21 Die Alte Magie

Derselbe Alptraum wiederholt sich, wieder und wieder. Vannor wälzt sich rastlos im Bett und wacht mit einem heiseren Entsetzensschrei auf. Die Hörner und Schreie sind jetzt uniiberhörbar laut. Die Phaerie sind nach Nexis gekommen, um Rache zu nehmen. Er läuft zum Fenster. In der Stadt hat die Warnglocke der Garnison zu läuten begonnen, hat ihn auf die Gefahr aufmerksam gemacht, in der seine Stadt schwebt.

Er hört den Tumult der Stimmen im Erdgeschoß, wo das Hauspersonal langsam in Panik gerät. Durch die Fenster sieht er sie nach draußen rennen, um das Geschehen zu verfolgen. »Rein mit euch«, brüllt er. »Geht ins Haus, ihr Narren – und bleibt da.« Dann reißt er sein Schwert an sich und läuft hinunter, froh darüber, daß Dulsina ihn verlassen hat. Bei den Nachtfahrern wird sie in Sicherheit sein.

Vor Vannors Augen gehen die Phaerie über der Stadt nieder. Die jubilierenden Hörner nehmen einen tieferen, drohenderen Klang an. Der Maguschturm erstrahlt in grellem Licht, als die Unsterblichen vorüberreiten; das Licht breitet sich in der ganzen Akademie aus. Ein ähnliches Leuchten verbreitet sich hastig überall in der Stadt, überall dort, wo die Phaerie niedergehen – dann schießen hungrige Flammen auf, und das Schrillen der Hörner geht in Schreien unter.

Vannor läuft durch brennende Straßen, seine Stiefel gleiten auf Blut und Eingeweiden aus. Er sieht einen Mann, der von einem Phaerieschwert in zwei Hälften gespalten wurde; seine Gedärme ergießen sich über die Pflastersteine. Ein Kind mit einer Stoffpuppe weint über dem kopflosen Leib seiner Mutter. Ein junge läuft aus einem brennenden Haus, einen Flammenschwanz hinter sich herziehend; er stürzt zu Boden, verschlungen von einem Feuerball. Eine Frau kreischt auf, als eine Phaeriekriegerin mit brennenden, saphirfarbenen Augen ihre Kinder wegreißt. Anblicke von Folter, Qual und Gemetzel, wieder und wieder, während die Phaerie kaltäugig und furchterregend durch die Straßen stolzieren …

Wie aus dem Nichts geht ein Schwert in einem glitzernden Bogen nieder, und die blauäugige Phaeriefrau stürzt zu Boden; goldenes Blut rinnt aus einem tiefen Riß in ihrem Fleisch. Die Kinder sind frei und rennen zurück zu ihrer Mutter, die sie mit einem Freudenschrei in die Arme schließt. Der hochgewachsene Kämpfer, dessen Identität von einem schimmernden Nebel verborgen wird, zieht sich mit schwungvoller Gebärde einen schweren Umhang von den Schultern, wirft ihn auf den brennenden Mann und erstickt die Flammen. Der Junge springt, zu neuem Leben erweckt und vollkommen geheilt, unter dem Umhang hervor.

Der mysteriöse Krieger ruft Vannor etwas zu. »Komm mit mir und kämpfe gegen sie. Kämpfe gegen die Bastarde, Vannor. Kämpf dir den Weg frei!«

Und Vannor erinnert sich an das Schwert in seiner Hand, und seine schlaffe Hand schließt sich um den Griff. An der Seite des unbekannten Rächers läuft er durch die Straßen seiner Stadt und hilft den Leuten, wo immer er kann, während die Phaerie wie Weizen unter einer Sichel unter seinem Schwert fallen.

Und endlich kämpft er sich aus der Stadt heraus und steht auf der hohen Nordstraße, die hinaus zu den sauberen, unbefleckten Mooren führt. Der kühle, frische Wind vertreibt den Geruch von Blut und Qualm aus der Luft. Der seltsame Fremde dreht sich um. Der verhüllende Umhang aus Nebel löst sich auf, und er sieht das Gesicht Aurians. Sie hält ihm die Hand hin. »Du bist jetzt frei, Vannor. Frei, zurückzukehren. Komm mit mir, mein Freund, komm zurück …«

Ganz langsam hebt Vannor den Arm und greift nach der Hand …

… und die Hochmoore wirbelten davon, und er fand sich auf einem Bett in einer Höhle wieder, ohne die leiseste Erinnerung daran, wie er dorthin gekommen war. Alles war fremd – bis auf das Gesicht, dasselbe vertraute Gesicht der Magusch, die freundlich auf ihn herabblickte und seine Hand fest in ihren starken, schwieligen Fingern hielt, als wolle sie ihn für immer im Leben verankern. Aurian lächelte ihn an. »Willkommen zurück in der Welt«, sagte sie.

»Willkommen zurück in der Welt, Vannor«, fauchte Eliseth, »das wurde aber auch Zeit.« In Wahrheit war sie nicht unzufrieden mit der Entwicklung der Dinge, denn die letzten drei Tage steter Wache – drei elende Tage, die sie damit verbracht hatte, in die dunklen, toten Tiefen des Grals zu starren, bis ihr Kopf und ihre Augen schmerzten – hatten sich endlich ausgezahlt. Mit verengten Augen betrachte sie das Bild im Gral. Wirklich, es war lächerlich. Die liebe, gute kleine Aurian hatte den ehemaligen Hohen Herrn von Nexis freundlicherweise wieder zur Besinnung gebracht – und damit eigenhändig ihren Untergang besiegelt. Jetzt hatte Eliseth endlich einen Spion in unmittelbarer Nähe der Magusch.

Eliseth ließ ihr Bewußtsein mit der Macht des Grals verschmelzen, bis sie mit einem schwindelerregenden Übergang von einer Szene zur anderen durch Vannors Augen blickte und beim Anblick Zannas ein Aufblitzen kalten Hasses verbergen mußte. Nun, da die Wettermagusch Vannor wieder unter ihrer Kontrolle hatte, würde sie reichlich Zeit und Gelegenheit haben, sich um seine Tochter zu kümmern …

»Ich bin überglücklich, daß es funktioniert hat«, sagte Aurian zu der Frau. »Hoffentlich geht es ihm jetzt wieder gut.«

»Ich werde dir bis an mein Lebensende dankbar sein.« Zanna schob ihren Arm durch den der Magusch, und sie gingen weg, bis sie fast außer Hörweite waren. »Also, weißt du, was genau du für deine Reise nach Süden alles benötigen wirst …«

Mehr konnte Eliseth nicht hören – aber sie hatte nun alle Informationen, die sie für den Augenblick benötigte. Mit einem Ruck kehrte sie in ihren eigenen Körper zurück, goß das Wasser des Grals aus dem Fenster und sandte einen Diener aus, der Skua und Sonnenfeder suchen sollte. Wenn sie in Dhiammara sein wollte, bevor Aurian dort ankam, mußte sie gleich aufbrechen. Und das erste Hindernis, um das sie sich würde kümmern müssen, war Eyrie – die südliche Kolonie des Himmelsvolks am Rand des großen Waldes und eben der Ort, an dem derzeit Königin Rabe persönlich Asyl gefunden hatte.

Eliseth lächelte kalt. Die Kolonie und ihr menschliches Gegenstück, das von Aurians ehemaligen Gefährten errichtet worden war, würden eine hervorragende Nachschubbasis für die Verteidigung Dhiammaras ergeben – und die Himmelsleute und ihre menschlichen Freunde würden nützliche Sklaven abgeben.

Der Bussard war weit, weit fortgeflogen, bevor Anvar einfiel, wer er war, wo er hergekommen war und warum er zurückkehren müßte. Die Erkenntnis kam nicht mit einemmal – die Informationen traten vielmehr ganz allmählich in sein Bewußtsein, wie Luftblasen, die vom Grund eines Teichs aufstiegen. Es war eine schwierige Angelegenheit, da jeder Gedanke eine winzige, glitzernde Perle war, die einzeln untersucht werden mußte, bevor er sie zu den anderen auf einen Faden des Bewußtseins reihen konnte. Seine Denkfähigkeit verbesserte sich jedoch, je mehr Übung er darin bekam, bis er schließlich begriff, daß seine Schwierigkeiten einen einfachen Grund hatten: der vielschichtige, komplizierte Wesenheit, die der Geist eines Menschen und eines Magusch war, paßte einfach nicht recht in den kleinen Körper und das sogar noch kleinere Gehirn eines Vogels.

Während all der Zeit, die Anvar nachgedacht hatte, war er stetig an er Küste entlanggeflogen, mit dem Ozean an seiner linken Flügelspitze und dem Land an seiner rechten. Plötzlich wurde ihm klar, was er tat. Ich fliege! Ich weiß nicht, wie man fliegt! Es ist unmöglich! Kaum war ihm der Gedanke gekommen, da drehten sich auch schon Land, Meer und Himmel um ihn herum, und er stürzte Hals über Kopf hilflos zu Boden.

Anvars Gedanken erstarrten in Panik – und der Instinkt rettete ihn. Die automatischen Reflexe des Fluges waren offensichtlich in den Schwingen und dem Gehirn des Bussards tief verwurzelt. Seine Hügel öffneten sich jäh und fingen den Wind unter ihnen auf, so daß sein Sturz buchstäblich im allerletzten Augenblick gebremst wurde – eine Flügelspitze berührte schon den Kamm einer Welle.

Bei den Göttern – das war knapp gewesen! Während der Magusch seine unsicheren Bahnen flog, nahm er sich vor, nicht über die Techniken, die er benutzte, nachzudenken – ja, nach Möglichkeit die ganze Sache komplett aus seinen Gedanken zu verbannen. Was ihm auch mühelos gelang, denn sein Gehirn schien sich immer nur mit einer Sache gleichzeitig befassen zu können. Um jedoch ganz sicherzugehen, flog er landeinwärts – und ertränkte sich um ein Haar schon wieder, als er das erste Mal versuchte, eine Kurve zu fliegen. Aber sobald er wieder festen Boden unter sich wußte, flog er so tief wie möglich, um die Gefahr einer Verletzung zu verringern, falls es zum Schlimmsten kommen sollte.

In dieser Gemütsverfassung erblickte er schließlich das Kaninchen – mehrere Kaninchen, um genau zu sein, die sich in einer grasbewachsenen Mulde ein kurzes Stück hinter dem Rand der Klippen tummelten. Ein roter Dorn des Hungers bohrte sich durch sein Gehirn. Und wieder übernahm der Instinkt das Kommando. Er brauchte sich nicht tief fallenzulassen – er wählte lediglich sein Opfer aus, neigte die Flügel, legte sie fest an den Leib und ließ sich, getragen von der Kraft seines Schwungs und mit ausgestreckten Krallen, auf das flüchtende Kaninchen fallen. Er traf das Tier, schleuderte es zu Boden, und seine Flügel öffneten sich genau im richtigen Augenblick, um ihn wieder in die Lüfte zu erheben, eine Fingerspitze überm Gras. Dann drehte er in einem spitzen Winkel bei und glitt zurück auf den Boden, um seinem vom Schreck betäubten Opfer mit einem scharfen Schlag seines Schnabels den Rest zu geben. Endlich senkte er den Kopf und begann, sich durch den Pelz in das immer noch warme Fleisch zu bohren.

Er hatte das schaurige Mahl schon halb beendet, als er fühlte, daß irgend etwas nicht stimmte. Nein, das ist nicht richtig! So etwas esse ich doch nicht! Nicht roh! Er erinnerte sich an ein Gesicht – ein menschliches Gesicht mit blauen Augen und blondem Haar. Ich? Hände, braun, mit schwieligen Fingerspitzen, schwielig nicht von einem Schwert, sondern von Harfensaiten. Eine Harfe – da war eine wunderbare Harfe gewesen …

Dann sah Anvar ein anderes Gesicht, dessen feingemeißelte Züge so adlerhaft waren wie die des Geschöpfes, in das er sich verwandelt hatte. Ein zerzauster Haarschopf von einem dunklen Kupferton und leidenschaftliche, grüne Augen … Aurian! Im nächsten Augenblick waren die Klippen leer, und ein Bussard zog an der Küste entlang; das Meer an seiner rechten Flügelspitze, das Land an der linken, flog er eilig denselben Weg zurück, den er gekommen war.

»Wenn wir uns beeilen, können wir in ungefähr drei Tagen dort sein, Herr. Nur verfügen deine Matrosen leider nicht über die notwendige Geschicklichkeit, um unseren Ankerplatz anzulaufen. Außerdem liegt der Kiel deiner Schiffe zu tief, so daß wir in der nächsten Bucht vor Anker gehen und die Soldaten von dort aus zu der Höhle bringen müssen.«

Von seinem gewaltigen Stuhl, hoch oben auf seinem Podest, blickte Lord Pendral auf den ungepflegten, unrasierten Schmuggler herab. Der Mann, den er vor sich hatte, war ein unsympathischer Kerl mit verkniffenem Gesicht, soviel stand fest – aber er besaß zwei Charakterzüge, die der Hohe Herr von Nexis mühelos entdecken konnte: die allesverzehrende Gier nach Rache und das Glitzern unverhohlener Habsucht in Gevans Augen. Der Mann war ein Geschenk der Götter – aber wenn Pendrals Erfolg als Kaufmann ihn eine wichtige Strategie gelehrt hatte, so war es Besonnenheit. Niemals durfte man zu eifrig, zu interessiert erscheinen. »Du scheinst dir ja alles genau überlegt zu haben.« Er legte die von Ringen übersäten Finger auf seinen ausladenden Bauch und sah den ungeschlachten Burschen vor sich mit verengten Augen an. »Und was genau erwartest du von mix als Gegenleistung für diese Information?«

Gevans Blick flackerte eine Sekunde lang, dann sah er dem Hohen Herrn wieder ungerührt in die Augen. »Ich möchte ein Kaufmann sein wie du, Herr – erfolgreich und angesehen. Ich möchte, daß mir meine eigenen Vergehen verziehen werden, ich möchte fünfhundert Goldstücke, um ein Geschäft zu eröffnen, ich möchte ein eigenes Lagerhaus am Kai – und wenn du die Nachtfahrer zerstörst, möchte ich mir unter ihren Schiffen aussuchen können, was mir gefällt.«

Pendrals Augen weiteten sich. »Ach ja? Du willst nicht viel, wie?«

Gevan zuckte die Achseln und wollte gerade auf den blank polierten Boden spucken – bis Pendral ihn mit dem Blick einer Schlange bedachte, die kurz davorstand, sich auf ihr Opfer zu stürzen. Hastig schluckte er den Speichel wieder herunter. »Mein Herr, denk nur, was die Nachtfahrer dich und diese Stadt jedes Jahr kosten, weil sie dir das Geschäft ruinieren. Ohne meine Hilfe wirst du sie niemals finden – niemand hat sie je gefunden. Und ich habe dir erzählt, daß sie gerade jetzt dem Dieb Schutz gewähren, der dir deine Juwelen gestohlen hat. Es müßte dir doch einiges wert sein, den in die Finger zu bekommen?«

Pendral nickte. Warum die Sache lange hinauszögern, dachte er. Die bloße Erwähnung des Diebes verursachte einen Aufruhr in seinen Gedärmen, so gewaltig war sein Zorn noch immer – und er wollte sobald wie möglich zuschlagen, damit dieser elende Kerl ihm nicht wieder durch die Finger schlüpfte. »Also gut – ich bin einverstanden. Du sollst bekommen, was du begehrst – und was du in so hohem Maße verdienst.«

Der verräterische Schmuggler bedankte sich überschwenglich und war, wie Pendral erwartet hatte, viel zu dumm, um die unausgesprochene Drohung wahrzunehmen, die sich hinter den Worten des Hohen Herrn verbarg.

Aurian stahl sich aus dem Zimmer und überließ Vannor seinem freudigen Wiedersehen mit Dulsina und Zanna. Als sie in ihr Quartier zurückkehrte, fand sie zu ihrer Freude Shia und Khanu dort vor. »Was habt ihr zwei denn so getrieben?« fragte sie sie. »Ich habe euch in den letzten ein oder zwei Tagen kaum zu Gesicht bekommen.«

»Meistenteils waren wir im Moor, um zu jagen«, antwortete Shia. »Wir sind nicht gerne mit all diesen Menschen zusammengepfercht.« Sie bedachte die Magusch mit einem durchdringenden Blick. »Wo ist der andere?«

Aurian seufzte. Aus irgendeinem Grund hatte Shia eine tiefe Abneigung gegen Forral gefaßt und weigerte sich sogar, ihn bei seinem Namen zu nennen. »Forral redet mit Parric und Hargorn«, erzählte sie der Katze mit einem Lächeln. »Da scheint eine Art Wiedervereinigung der Krieger im Gange zu sein, daher hoffe ich, daß Emmie genug Wein auf Lager hat.«

»Die Menschen und ihr Wein! Wir verschwenden hier nur unsere Zeit«, knurrte Shia.

»Du hast recht, ich weiß.« Aurian ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Wir werden auch bald aufbrechen – ich muß anfangen, die Dinge zu arrangieren …« Ein Klopfen an der Tür unterbrach sie. Sie seufzte. »Wer ist da?«

»Ich bin es – Finbarr.«

Aurian war sich nur allzu deutlich der Tatsache bewußt, daß nicht der Archivar sprach, sondern der Todesgeist, der seine Gestalt mit ihm teilte. »Was ist denn nun schon wieder?« murmelte sie verdrossen, obwohl sie sich dabei ungerecht vorkam. Seit seiner Ankunft hatte der Todesgeist sich abseits der Nachtfahrer gehalten, um weder Verdacht noch Angst zu wecken. Nur Zarina und Tarnal wußten um die wahre Identität des Geschöpfes – und es zeugte von ihrem großen Vertrauen zu Aurian, daß sie die Anwesenheit des Geistes akzeptieren.

Als die hochgewachsene, schlaksige Gestalt ins Zimmer trat, mußte Aurian sich mit Gewalt ins Gedächtnis rufen, daß eine furchtbare, nichtmenschliche Kreatur den Körper ihres alten Freundes beherrschte. »Stimmt irgend etwas nicht?« fragt sie.

»Wir haben – ein Problem.« Die knarrende, gefühllose Stimme Heß die Magusch schaudern. »Jetzt, da du den Zauber entfernt hast, der mich aus der Zeit herausgenommen hat«, fuhr die Kreatur fort, »muß ich mich ernähren – aber wenn ich diesen Körper verlasse, wird sein eigentlicher Besitzer umkommen. Einmal mehr brauche ich deine Hilfe, Magusch. Wenn ich diese Gestalt verlasse, mußt du sie noch einmal aus der Zeit nehmen und sie erst wieder beleben, wenn ich den Wunsch habe, zurückzukehren.«

Eine Sekunde lang hatte Aurian Mühe, ihre Stimme wiederzufinden. »Laß mich eines klarstellen«, sagte sie leise. »Wenn du von Nahrung sprichst, meinst du, ein menschliches Leben?«

Die ausdruckslose Gestalt nickte. »So ist es.«

»Aber das kannst du nicht tun!« stieß die Magusch hervor. »Diese Leute sind unsere Freunde. Sie haben uns Zuflucht gewährt – sie vertrauen uns. Ich kann dir nicht einfach erlauben, einen von ihnen zu töten!«

»Du hast keine Wahl.« Der Todesgeist sah sie leidenschaftslos an, und diese Gefühllosigkeit in Finbarrs Zügen war erschreckend. »Mein Überlebensinstinkt ist so groß wie der jedes anderen Wesens auch – ich werde mich mit oder ohne deine Hilfe ernähren. Wenn du mir nicht bei der Bewahrung dieses Körpers behilflich sein willst, werde ich einfach für immer in meine alte Gestalt zurückkehren und diese äußere Hülle, in der ich jetzt weile, sterben lassen.«

Aurian ließ sich auf den Stuhl sinken. »Wie lange kannst du es noch aushalten?« flüsterte sie. »Wieviel Zeit haben wir noch, bevor du unbedingt Nahrung brauchst?«

»Ich kann es vielleicht noch zwei oder drei Tage aushalten – dann muß ich Nahrung finden oder vergehen.«

»Ich muß verrückt geworden sein«, sagte Vannor mit einer Stimme, die dunkel vor Scham war. Er sah seine Tochter an und dann die Frau, die er liebte. »Eine andere Erklärung für mein Verhalten gibt es nicht. Wie konnte ich dich von mir wegstoßen, Dulsina? Eher würde ich mir meine gesunde Hand abschneiden!«

Dulsina schüttelte den Kopf. »Damals war es wie ein furchtbarer Alptraum – als lebe man mit einem vollkommen Fremden –, aber das ist nun jedenfalls vorbei, mein Freund. Ich bin unsagbar froh, dich wiederzuhaben, jetzt, da du wieder du selbst bist. Das vergangene Jahr war das einsamste meines Lebens. Weißt du, ich war so wütend, als ich dich verließ – ich habe mir gesagt, daß ich dich nie wiedersehen wolle.« Sie zuckte die Achseln. »Es hat nicht allzu lange gedauert, bevor ich meinen Fehler einsah.«

»Auch ich bin froh, wieder da zu sein – aber das ist weder eine Erklärung noch eine Entschuldigung für meine Taten. Was ist mit mir passiert, Dulsina? Warum, um alles in der Welt, sollte ich einen Angriff auf die Phaerie befehlen? Allein der Gedanke ist Wahnsinn! Ich muß vollkommen den Verstand verloren haben – vielleicht hatte ich einen Anfall oder etwas in der Art –, ich erinnere mich nicht.« Er rieb sich mit einer Hand das Gesicht. »Kannst du das glauben?« flüsterte er, das Gesicht in den Händen verbogen. »Ich habe tatsächlich all diese Männer und Frauen in den Tod geschickt – und ich kann mich nicht einmal daran erinnern? Was für ein Ungeheuer bin ich denn?«

Zanna legte ihrem Vater eine Hand auf die Schulter. »Welchen Sinn hat es, daß du dich so quälst? Es wird dir nichts nutzen, und es wird auch diese Menschen nicht zurückbringen. Außerdem bin ich deiner Meinung – wärest du bei Verstand gewesen, hättest du dich niemals so benommen. Es muß das Gift gewesen sein, das deinen Geist umnebelt hat – nur die Götter wissen, wie du es überhaupt überleben konntest …« Ihre Worte verloren sich, als ihr plötzlich ihr früheres Gespräch mit Aurian wieder in den Sinn kam.

»Vater …«, begann sie zögernd. Wie sollte sie ihm klarmachen, daß er vielleicht unter dem Einfluß Eliseths gestanden hatte, ohne ihm irgendwelche Ideen in den Kopf zu setzen – oder ihn so zu erschrecken, daß er es nie wieder wagen würde, überhaupt irgend etwas zu tun? Oder schlimmer noch, dachte sie mit einem Schaudern, ohne Eliseth irgendwie wissen zu lassen, daß sie von ihren Aktionen Kenntnis hatten?

»Kannst du dich an irgend etwas erinnern, was sich zu der Zeit deiner Vergiftung zugetragen hat?« wagte Zanna sich verwegen weiter. »Ich meine, als du noch richtig krank warst? Hattest du irgendwelche seltsamen Träume oder Visionen? Und was ist mit der alten Frau, die dir das Leben gerettet hat? Warum hat sie das getan? Erinnerst du dich überhaupt noch an sie?«

Vannor schüttelte seufzend den Kopf. »Ich glaube, ich hatte irgendeinen unheimlichen Traum, in dem es um Forral ging, aber ich erinnere mich kaum noch daran. Abgesehen davon habe ich keinerlei Erinnerung an die ganze Geschichte, mein Kind. Ich weiß überhaupt nichts mehr …«

»Mach dir nichts draus, Vater – es ist nicht wichtig«, versicherte Zanna ihm – aber noch während sie die Worte aussprach, durchlief sie ein Schaudern. Sosehr sie es auch versuchte, sie wurde das Gefühl nicht los, daß es sehr wohl wichtig war – sogar sehr wichtig.

Aurian saß in ihrer verdunkelten Kammer und betrachte das schwache Glühen, das dem Kristall an der Spitze des Erdenstabs entstieg. Das ist nicht richtig, dachte sie verzweifelt. Was ist nur mit der Zauberkraft des Stabes geschehen? Was kann da Zwischen den Welten geschehen sein? Die körperliche Substanz des Stabs war zusammen mit Aurians Körper in der sterblichen Welt zurückgeblieben und schien die ganze Angelegenheit unverändert überstanden zu haben – aber die geistige Manifestation, das Herz der Macht des Artefakts, war im Brunnen der Seelen buchstäblich zerstört worden. Und tatsächlich, hätte Aurian nicht die Schlangen und den Kristall gerettet, so wäre sie wahrscheinlich ganz ohne den Stab zurückgekehrt. Aber auch so war sie in ernsten Schwierigkeiten. Aurian, die verzweifelt überlegte, wie sie die Macht des Stabes wiederherstellen konnte, barg das Artefakt auf ihrem Schoß. Es war ein Gefühl, als wache sie über einen kränkelnden Freund. Normalerweise durchschoß sie, wenn sie den Stab berührte, eine herrliche Woge vibrierender Energie. Die Macht des Stabes hatte ein unverkennbares Gefühl dafür, denn wie die Harfe der Winde, besaß der Stab eine eigene Intelligenz und einen eigenen Charakter. Jetzt, da Aurian ihn in Händen hielt, konnte sie kaum noch ein Kribbeln spüren, und der Stab schien nicht mehr Persönlichkeit zu besitzen als jeder andere tote Stock.

Die Harfe! Das war eine Idee! Vielleicht konnte die Macht des anderen Artefakts den Stab der Erde wiederbeleben. Aurian lief los, um das Instrument zu holen. Wie immer stieß die Harfe ein mißtönendes Summen aus, als die Magusch sie ergriff. Aurian konnte sie nur mit Mühe festhalten, als versuche das Instrument ständig, sich ihrem Griff zu entwinden. Als sie den kristallenen Rahmen berührte, stand ihr plötzlich ein Bild von Anvar vor Augen; so lebhaft, daß sie glaubte, ihn berühren zu können. Die Harfe stieß einen Seufzer aus, dem eine Kaskade von Noten folgte, deren jede die Gestalt einer Sternschnuppe hatte. »Anvar«, sang die Harfe wieder und wieder. »Anvar …«

Aurian seufzte. »Ich weiß«, antwortete sie. »Ich vermisse ihn auch. Aber wir werden für den Augenblick beide ohne ihn auskommen müssen, und wenn du ihn zurückhaben willst, solltest du mir besser helfen.« Die Worte der Magusch fielen rauh über den flüssigen Lichtteppich, den das Lied der Harfe webte, und das Artefakt verstummte jäh. Eine Sekunde später fühlte sich der Rahmen in ihren Händen auch nicht mehr schlüpfrig an, und ein zaghaftes Kribbeln von Energie stieg in ihre Finger und lief durch ihre Arme. In Gedanken sandte Aurian dem Artefakt eine Woge der Dankbarkeit zu und spürte schließlich ein Summen als Antwort. Vorsichtig legte sie die Harfe auf ihr Bett, neben den Stab der Erde. »Kannst du mir sagen, warum der Stab seine Macht verloren hat?« fragte sie die Harfe der Winde, »und was ich tun kann, um ihn zu heilen?«

In dem verdunkelten Raum entfaltete der Kristallrahmen der Harfe ein sanftes, durchscheinendes Glühen, das sich ausdehnte und schließlich den schlafenden Stab umfing, bis es die gewundenden Gestalten der beiden Schlangen in ein nebulöses Leuchten tauchte. Zuerst glaubte Aurian, der trübe Schein des Lichtes spiele ihren Augen Streiche. Aber dann hoben die Schlangen, die immer noch den stumpfen Kristall festhielten, die Köpfe von dem Stab, um sie mit kalt glitzernden Augen zu betrachten. In dem geisterhaften Leuchten der Harfe wirkten ihre Farben leblos und verbuchen; das leuchtende Rotsilber und das lebhafte Goldgrün, in dem sie früher erstrahlt waren, gehörte nur noch der Erinnerung an. Dann setzte die Harfe ihren wimmernden Gesang fort. »Sie sagen, die Schuld liege bei dir, o Magusch. Sie sagen, du hättest deine Wächterschaft mißbraucht; du hättest den Stab zu bösen Zwecken benutzt: zu Tod und Gemetzel.«

Aurians Blut gefror zu Eis, als sie sich daran erinnerte, wie sie Pendrals Soldaten in den Tunneln unter der Akademie ermordet hatte. Genau das hatte sie damals befürchtet – aber irgendwie brachte ihr die von der Harfe nun laut ausgesprochene Wahrheit die Ungeheuerlichkeit ihrer Tat erst wirklich zu Bewußtsein.

»Du wußtest, Magusch, daß eine Strafe unausweichlich sein würde«, sang das Artefakt weiter; seine Töne waren nun so hart und scharf wie Diamanten. »Erstens wirst du für deine Taten eines Tages bezahlen müssen. Zweitens mußt du dich, um den Stab zurückzugewinnen, ein weiteres Mal seiner würdig erweisen. Du mußt Buße tun. Und du mußt mit Liebe und Heilung all die Macht zurückzahlen, die du dem Stab für Tod und Zer- Störung genommen hast. Dann werdet ihr beide, du und mein Bruder, der Erdenstab, erneuert werden.« Mit einem letzten wimmernden Ton verfiel die Harfe in Schweigen.

Einige Zeit später fand Chiamh die Magusch immer noch im Dunkeln vor; die schlafenden Artefakte lagen vor ihr auf dem Bett. Sanft wischte er ihr die Tränen aus dem Gesicht und hielt sie lange schweigend in den Armen. »Komm«, sagte er schließlich. »Bringen wir dich aus dieser tiefen Finsternis weg, hinaus ins helle Licht.«

»Ihr müßt von Sinnen sein! Das kann ich nicht tun!« Aurian sah entsetzt erst Chiamh, dann D’arvan an. Diese letzten Tage waren schon schwierig genug gewesen, ohne daß man sie aufforderte, die Alte Magie in Besitz zu nehmen – das ureigenste Gebiet der Phaerie –, um sie zum Fliegen zu benutzen. »Ich bin keine verdammte Phaerie!« wandte sie ein. »Ich weiß nicht, was es den Xandim ermöglicht, zu fliegen, und ich will es auch gar nicht wissen! Du kennst doch meine Höhenangst, D’arvan. Ich fühle mich schon unwohl, wenn ich einfach nur hier oben auf dem Kliff stehe, und dabei bin ich nicht einmal in der Nähe des Abgrunds. Diese Sache mit den Netzen, mit denen die Himmelsleute uns transportiert haben, war schon schlimm genug, aber du wirst mich auf keinen Fall – und ich meine auf gar keinen Fall – auf irgend etwas in die Luft bekommen, von dem ich runterfallen könnte!«

D’arvan zuckte die Achseln. »Tu, was du willst. Aber dann wird es Monate dauern, um irgendwohin zu gelangen; in der Zwischenzeit kann Eliseth sich alles mögliche einfallen lassen. Außerdem werde ich dich begleiten und Maya einem Schicksal überlassen müssen, das nur die Götter kennen …«

Das Entsetzen der Magusch verwandelte sich in eiskaltes Grauen. »Werden wir wirklich fliegen müssen?« fragte sie mit kleinlauter Stimme. »Es ist doch gewiß nicht unbedingt nötig …«

»Sieh mal«, sagte D’arvan mit so geduldiger Miene, daß es sie fuchsteufelswild machte, »Eliseth ist dir ein ganzes Stück voraus, Aurian. Du hast mir selbst erzählt, daß sie Zeit hatte, Aerillia zu erobern. Je länger du zögerst, um so mehr kann sie ihre Position festigen, und um so schwieriger wird es für dich sein, wenn du sie endlich eingeholt hast.« Er tätschelte ihr freundschaftlich den Arm. »Na komm schon, Aurian – denk daran, wie weit du gekommen bist und was du alles erreicht hast, seit jener Nacht, in der du aus Nexis geflohen bist. Du weißt, daß du es tun kannst, wenn du es mußt. Du weißt, daß du es tun wirst.«

Aurian knirschte mit den Zähnen. »D’arvan«, sagte sie mit gepreßter Stimme. »Ich hasse dich. Du kennst mich viel besser, als mir lieb ist.«

Das Windauge streckte ihr die Hände hin. »Es wird gar nicht so schlimm werden, meine Freundin. Ich lasse dich schon nicht fallen – das solltest du mittlerweile eigentlich wissen. Und es wird auch nicht das erste Mal sein, daß wir zusammen reiten.«

Aurian seufzte. »Das ist ja alles schön und gut, Chiamh, aber du bist in dieser Sache nicht gerade ein Experte. Du hast es bisher selbst erst ein paarmal versucht – und zwar mit einem Phaerie auf dem Rücken, der dir half. Was, wenn wir beide die Sache verpfuschen?«

»Wir halten uns dicht am Boden, bis wir uns mehr zutrauen.« Er grinste. »Komm schon, Magusch. Denk nur, wieviel Spaß uns das alles machen wird.«

Aurian hob geschlagen die Hände. »Na schön, na schön. Dann bringen wir es gleich hinter uns, bevor ich meine Meinung ändere.«

D’arvan hielt Hellorins Talisman, der ihm an seiner glitzernen Kette um den Hals hing, hoch und legte ihn in die ausgestreckte Hand der Magusch. Als das Kleinod ihre Haut berührte, wechselte die Oberfläche des Steins von trübem Grau zu klarem Silber und blitzte einmal kurz mit einem leuchtend weißen Licht auf. Aurian taumelte, als die wilde, fremde Macht durch sie hindurchschoß – so hell wie die Sonne, so dunkel wie das Gewölbe des Universums, so stark wie die Knochen der Welt und so uralt wie die Zeit selbst.

»Sieben verfluchte Dämonen! Was ist das?«

»Mein Vater hat den Talisman mit der Alten Magie erfüllt«, erklärte D’arvan ihr. »Was du da in Händen hältst, ist die Macht der Phaerie.«

Aurian schüttelte den Kopf. »So einfach kann das doch nicht sein«, wandte sie ein. »Ich meine, wenn du dieses Ding zum Beispiel Zanna geben würdest, könnte sie doch bestimmt nicht einfach auf Chiamhs Rücken über den Himmel flitzen …«

»Das könnte sie ganz sicher nicht«, warf das Windauge mit einem Lachen ein, »weil ich es ihr nicht erlauben würde.«

»Stell dich nicht so dumm, Aurian – man muß offensichtlich ein Magusch sein«, sagte D’arvan mit einem Anflug von Gereiztheit. »Ein Sterblicher könnte eine solche Macht unmöglich beherrschen – oder auch nur erkennen.«

Aurian betrachtete den Talisman, der jetzt vollkommen ruhig in ihrer Hand lag, mit einem zweifelnden Blick. »Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich es kann. Sie ist so anders, diese Magie.«

»Es gibt keinen Grund dafür, warum es nicht funktionieren sollte«, beharrte D’arvan. »Immerhin geben dir die Artefakte Zugang zur Hohen Magie – dieser Talisman gibt dir lediglich eine Macht von anderer Art. Betrachte ihn einfach als ein Artefakt der Alten Magie. Und nun mach schon – leg ihn dir um.«

Die Magusch ließ sich den Talisman um den Hals gleiten – und stieß einen erstaunten Aufschrei aus. Sie konnte die Lebensenergien ihrer Gefährten sehen, die ihre Körper in Auren schimmernden Leuchtens tauchten, die ständig in Bewegung waren und sich mit jedem Gedanken und jeder Regung erneuerten. Sie sah den grünen Nebel der Lebensenergie, die jeden einzelnen Grashalm umgab. Der Felsen unter ihren Füßen war wie eine zerklüfftete Masse durchscheinenden Kristalls in zahllosen Schattierungen von Rot und Bernstein, und der Ozean war wie ein seidiger, über die Knochen der Erde geworfener Umhang; das Meer verströmte ein sanftes Leuchten wie Opale, Mondsteine und Perlen und war mit leuchtendem Lapislazuli, Aquamarin und Amethyst überhaucht, die die Bewegung der Dünung und der Strömung nachzeichneten. Die Winde, die die ungeschützte Klippe umtosten, strömten wie glitzernde Silberschleifen um die Felsen herum, und jede Möwe, die überm Ozean kreiste und durch die Luft tauchte, war ein Silberfunke, der einen Schweif aus Licht hinter sich her zog.

»Aurian! Aurian – komm zurück!« Hände griffen nach ihren Schultern und schüttelten sie heftig. Von Ferne spürte sie, wie jemand ihr den Talisman über den Kopf zog. Mit einem ärgerlichen Aufschrei wollte sie nach dem Stein greifen, aber sie war zu langsam. Endlich klärte Aurians Blick sich wieder, und sie sah D’arvan vor sich stehen, der den Stein an seiner silbernen Kette baumeln ließ. Ohne den Talisman schien die Welt ein stumpfsinniger, fader, farbloser Ort zu sein, und Aurian verspürte ein tiefes Gefühl des Verlusts. »Verdammt«, sagte sie gereizt, »was bildest du dir eigentlich ein, D’arvan?«

»Ich mußte etwas tun«, protestierte D’arvan. »Du hast eine Ewigkeit einfach nur dagestanden, hast nichts gesagt und dich nicht bewegt, sondern nur ins Leere gestarrt. Du warst vollkommen berauscht.«

Aurian seufzte und versuchte, die letzten flüchtigen Erinnerungen des Wunders festzuhalten, das sie soeben erlebt hatte, bevor sie ihr endgültig entglitten. »Es war atemberaubend, D’arvan. Warum hast du mich nicht vorgewarnt?«

D’arvan sah sie verwirrt an. »Wovor hätte ich dich warnen sollen?«

»Vor …« Mit einiger Mühe versuchte Aurian zu erklären, was sie gesehen hatte.

»Na, so etwas!« rief das Windauge aufgeregt, »genau das sehe ich mit der Andersicht!«

»Nun, ich sehe jedenfalls nichts dergleichen«, bemerkte D’arvan. »Wie erklärt ihr euch das also?«

»Ich weiß warum«, sagte die Magusch langsam. »Weil deine Rasse so eng mit den Phaerie verbunden war, Chiamh, müssen die Zauberkräfte des Windauges ihren Ursprung in der Alten Magie haben. Aber die Phaerie selbst sind ein Teil dieser Magie – sie sind lebende Manifestationen der Alten Magie, wenn du so willst –, daher nehmen sie nicht wahr, was wir, die wir keine Phaerie sind, zu sehen bekommen.«

»Wie schade – nach dem, was du und Chiamh erzählt, habe ich das Gefühl, etwas sehr Schönes zu verpassen«, sagte D’arvan. »Da wäre nur ein Problem, Aurian – wie wirst du diese Andersicht unter Kontrolle bekommen? Es wird dir nichts nützen, wenn du einen Zugang zur Alten Magie hast und sie dich einfach so sehr in ihren Bann schlägt, daß du nichts mehr tun kannst.«

»Laß es sie noch einmal versuchen«, meinte Chiamh, »und diesmal werden wir fliegen. Sie weiß jetzt, was sie erwartet, daher wird es nicht mehr ein solcher Schock für sie sein. Vor allem wird sie etwas anderes haben, was ihre ganze Aufmerksamkeit fesselt. Ich werde sie die Kontrolle der Andersicht lehren, aber es wird viel Übung erforderlich sein – und genau dafür haben wir jetzt keine Zeit mehr.«

»Du glaubst nicht, daß es gefährlich ist?« fragte D’arvan zweifelnd.

»Ach, bringen wir es endlich hinter uns«, sagte Aurian unwirsch, »bevor wir hier auf diesem verwünschten Kliff noch alt und grau werden. Du hast mir schon erklärt, was ich tun soll – gib mir jetzt endlich den Talisman zurück, D’arvan.«

Widerstrebend reichte er ihr den schimmernden Stein, den die Magusch ihm beinahe aus der Hand riß. Als sie sich die Kette abermals um den Hals legte, tauchte sich die Welt von einer Sekunde auf die andere wieder in strahlendes Leuchten. Berauscht sah Aurian, wie Chiamhs Umrisse sich verwandelten und seine Aura dunklere, rauchigere Töne annahm, als er in seine Pferdegestalt schlüpfte. Nun, ihre Nervosität würde sich gewiß nicht dadurch legen, daß sie hier tatenlos herumstand und den gefürchteten Augenblick hinauszögerte. D’arvan formte mit den Händen einen Steigbügel für sie, und Aurian holte tief Luft und kletterte unbeholfen auf den Rücken des Windauges.

Загрузка...