerie rechtfertigen. Es durfte Eilin nicht gestattet sein, sich dem Willen des Waldfürsten zu widersetzen. Er hatte die Absicht gehabt, vor ihr zu erscheinen und zu sagen: »Siehst du? Schon jetzt vermißt du den Luxus, den nur ich dir bieten kann.« Er konnte von Glück sagen, daß er beschlossen hatte, sich zuerst ein genaues Bild von der Situation zu machen, sonst hätte er wie ein absoluter Narr dagestanden.

Zähneknirschend und mit finsterem Blick sah Hellorin zu der Insel hinüber und beobachtete die geschäftige Häuslichkeit dort. Was hatte dieses elende Weibsbild in seiner Abwesenheit nur alles ausgeheckt? Und wer war dieser verfluchte Sterbliche? Er hatte erwartet, Eilin allein, gramerfüllt und verzweifelt vorzufinden – und sehr verletzlich. Er hatte mit ihr feilschen wollen – ihr seine Hilfe beim Wiederaufbau ihres Turmes anbieten wollen, falls sie die Phaerie wieder im Tal willkommen hieß. Aber jetzt, da die Magusch so beschäftigt, so energisch und überhaupt nicht mehr einsam schien, verließ ihn der Mut.

Der Herr der Phaerie beobachtete das Treiben auf der Insel, bis die langen blauen Schatten, die dem Sonnenuntergang vorangingen, ihre kräftigen Arme ausstreckten und das Tal umschlossen. Zum ersten Mal fragte er sich, warum er dieser Frau weiter nachstellte – und mußte zu seinem maßlosen Erstaunen feststellen, daß ihm ihre trotzige Gesellschaft und ihre scharfe Zunge mehr fehlten, als er das je für möglich gehalten hätte. Wie sehr sie ihn an Adrina erinnerte, D’arvans Mutter, die ebenfalls eine Magusch und bis zu diesem Tag seine einzige Liebe gewesen war.

Und gleichfalls zum ersten Mal in einem unglaublich langen Leben mußte Hellorin feststellen, daß er nicht immer seinen Willen durchsetzen konnte – daß es eine unbezähmbare Persönlichkeit gab, die ihm, wenn es ihr gefiel, bis zu ihrem letzten Atemzug trotzen und die Stirn bieten würde. Obwohl er ihr natürlich seinen Willen aufzwingen konnte, indem er sie an ihre Schuld ihm gegenüber erinnerte – eine Schuld, die er jederzeit einfordern konnte –, wollte er sie sich doch auf keinen Fall zur Feindin machen. Dafür hatte er ihre Kämpfe und ihre regelmäßigen Wortgefechte viel zu sehr genossen. Außerdem begriff er – obwohl Gewissen und Reue bisher Fremdworte für ihn gewesen waren –, daß sein gestriges Benehmen die Magusch entsetzt und abgestoßen haben mußte. Er wollte sich bei ihr auf keinen Fall weiter ins Unrecht setzen.

Zum ersten Mal gestand Hellorin sich eine harte und schmerzliche Wahrheit ein – daß er nämlich trotz all seiner Macht den Konsequenzen seiner eigenen Taten nicht entrinnen konnte. Wenn er gestern Eilins verzweifelte Bitten nicht ignoriert hätte, würde sie ihm heute nicht aus dem Weg gehen – und er hätte vielleicht auch seinen Sohn nicht verloren. Die Wiederentdeckung der Xandim war ein zu hoher Preis für das, was er verloren hatte. Nun waren die Pferde alles, was seine Rückkehr in die Welt der Sterblichen ihm eingebracht hatte – und er würde auch weiter grimmig an ihrem Besitz festhalten.

Nun denn, so sei es. Hellorin richtete sich auf. Es war eine bittere Medizin, die er da zu schlucken hatte, aber er würde sich wohl seinen eigenen Fehlern stellen müssen – und später herausfinden, wie er verlorenen Boden wiedergutmachen konnte. Wenn er sich der Magusch aufzwang, würde ihm das nichts als Scherereien einbringen. Früher oder später würde Eilin seine Hilfe brauchen – und bis dahin mußte er sich gedulden. In der Zwischenzeit – wer brauchte schon Eilins kostbares Tal? Statt dessen würde er eine Stadt erbauen, ein prächtiges und wunderbares Heim für die Phaerie.

Diese Idee war in der vergangenen Nacht geboren worden – auf den trostlosen, ungastlichen Mooren fernab des Tals –, und seitdem nahm sie in seinen Gedanken immer mehr Gestalt an. Während Hellorin seine ersten Pläne schmiedete, spürte er, wie ihm das Herz im Leibe klopfte. Nein wirklich, eine solche Herausforderung war ihm seit Äonen nicht mehr begegnet! Er erinnerte sich an einen Ort hoch oben im Norden, jenseits des Tales, in den hohen, windgepeitschten Bergen, in die sich kaum je ein menschliches Wesen verirrte. Dort gab es eine tiefe, breite Felsspalte zwischen den Armen eines mächtigen Bergs, mit steilen, fichtenbestandenen Hängen zu beiden Seiten. Diese Hänge bargen in ihrem Schoß einen grauen, nebligen See – den Bergsee der Fliegenden Pferde hatte man ihn in alten Zeiten getauft, denn er war buchstäblich für jeden außer den Phaerie und ihren magischen Rössern unerreichbar. Am Eingang des Tales erhob sich von diesem See aus ein hoher, grüner Hügel – der Felsturm der Fliegenden Pferde. Das war der perfekte Platz für seine Stadt.

Hellorins Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Selbst mit magischer Hilfe würde es seine ganze Kraft erfordern, aus dem Nichts eine solche Stadt aufzubauen. Er würde viele sterbliche Sklaven brauchen, wenn er in so großem Stile bauen wollte. Was für ein herrlicher Spaß es für seine Phaerie sein würde, Nexis und die niedereren menschlichen Behausungen auf der Suche nach Sklaven zu plündern! Es würde genauso sein wie in alten Zeiten!

Plötzlich beschlich ihn der unangenehme Gedanke, daß Eilin diesen Plan nicht im mindesten billigen würde – dann zuckte er mit den Achseln. Hellorin rief sich ins Gedächtnis, daß er schließlich der Herr der Phaerie war. Er hatte nicht die Absicht, sein Leben von den Launen einer Magusch bestimmen zu lassen – und außerdem war es eine wertvolle Lektion für sie. Wenn sie sich ihm gar nicht erst widersetzt hätte, hätte er sich mit seinem Volk einfach im Tal niedergelassen und niemals auch nur daran gedacht, eine Stadt zu bauen. Hellorin wandte sich ab und schickte sich an, das Tal zu verlassen. Nun denn, so sei es. Sollte Eilin doch denken, sie hätte für den Augenblick gewonnen. Er würde sogar, so schwer es ihm fiel, die weiße Stute opfern, damit die Magusch glaubte, er sei endgültig verschwunden. Und schon sehr bald würde sie begreifen, was sie angerichtet hatte.

Hellorin lächelte bei dem Gedanken an die Verwüstungen, die er über die Stadt des verhaßten Maguschvolkes bringen würde. Andererseits waren jetzt, abgesehen von Eilin, keine Magusch mehr übrig. War es da nicht besser, Nexis einfach zu besetzen, um sich Zeit und Mühe zu sparen? Nein, befand der Waldfürst. Die Stadt konnte ihnen als Zuchtplatz für menschliche Sklaven später noch gute Dienste leisten, aber die Hinterlassenschaft ihrer früheren Feinde war für sein Volk einfach nicht gut genug – jedenfalls nicht gleich. Und wenn sein Sohn irgendwann wieder in die Welt zurückkehrte – und das stand für Hellorin außer Zweifel –, würde Nexis ein fürstliches Geschenk für ihn abgeben.

Bei diesem Gedanken lächelte der Herr der Phaerie. Zwei große Städte, eine im Norden und eine im Süden – und das ganze Land dazwischen unter der Herrschaft der Phaerie, die endlich das Joch ihrer Gefangenschaft abgeschüttelt hatten. Er würde als erstes seine eigene Stadt erbauen, beschloß er – und zu den wichtigsten Dingen, die er dort schaffen wollte, gehörte ein neues magisches Fenster – eins, das diesmal eigens auf D’arvan ausgerichtet wäre. Mit seiner Hilfe konnte Hellorin, sobald sein Sohn in die Welt zurückkehrte, Krieger aussenden, die ihn nach Hause holten. Obwohl sie bei ihrem Abschied nicht gerade auf gutem Fuß miteinander gestanden hatten, konnte man den Welpen sicher zur Vernunft bringen, dessen war der Waldfürst gewiß. Es gab immer Mittel und Wege. Wenn er dort D’arvan an seiner Seite wußte, konnten sie Nexis in aller Ruhe einnehmen.

Hätte Hellorin in diesem Augenblick bis nach Nexis schauen können, wäre er vielleicht weniger zuversichtlich gewesen. Mit Eliseth war der letzte Hüter der Magie aus der Stadt verschwunden, und unter der Erde regten sich unreine Mächte, die nun nicht länger von der Zauberkraft behindert wurden, die die alten Bannsprüche aufrechterhielt.

Einstmals war er als Riese über die Erde gewandelt. Damals war er soviel mehr gewesen als dieses gebrochene, wahngetriebene Geschöpf, das auf Ewigkeiten in einem Grab aus Stein gefangengehalten wurde; der Geist versprengt, verirrt … verirrt. Gefesselt und geknebelt unter der eisernen Herrschaft von Geisteskräften, die so hart und leuchtend waren wie Diamanten, so scharf und gnadenlos wie Stähl. Äonen hatte er gewartet, hilflos, hoffnungslos. Dann, als er die Hoffnung längst aufgegeben hatte, regte sich plötzlich ein Gefühl – fast unmerklich –, ein Nachlassen des Drucks, eine schwache Verheißung von Hoffnung. Ein Lichtschimmer in seiner ewigen Dunkelheit – ein schmaler Riß in den Mauern seines Grabs. Der Haß des Moldan glomm auf und begann langsam, ach so langsam anzuschwellen; die Gedanken kehrten zurück und mit ihnen die Kraft. Die Bannflüche der Unterdrückung zerfielen – die endlose Nacht seiner Gefangenschaft näherte sich ihrem Ende. Und nach all dieser Zeit gab es immer noch so etwas wie Rachsucht.

Einen kleinen Schritt um den anderen streckte Ghabal seinen Willen aus und drängte mit aller Macht gegen die engen Fesseln des leblosen Steins, der ihn umgab. Seine suchenden Gedankenfühler trafen auf einen Riß, einen haarfeinen Fehler im Felsen, der sich zu einer schmalen Spalte verbreiterte. Der Moldan konzentrierte seine ganze Macht auf diese eine Stelle und schob mit aller Kraft, die ihm zu Gebote stand. Der Stein setzte sich knirschend zur Wehr, dann aber dehnte sich die Spalte mit einem lauten, widerhallenden Donnerschlag aus, und der immer breiter werdende Riß schlängelte sich wie ein gezackter Lichtblitz durch den einstmals massiven Stein.

Völlig verausgabt, mußte der Moldan sich erst einmal ausruhen. Ein Rinnsal uralten Staubs rutschte die neue Felsspalte hinunter und wisperte im Fallen mit einer leisen, zischelnden Stimme seine Geheimnisse. Als Ghabal seine Kraft wiedererlangt hatte, schob er von neuem und dehnte den Riß ein wenig weiter aus. Dann hielt er abermals inne, um sich zu erholen. Die Freiheit vor Augen – und das nach so langer Zeit – war es schwierig, Geduld zu beweisen, aber er wußte, daß er sich so viel Zeit lassen mußte, wie nötig war. Es konnte sich als fataler Fehler erweisen, sich an dieser Stelle zu überanstrengen – vielleicht würde er dann auf ewig hier unten gefangen bleiben.

Nach einer Weile nahmen die Bemühungen des Moldans ein rhythmisches Muster von Mühsal und Rast an. Seine Gedanken versanken in einer schläfrigen Leere und führten ihn niemals weiter als bis zu seiner nächsten gewaltigen Fron, die die millimeterweise Ausdehnung seines Risses für ihn bedeutete. Alle Hoffnungen und Pläne mußten für den Augenblick beiseite treten – sie würden ihn nur von seiner alles entscheidenden Aufgabe ablenken. Wenn er sich endlich aus seinem steinigen Gefängnis befreit hatte – ah, dann würde noch genug Zeit sein für Pläne, für Pläne und mehr! Dann konnte er sich endlich einen Vasallen suchen, irgendein Gefäß, das seinen Geist über die Meere zu seinem geliebten Berg trug, wo er wieder er selbst werden würde, geheilt und eins mit sich.

Ghabal hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Es mochten Stunden vergangen sein, seit er begonnen hatte, seine Kraft bis an ihre äußersten Grenzen zu treiben, Stunden – oder Äonen. Er hatte seine Ungeduld bezwungen und setzte nun seine Kraft wohlerwogen ein, wobei er versuchte, so viel Energie wie möglich zu sparen. Er konnte bis in alle Ewigkeit so weitermachen, wenn er das wollte – und wenn es notwendig gewesen wäre. Statt dessen traf er mit einem jähen Schock, wie ein Sturz aus gewaltiger Höhe ihn verursachen konnte, ins Leere. Der Wille des Moldans, der ganz auf seinen Ansturm gegen die steinerne Barriere konzentriert gewesen war, fand sich plötzlich seiner Fesseln ledig, und die Wucht seiner eigenen Kraft, die keinen Widerstand mehr fand, schlug wie in einer schrecklichen Explosion auf ihn zurück. Sein Bewußtsein jagte taumelnd durch eine Spirale aus Dunkelheit hinab.

Frei – er war frei! Dieser Gedanke durchzuckte Ghabals finsteres Unterbewußtsein wie ein einzelner greller Sonnenstrahl, der seinen schwächlichen Geist sicher zurück ins Licht führte. Er raffte die Fetzen seines zerrissenen und zermürbten Bewußtseins zusammen und ruhte sich einen Augenblick lang aus, um sich wieder zu fangen. Obwohl er sich verletzt hatte, als sein Wille nach außen explodiert war, konnte er keinen Schaden feststellen, der nicht mit der Zeit heilen würde. Die machtvollen Energien der elementaren Erde würden ihn erneuern, würden ihn nähren, ihn heilen. Und während das geschah, konnte es nicht schaden, sich ein klein wenig umzusehen, nur ein klein wenig …

Bei der Mutter-Erde, die ihn hervorgebracht hatte – seit man ihn unter diesem Hügel eingesperrt hatte, war wahrhaftig manches anders geworden! Zaghaft streckte Ghabal sein Bewußtsein in das Gewirr von Tunneln, Durchgängen und Kammern aus, die den Felsvorsprung unter den Maguschquartieren durchzogen. Unglaublich! Diese verfluchten Magusch mußten jahrhundertelang so geschäftig gewesen sein wie eine Horde Maulwürfe, um all das fertigzubringen. Dann fand der Moldan die Stelle, an der das Netz unterirdischer Durchgänge auf das Kanalsystem von Nexis traf, und wieder befiel ihn maßloses Erstaunen. Wahrhaftig, dachte er schadenfroh, diese selbstherrlichen Narren haben ein ungeheuer verletzliches Gewebe aus verborgenen Pfaden geschaffen, das sich unter ihrer ganzen Stadt erstreckt. Wie gern ich diese Stadt um sie herum einstürzen lassen würde, bis nur noch Ruinen übrig sind …

Doch zu seinem Kummer war Ghabal nicht mehr, was er einst gewesen war, bevor die Magusch ihn besiegt und zerbrochen hatten. Er verfügte nicht mehr über seine frühere Macht und würde noch lange nicht über diese Macht verfügen – nicht bis die unermeßlichen Energien der Erde ihm Erneuerung geschenkt hatten. Außerdem, welchen Sinn hätte die Vernichtung der Stadt gehabt? Mit einer Zerstörung von solchen Ausmaßen würde er lediglich seine letzten Kräfte vergeuden, und das für nichts und wieder nichts, denn die Magusch selbst waren fort. Seine bloße Rückkehr in Bewußtheit und Freiheit war ein deutlicher Beweis dafür. Was war aus seinen Feinden geworden, fragte er sich. Er hoffte, daß ihr Sturz so viel Leiden und Qual mit sich gebracht hatte wie nur möglich.

In seiner Neugier zog der Moldan sich aus dem weitverzweigten System der Abwasserkanäle zurück und tastete sich ein wenig vorsichtiger durch die Katakomben unter der Akademie selbst. Vielleicht fand er dort irgendwo einen Fingerzeig, der ihm den Niedergang einer so mächtigen Rasse wie der der Magusch erklärte. Aber zu seiner Enttäuschung waren in der Struktur des Steins keine Erinnerungen eingeschlossen, wie die Moldan sie zur Bezeugung ihrer Taten zu hinterlassen pflegten. Die gewaltige Sammlung von Büchern und Schriftrollen bedeutete ihm nichts – sie waren in seinen Augen lediglich Haufen verwesender, stinkender Pflanzen- und Tierreste, und er fragte sich, warum die Magusch solchen Unrat unter ihrem Heim duldeten.

Ghabals Gedankenfühler erreichten die Kammer der Todesgeister und prallten, von Grauen erfüllt, zurück. Sie zogen sich im Kern seines Bewußtseins zusammen wie die Tentakel eines Seeungeheuers. Es war der Zeitzauber, den er nur allzugut kannte. Man hatte ihn in der Vergangenheit sehr wirkungsvoll auch gegen ihn gewandt. Aber was war sonst noch hier? Etwas, das nach böser Magie stank – ein Grauen, das selbst die dunkelsten Phantasien eines Moldans überstieg. Wenn die Magusch es gewagt hatten, sich mit solch bösartigem Greuel einzulassen, dann war ihr Niedergang wahrhaftig verdient und konnte keine Überraschung gewesen sein!

Zaghaft nahm der Moldan seine Erkundungen wieder auf. Diesmal gab er gut acht, nur ja die Kammer der gefürchteten Geister zu meiden, und war die ganze Zeit auf weitere unangenehme Überraschungen gefaßt. Immer mehr Gemächer, mehr Trümmer und Schutt – bis er plötzlich abermals auf das kalte, metallische Prickeln eines Zeitzaubers traf. Ghabal verharrte jäh. Hier war ein Magusch! Ein Sproß des verfluchten, verachteten Maguschvolkes! Hätte der Moldan eine körperliche Stimme besessen, hätte er ein zorniges Geheul ausgestoßen. So aber erzitterte die ganze Stadt unter der Gewalt seines Grolls.

Schließlich beruhigte Ghabal sich wieder. Einer von dieser unheiligen Brut hatte die Vernichtung der Magusch also überlebt. Zumindest einer von ihnen war übriggeblieben, den die Rache der Moldan treffen konnte! Mit einem einzigen dünnen Faden seines Bewußtseins näherte sich Ghabal sehr vorsichtig dem äußeren Bezirk des Zaubers. Er suchte nach einer Schwachstelle, von der aus er den Zauber in etwas weit Tödlicheres verwandeln konnte. Der Moldan ging mit äußerster Vorsicht zu Werke – es war nicht ratsam, in das Feld eines Zeitzaubers einzudringen, wenn sein Schöpfer nicht mehr zugegen war, um die Magie zu erneuern –, und gelegentlich gelang es dem Opfer, sich mit Gewalt zu befreien …

Zu spät. Ein Magiestrahl zischte aus dem Nirgendwo auf ihn herab, brannte sich seinen Weg längs des Gedankenfadens des Moldans und bohrte sich mitten in den Kern seines Bewußtseins. Plötzlich war Ghabal vollkommen gelähmt und all seine äußeren Sinne abgeblockt.

»Hab ich dich!« Die brüchige alte Stimme hallte grimmig und grausam durch den dunklen, eingeschlossenen Kern von Ghabals Bewußtsein.

»Du hast gar nichts, Magusch!« fauchte der Moldan, obwohl seine Worte nichts als leere Prahlerei waren. Während er sprach, versuchte er, sich hastig den Fesseln des eisernen Willens zu entwinden, die ihn umklammert hielten, aber sein Feind griff nur um so fester zu und hinderte ihn an jeder Flucht. Schließlich blieb ihm nichts anderes mehr übrig, als in lautloser Qual aufzuschreien, als der andere seinen Geist in Stücke riß und wie mit Stahlkrallen seine geheimsten Gedanken entblößte. Ghabal konnte sich nur schreiend ducken, während seine ganze Existenz, seine inbrünstigsten Hoffnungen und schrecklichsten Ängste sich dem brennenden Blick des gnadenlosen Magusch enthüllten.

Nach einer schier endlosen, peinigenden Ewigkeit war es endlich vorüber. Der Moldan schrak, wimmernd und in sich zusammengekauert, vor seinem Peiniger zurück und versuchte, die erbärmlichen Reste seiner Gedanken zusammenzuraffen wie die Fetzen eines zerrissenen Gewandes.

»Gut«, knirschte die schreckliche Stimme. »Wirklich sehr gut. Ein Moldan – eins der legendären Erdelementarwesen von der anderen Seite des Ozeans, wie?« Die Stimme wurde plötzlich sanfter und beinahe mild, wie eine schauerliche Liebkosung. »Nun, Moldan – ich bin mir sicher, daß wir beide, du und ich, zu einer Art Übereinkunft gelangen können.«

Mit einem Lächeln zog Miathan die Ketten seines Willens noch fester um das Bewußtsein des Moldan. Er hatte das Elementarwesen mit einem Überraschungsangriff besiegt, indem er sich die Überreste des uralten Maguschzaubers zunutze machte, mit denen es einst gefesselt worden war – und er schätzte sich glücklich, daß ihm dieser Triumph vergönnt war. Jetzt hing sein Überleben davon ab, sich das Geschöpf Untertan zu machen. Er mußte es unter seine Kontrolle bekommen, denn es konnte sich als die dringend benötigte Waffe in seiner Hand erweisen. Er wußte jetzt, was dieses Geschöpf mehr begehrte als das Leben selbst: jemanden, der es nach Hause brachte. Und nach den Gesetzen seiner Rasse würde es in der Schuld dessen stehen, der ihm half – einer Schuld von unermeßlichem Ausmaß.

Also hatte Eliseth es tatsächlich gewagt, ihn zu hintergehen? Nun, die Gedanken des Moldans verrieten Miathan, daß sie irgendwo, irgendwie ihren Meister gefunden haben mußte. Das Schwächerwerden des Zauberbanns, der sie beide gefangengehalten hatte, bewies, daß in Nexis und Umgebung keine Magusch mehr existierten – bis auf ihn selbst natürlich. Aber obwohl es nicht weiter schwierig für ihn gewesen wäre, in die Akademie zurückzukehren, die Zügel seiner Stadt wieder in die Hand zu nehmen und einfach dort weiterzumachen, wo er aufgehört hatte, mahnte ihn doch irgend etwas zur Vorsicht. Er konnte unmöglich der einzige überlebende Magusch sein – selbst wenn es zu einer Konfrontation zwischen Aurian und Eliseth gekommen war, mußte eine der beiden Frauen doch überlebt haben. Und wie viele Artefakte der Macht besaß die Siegerin?

Nein, ganz gleich, welche Magusch den Kampf gewonnen hatte, wenn der Erzmagusch in Nexis blieb, gab er ein leichtes Ziel ab. Er mußte von hier fort, mußte sich irgendwo verstecken – irgendwo, wo ihn niemand erwarten würde. Bevor er irgend etwas unternahm, mußte er herausfinden, was geschehen war, und entsprechende Vorkehrungen treffen. Aber auch dann konnte ein machtvoller Verbündeter nicht schaden – und Miathan nahm an, daß er mit ein wenig Einfallsreichtum, der Hilfe des Zeitzaubers und den speziellen Kräften des Moldan jedem Besitzer der Artefakte, der eine Rückkehr nach Nexis wagte, eine tödliche Falle stellen konnte.

Der Moldan verfügte über eine gewaltige Zerstörungskraft – und der Erzmagusch wußte intuitiv, daß diese Kräfte auch in Abwesenheit des Moldan selbst entfesselt werden konnten. Das Elementarwesen brauchte dazu lediglich dem Gestein seinen Willen einzuprägen, ein Zauber, den es zu jedem beliebigen Zeitpunkt auslösen konnte. Miathans Zeitzauber konnte dieses Ereignis so lange hinauszögern, wie es seinen Zwecken dienlich war – und die Benutzung eines der Artefakte innerhalb der Akademie würde ihm als Auslöser dienen.

Der nachdenkliche Gesichtsausdruck des Erzmagusch war verschwunden, und an seine Stelle trat nun ein kaltes, berechnendes Lächeln. »Moldan«, sagte er mit einer schmeichelnden Stimme, die nur so troff von falscher Freundlichkeit. »Wie würde es dir gefallen, nach Hause zu gehen?«

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