31 Eine Frage des Vertrauens

Als Chiamh über die Berge zu Aurians Lager zurückkehrte, wurde der Himmel im Osten bereits hell. Während er über die leuchtenden Pfade der Luft zu seinem reglos daliegenden Körper hinunterglitt, wurde ihm zu seinem Erstaunen bewußt, daß das Wäldchen aus Kiefern und Fichten, in dem er sich versteckt hatte, nicht länger verlassen war. Shia hatte in seiner Abwesenheit über ihn gewacht. Nachdem er mit einem Stöhnen wieder in seine kalte, verkrampfte Gestalt zurückgekehrt war, legte die Katze den Kopf schief und blickte ihm ins Gesicht. »Wurde auch langsam Zeit«, sagte sie gereizt. »Aurian meinte, es wäre zu gefährlich, dich allein und hilflos außer Sichtweite des Lagers zu lassen, daher habe ich ihr versprochen, ein Auge auf dich zu werfen. Es war höchste Zeit, daß sie ein bißchen Schlaf bekam.«

»Sie schläft jetzt?« fragte Chiamh. »Es tut mir leid, sie wecken zu müssen, aber was ich ihr zu sagen habe, kann nicht warten.«

»Ach nein?« brauste Shia mit zuckendem Schwanz auf. »Das arme Ding muß sich schließlich auch irgendwann mal ausruhen.«

»Wer bewacht das Lager? Khanu?«

Die Nackenhaare der Katze stellten sich auf, und ihr Schwanz schoß wie eine Peitsche hin und her. »Sieh mal«, sagte sie, als müsse sie sich verteidigen, »einige von uns können gegen diese Dinge einfach nicht an. Wir sind so geschaffen – im Gegensatz zu einigen Leuten, können wir Zeit und Ort nicht frei bestimmen. Das Ganze war bestimmt nicht meine Idee.«

Chiamh runzelte die Stirn. »Shia, was du gestern nacht getan hast, ist allein deine Sache. Ich wünsche dir und Khanu alles Glück der Welt.« Er lächelte schief. »Es wird dich zwar nicht trösten, aber ich bin sogar ein wenig neidisch. Und ich hatte ganz bestimmt nicht vor, euch nachzuspionieren.«

Shia knurrte leise. »Ich komme mir so dumm vor. Und es wäre auch nicht ganz so schlimm gewesen, wenn wir nicht ausgerechnet auf dem Stahlklaueberg gelandet wären. Wenn ich an das Risiko denke und an die Gefahr – nicht nur für uns beide, sondern für euch alle!« Shia schauderte. »Es ist ein erschreckendes und sehr unangenehmes Gefühl zu wissen, daß man einfach so plötzlich den Verstand verlieren kann.«

»Nun«, tröstete Chiamh sie, »vielleicht war es ja die Nähe eures Heimatterritoriums, die den Ausschlag gegeben hat. Du weißt schon, wie Lachse, die nach Hause schwimmen, um ihre Nachkommenschaft großzuziehen.«

»Ach, tun sie das?« erkundigte Shia sich mit echtem Interesse. »Alles, was ich bisher von ihnen wußte ist, daß sie eine gute Mahlzeit abgeben.«

»Versuch nicht, das Thema zu wechseln«, kicherte das Windauge. »Wann werden deine Jungen das Licht der Welt erblicken?«

»Bist du verrückt?« protestierte die Katze. »Ich versuche, nicht darüber nachzudenken. Ungefähr zweieinhalb Monate«, fügte sie einen Augenblick später hinzu. »Wolltest du nicht eigentlich mit Aurian reden?«

»Ob ich das wollte oder nicht, ich merke es jedenfalls, wenn jemand versucht, das Thema zu wechseln. Nein, du hast mich überzeugt, daß es besser ist, Aurian weiterschlafen zu lassen. Bei Tageslicht gehen wir ja sowieso nirgendwo hin. Und jetzt werde ich mir selbst erst mal ein wenig Ruhe gönnen.«

Aber Chiamh hatte in Dhiammara genug gehört, um seine Träume mit Bildern von Blutvergießen und Krieg zu füllen, so daß er sich in unruhigem Schlummer auf seinem Lager hin und her warf.

»Ich hätte nie gedacht, daß ich diesen Ort jemals wiedersehen würde«, sagte Eliizar verbittert. Er blickte durch die Gitterstäbe des hastig erbauten Sklavengefängnisses in der gewaltigen, auf Bodenhöhe befindlichen Höhle, die aus dem Berg Dhiammaras herausgehauen worden war. »Ich verfluche den Tag, an dem ich die Stadt das letzte Mal erblickt habe«, fuhr er fort, »und ich verfluche die Magusch, die mich hierhergebracht hat.«

Nereni nahm seine Hand. »Mein Liebster, es ist ungerecht, Aurian die Schuld an den Ereignissen zu geben. Wie kannst du sie dafür verantwortlich machen, daß ihre Feinde unser Zuhause angegriffen haben? Denk doch nur – wäre sie nicht gewesen, hätten wir überhaupt nie eine Kolonie gehabt.«

»Und wäre sie nicht gewesen, hätten wir nie ein Kind gehabt – und sieh nur, was geschehen ist.« Eliizars Stimme war belegt vor Trauer. »Warum, Nereni? Wie konnte der Schnitter uns nach all den unfruchtbaren Jahren der Sehnsucht mit einem Kind segnen und dann so grausam sein, es uns wieder zu entreißen? Ich sage dir, warum …« Er drehte sich zu Nereni um, und in seinem einen gesunden Auge flammte wilder Zorn. »Weil der Schnitter sie uns niemals geben wollte, darum. Diese Magusch hat sich in die Angelegenheiten der Natur eingemischt und uns gegen den heiligen Willen des Gottes ein Kind gegeben. Amahli war ein Monstrum in seinen Augen, ein Greuel … Zur Strafe wurde sie uns wieder genommen …«

Nereni sprang wütend auf. »Ich werde nicht länger hier sitzen und mir diesen Unsinn anhören!« zischte sie. »Und wenn du unsere Tochter jemals wieder ein Monstrum nennst, werde ich dich mit bloßen Händen töten, das schwöre ich!« Mit diesen Worten stürmte sie quer durch das überfüllte Gefängnis. Den anderen Sklaven, die ihr hastig aus dem Weg sprangen, schenkte sie kaum Beachtung. Sie legte so viel Raum zwischen sich und Eliizar wie nur möglich und setzte sich mit dem Gesicht zur Wand, damit sie ihn nicht mehr ansehen mußte – und damit niemand ihre Tränen sehen konnte.

Nach einer Weile spürte Nereni eine Hand auf ihrer Schulter. Wütend fuhr sie herum. »Eliizar, geh – oh, du bist es, Jharav. Nun, für dich gilt dasselbe. Geh weg. Ich will mit niemandem reden.«

Ohne auf die Feindseligkeit zu achten, mit der sie ihm den Rücken zukehrte, setzte der alte Krieger sich mit einem leisen Grunzen neben sie. »Hab Geduld mit ihm, Nereni. Es ist die Trauer, die ihm solche Dinge in den Mund legt. Du weißt, daß er Amahli angebetet hat …«

»Und ich habe das wohl nicht getan?« fuhr Nereni ihn an.

»Du weißt, daß ich das nicht so gemeint habe – wir alle müssen unseren Kummer tragen«, seufzte Jharav.

»Ja – genau. Du hast die arme Ustila verloren, aber ich habe dich nie wie Eliizar reden hören, all diesen Blödsinn über Götter und Bestrafung und so weiter. Ist die Welt nicht schon schlimm genug, ohne auch noch die Götter mit hineinzuziehen?«

Jharav lachte verdrossen. »Ich glaube kaum, daß die Priester da mit dir einer Meinung wären, aber für uns gewöhnliche Leute ist es vielleicht gar keine so schlechte Sache! Nein, wirklich, Nereni, du kannst nicht das Gute zusammen mit dem Schlechten fortwerfen. Ich selbst schöpfe großen Trost aus dem Gedanken, daß meine Ustila sicher und glücklich in der Obhut des Schnitters ist.«

»Ja, aber dein Gott ist ein freundlicher Gott«, wandte Nereni ein. »Eliizars Schnitter scheint nur Gehässigkeit und Rachsucht zu kennen – aber ein Gott müßte doch über solche Dinge erhaben sein?«

Der Krieger schüttelte den Kopf. »Laß ihm Zeit, Nereni. Laß ihm Zeit.«

»Diese Mühe kann ich mir genausogut sparen«, erwiderte Nereni verbittert. »Welchen Sinn hat das alles, Jharav? Es wird nicht lange dauern, bis diese böse Frau uns alle zu Tode schindet. Was kann sie nur mit dieser Stadt vorhaben, die wir anscheinend mit bloßen Händen wieder aufbauen? Und was wird sie mit uns machen – mit denen, die überlebt haben –, wenn die Arbeit getan ist?«

»Darüber wage ich nicht nachzudenken. Aber ich vermute, sie will von hier aus den ganzen Süden beherrschen«, antwortete Jharav ernst. »Dieser Ort gäbe eine ideale Festung ab. Und wenn sie bereits die Himmelsleute von Aerilla beherrscht – verflucht sei der Name dieses Volkes –, dann kann es nur eine Frage der Zeit sein, bevor auch andere Länder und Rassen in ihre Hände fallen werden.«

»In diesem Falle«, sagte Nereni mit stiller Würde, »wäre ich lieber tot und bei meiner Tochter.«

Gerade in diesem Augenblick kam Lanneret, Rabes dreijähriger Sohn herbeigetrottet. »Reni«, jammerte er und zupfte an ihrem Ärmel, »Mutter weint wieder.«

Nereni seufzte und nahm ihn in die Arme. Entsetzt stellte sie fest, daß man seine kleinen Beinchen mit Fesseln und schweren Ketten beschwert hatte – eine Vorsichtsmaßnahme, die man bei allen gefangenen Himmelsleuten ergriffen hatte, um ihre mögliche Flucht aus Aerilla zu verhindern. »Na gut, mein Kleiner«, sagte sie zu ihm. »Ich komme gleich.«

Während sie sich erhob, wandte sie sich abermals an Jharav. »Weißt du«, sagte sie, »bevor ich Aurian kennengelernt habe, war ich immer viel zu nervös und ängstlich, um in einem Notfall oder einer Krise irgendwie von Nutzen sein zu können. Und jetzt sieh mich an – ich schultere nicht nur meine eigene Bürde, sondern auch die aller anderen.« Sie stieß ein kurzes, verdrossenes Lachen aus. »Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob ich der Magusch dankbar sein soll oder nicht. Es war viel einfacher, hilflos zu sein.«

Rabe saß neben dem reglosen Körper ihres Gefährten, und die Tränen tropften auf das geschundene und angeschwollene Gesicht des geflügelten Mannes. Auf dem Boden neben ihr schrie ihr Baby, aber Rabe hatte nicht einmal einen Blick für das kleine Mädchen. »O Nereni«, flüsterte sie. »Ich glaube, er wird sterben.«

Aguila war schwer verletzt worden, als er versuchte, seine Königin und seine Kinder vor den Brutalitäten Sonnenfeders und der Wachen zu schützen. Seit mehr als einem Tag war er nun ohne Bewußtsein; sein Atem ging flach, und sein Körper war kalt. Für Nereni waren all das schlimme Zeichen, aber um Rabes willen behielt sie ihre Furcht für sich. In gewisser Weise war es gerade Aguilas Bewußtlosigkeit, die die Königin bisher vor Sonnenfeder geschützt hatte. Zwischen den beiden Kriegern gab es einen heftigen, tief in der Vergangenheit verwurzelten Haß – Sonnenfeder hatte immer geglaubt, Rabe hätte ihn zum Prinzgemahl erheben sollen statt Aguilas, der aus einer einfachen Familie kam. Nereni wußte, daß er sich diese Chance, sich Rabe zu holen, nicht entgehen lassen würde; er wollte sie dafür zahlen lassen, daß sie ihn zurückgewiesen hatte – aber genauso wichtig war es Sonnenfeder, daß Aguila Zeuge seines Sieges wurde. Solange sich nicht herausstellte, ob ihr Gemahl weiterleben oder sterben würde, war Rabe nicht in unmittelbarer Gefahr – falls Sonnenfeder nicht irgendwann die Geduld verlor.

Als Nereni sah, daß Rabe sich überhaupt nicht um ihr Baby kümmerte, flammte für einen Augenblick heißer Zorn in ihr auf. Begreift sie denn nicht ihr Glück, daß sie die kleine Elster hat, dachte die Khazalimfrau. Einige von uns werden unsere Töchter nie wiedersehen – wir würden alles geben für das, was Rabe hat. Trotzdem nahm sie die geflügelte Frau in die Arme und Heß sie eine Weile weinen – bevor sie sich ihrer unangenehmen Aufgabe zuwandte. »Rabe, wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen«, sagte sie entschlossen. »Wir haben keine Heiltränke für Aguila und auch keinen Arzt, der; ihm helfen könnte. Wir können ihn lediglich warm halten und beten, daß seine Kraft groß genug ist, um ihn durchzubringen. In der Zwischenzeit aber«, fügte sie streng hinzu, »bist du in der Lage, dich um deine Kinder zu kümmern – und damit wirst du sofort anfangen. Lanneret bekommt Angst, wenn er dich so weinen sieht. Schon um seinetwillen mußt du tapfer sein. Und du mußt deiner Tochter zu trinken geben, Rabe, und sie warmhalten. Sie braucht dich im Augenblick noch dringender als Aguila. Was würde Elster sagen, wenn sie sehen könnte, daß du ihre kleine Namensvetterin so vernachlässigst?«

Bei der Erwähnung von Elster zuckte Rabe zusammen, als hätte Nereni sie geschlagen. »Das ist ungerecht!« protestierte sie. »Wie konntest du Elster erwähnen, wo ich solche Angst habe, daß nun auch Aguila sterben wird?« Die letzten Worte gingen in einem Schluchzen unter.

Nereni wandte sich voller Abscheu ab. »Du bist eine Königin«, sagte sie barsch. »Benimm dich auch so. Gib deiner Tochter zu essen. Tröste deinen Sohn. Gib deinem Volk ein Beispiel. Und niemals, hörst du, niemals darfst du die Hoffnung verlieren, daß wir eines Tages hier herauskommen werden.«

Aurian hatte kaum genug Zeit, richtig wach zu werden, und einen ledrigen Bissen zwei Tage alten Wildbrets hinunterzuschlucken, bevor Chiamh versuchte, sie irgendwohin zu zerren. Wie gewöhnlich war sie so kurz nach dem Aufwachen nicht gerade bester Laune. »Was ist bloß los mit dir?« sagte sie gereizt, als er ihre Hand ergriff und sie von den anderen wegführte. »Was soll diese Heimlichtuerei? Was es auch ist, kannst du’s mir nicht einfach sagen?«

Da sie kein Feuer machen durften, hatten sie ihr Lager direkt unterhalb der Baumgrenze der Berge aufgeschlagen, wo sie einigermaßen trocken und vor neugierigen Blicken geschützt waren. Das Windauge führte die verwirrte und ärgerliche Magusch über einen gewundenen Pfad durch die Bäume, und der Bussard der Magusch, der ihr die ganze Reise über nicht von der Seite gewichen war, folgte ihnen durch die Baumgipfel. »Die anderen sollen auf keinen Fall erfahren, daß ich gestern nacht in Dhiammara war«, erklärte Chiamh ihr gelassen. »Ich hatte Angst, du würdest etwas durchblicken lassen.«

»Aber ich wußte doch gar nicht, wo du warst. Du hast mir erzählt, du wolltest nach Aerilla.«

»Egal – ich möchte jedenfalls nicht, daß die anderen daran erinnert werden, daß ich die Winde reiten kann und damit eine Möglichkeit habe, Eliseth auszuspionieren.« Chiamh führte die Magusch einen steilen, felsigen Hang hinunter zu einem baumüberschatteten, moosbewachsenen Plätzchen, wo ein munterer kleiner Bergfluß über sein steiniges Bett sprudelte.

Auf seinem Weg das Gebirge hinunter machte das Wasser solchen Lärm, daß niemand ihr Gespräch würde mit anhören können. Die Magusch vergaß ihren Ärger und hörte sich mit wachsendem Unwillen an, was das Windauge ihr zu sagen hatte. Er kam nicht weit.

»Sie ist in Dhiammara?« unterbrach ihn Aurian. »Aber diese Stadt ist eine natürliche Festung! Verdammt! Wie im Namen aller Götter hat sie die Stadt gefunden – ganz zu schweigen von Aerilla …« Aurian brach abrupt ab, als ihr plötzlich die furchtbaren Konsequenzen dämmerten. »Bei alledem, was am Brunnen der Seelen und danach passiert ist, habe ich nie daran gedacht, mich zu fragen, wie sie nach Aerilla gekommen sein kann. Chiamh – wie konnte Eliseth davon wissen? Sie hat ihr ganzes Leben lang nie auch nur mit dem Gedanken gespielt, nach Süden zu gehen!«

Chiamh ergriff ihre Hand. »Aurian, es tut mir sehr leid. Das ist der Grund, warum ich dich aus dem Lager holen und unter vier Augen mit dir reden mußte. In Zukunft müssen wir bei jedem Wort vorsichtig sein. Einer unserer Gefährten ist Eliseths Spion.«

»Das glaube ich nicht!« Augenblicklich konzentrierte sich Aurians ganzer Zorn auf das Windauge. »Wie kannst du es wagen, so etwas zu sagen!«

Chiamh erwiderte nichts – er wartete einfach, bis sich der anfängliche Schock gelegt hatte.

Aurian biß sich auf die Lippen. »Tut mir leid«, sagte sie. »Bist du dir da absolut sicher?«

»Ich bin mir sicher. Sie hat es nämlich der Königin der Khazalim erzählt.«

»Sara? Bei allen Dämonen! Was hat dieses hinterhältige Weibsstück da zu suchen?«

Chiamh schnitt eine Grimasse. »Sie versorgt Eliseth mit Kriegern. Ich entnehme deiner Reaktion, daß ihr beide euch nicht besonders grün seid«, fügte er trocken hinzu. »Aber wie kommt es, daß du sie kennst?«

»Wieso ich sie kenne? Ich kenne das kleine Miststück seit Jahren. Sie hat ihr Leben in Nexis als Gassenkind begonnen – sie und Anvar waren in ihrer Jugend ein Paar, wenn du dir das vorstellen kannst. Dann hat die habgierige kleine Schlampe Vannor geheiratet. Wegen seines Geldes.«

»Was?« Diese Eröffnung traf Chiamh vollkommen unerwartet. »Und das ist wirklich die Königin der Khazalim, von der wir da sprechen?«

»Glaub mir. Als die Todesgeister über die Stadt herfielen, bat Vannor Anvar und mich, sie mitzunehmen und in Sicherheit zu bringen. Dann erlitten wir Schiffbruch und endeten in Taibeth, wo sie als Konkubine an Xiang verkauft wurde. Sie fand schnell heraus, daß er ihr weit mehr zu bieten hatte als ein schlichter Kaufmann.«

Das Windauge schüttelte den Kopf. »Die Göttin möge uns beistehen«, murmelte er. »Da haben wir ja interessante Dinge vor uns, wenn wir nach Dhiammara kommen und sie und Vannor einander begegnen.«

Aurian schlug die Hände vors Gesicht. »Ich wage nicht, daran auch nur zu denken.« Dann bückte sie plötzlich auf. »Aber vergessen wir das für den Augenblick. Sara ist harmlos im Vergleich zu Eliseth. Du sagtest, einer von uns sei ein Spion? Chiamh, das kann doch nicht wahr sein, oder? Was für eine entsetzliche Neuigkeit. Wer könnte das sein? Und wie lange geht das schon so?« Sie sprang auf, als wolle sie sich körperlich von der unwillkommenen Nachricht entfernen. »Chiamh, hättest du etwas dagegen, mich für eine Weile allein zu lassen? Ich muß über diese Sache nachdenken. Sag den anderen – ach, ich weiß nicht. Sag ihnen, ich dächte nach. Das entspricht sogar der Wahrheit.«

»Na gut.« Als er sich zum Gehen wandte, zögerte Chiamh jedoch noch einmal. »Aber ich werde Shia herschicken, damit sie über dich wacht«, setzte er entschlossen hinzu. »Zumindest den Katzen kannst du trauen, das weiß ich. Wenn einer unserer Gefährten wirklich Eliseths Spion ist, dann ist er auch ihr Werkzeug, und wir übrigen sind in ernster Gefahr – vor allem du, Aurian. Sobald deine Feindin bemerkt, daß du ihren Aufenthaltsort kennst und bereits auf dem Weg dorthin bist, müssen wir mit einem Anschlag auf dein Leben rechnen.«

Sobald das Windauge gegangen war, setzte Aurian sich wieder. Sie nahm eine Handvoll Kieselsteine vom Flußufer auf und schleuderte sie nacheinander ins Wasser. »Zumindest den Katzen kannst du trauen, das weiß ich«, hatte Chiamh gesagt. Meinte er damit, daß sie nicht einmal ihm trauen konnte? Oder daß sie ihm nicht trauen sollte? Nein, das war gewiß Unsinn, dachte die Magusch. Wie könnte Chiamh zu Eliseths Spion geworden sein? Dann hätte er mir doch gewiß nichts davon erzählt …

»Es sei denn, er wollte Argwohn und Zwist zwischen dir und deinen anderen Gefährten säen«, sagte ihre innere Stimme.

»Das ist doch ausgemachter Blödsinn«, rief Aurian sich zur Ordnung. »Chiamh ist damals im Tal mit mir durch die Zeit gegangen, genauso wie Iscalda und Schiannath. Eliseth hatte nie auch nur die geringste Chance, an einen von ihnen heranzukommen. Viel wahrscheinlicher ist, daß es sich um einen der anderen handelt, einen von denen, die in Nexis waren, während Eliseth sich auch dort aufgehalten hat. Aerilla wäre natürlich ebenfalls eine Möglichkeit. Es könnte sogar Linnet sein – oder Grince. Er war jedenfalls sehr entschlossen, mich auf der Reise zu begleiten …«

In ihrem Herzen wußte Aurian jedoch, daß es höchstwahrscheinlich jemand war, der auf irgendeine Weise mit dem Gral in Berührung gekommen war. Konnte der Verräter Vannor sein? Oder Forral? »Barmherzige Götter«, flüsterte Aurian bei sich. »Nicht Forral – das kann doch nicht sein? Und was soll ich denn jetzt tun?« Eines stand jedoch fest. Sie würde auf keinen Fall nach Dhiammara gehen und Eliseth stellen können, ohne daß ihre Feindin davon erfuhr. Jede Hoffnung, die Wettermagusch mit einem Überraschungsangriff überwältigen zu können, war nun dahin.

»Was ist denn bloß los?« Shia tauchte zwischen den Bäumen auf, und ihre Stimme klang besorgt. »Chiamh wollte mir nichts verraten – er hat mich einfach zu dir geschickt, damit ich dich bewache. Du schirmst deine Gedanken ab, meine Freundin, aber ich konnte deine Bestürzung den ganzen Weg hierher spüren. Was ist passiert?«

»Wir stecken in ernsten Schwierigkeiten, Shia.« Schnell erzählte Aurian der Katze, was sich ereignet hatte.

Shia dachte eine Weile nach und leckte sich dabei geistesabwesend ihre großen schwarzen Pfoten. »Weißt du, da ist eine Sache, die du bisher nicht bedacht hast«, sagte sie schließlich. »Wenn dieser Spion schon die ganze Zeit bei uns gewesen ist, hätte Eliseth dich schon lange ermorden lassen können, ohne daß du ihr überhaupt zu nahe kommen konntest. Sie hätte gewiß eine Gelegenheit gefunden, dich zu töten, bevor du überhaupt mit einem Verrat rechnetest. Es wäre das Einfachste auf der Welt gewesen, dir im Schlaf ein Schwert oder ein Messer in den Leib zu stoßen – und von Eliseths Gesichtspunkt aus gewiß erheblich ungefährlicher. Also, warum hat sie nicht schon viel früher deinen Tod befohlen? Mir scheint, daß es darauf nur eine Antwort geben kann – sie will, daß du zu ihr kommst. Aber warum?«

Aurian blickte ihre Freundin an, als hätte sie sie noch nie zuvor gesehen. »Barmherzige Götter«, sagte sie langsam. »Du hast absolut recht – und dafür kann es nur einen einzigen Grund geben. Shia, ich war eine Närrin, daß ich nicht schon eher daran gedacht habe. Eliseth will die restlichen Artefakte! Sie will mich nach Dhiammara locken! Keine Stadt im ganzen Süden läßt sich so gut verteidigen wie die Drachenstadt – auf diese Weise erreicht sie, daß ich ihr die Harfe und das Schwert direkt vor die Füße lege, bevor sie mich erledigt.«

»Da täuscht sie sich aber«, fauchte Shia. »Wenn sie dich erledigen will, wird sie erst einmal mich aus dem Weg schaffen müssen.«

Aurian streckte die Hand aus und strich über den breiten, glatten Kopf der Katze. »Nein, Shia. Seit diese Sache begonnen hat, habe ich genug Freunde verloren. Ich werde jetzt nicht auch noch den Rest von euch opfern. Es muß eine andere Möglichkeit geben …«

»Soweit ich sehe«, sagte Shia, »hat es keinen Sinn, Eliseth wissen zu lassen, daß du von ihrem Spion Kenntnis hast. Auf diese Weise würde sie bloß herausfinden, daß du sie ebenfalls ausspionieren kannst. Wir können nur eins tun. Wir müssen sofort nach Aerilla aufbrechen und hoffen, daß wir deine Feindin unvorbereitet treffen.«

»Das ist unmöglich«, wandte Aurian ein. »Soweit ich sehe, ist sie bereits bestens vorbereitet. Wir müssen auf irgendeine Weise an sie herankommen, ohne daß sie davon erfährt …«

»Du könntest einen Schild errichten«, sagte Chiamh.

»Was?« Aurian wurde bleich. Sie schaute sich hektisch um, konnte aber nichts sehen – und doch war die Stimme irgendwo dicht an ihrem linken Ohr gewesen.

Shia stieß ein drohendes Knurren aus, stürzte an Aurian vorbei – und setzte zum Sprung an. Als nächstes hörte Aurian einen gedämpften Aufschrei – und plötzlich lag Chiamh der Länge nach unter der großen Katze auf dem Boden. Sie hatte die Zähne gebleckt, und ihre wilden, goldenen Augen blickten zornig in die seinen. Aurians Bussard schoß mit schrillen, wütenden Schreien vom Himmel herab und kreiste gefährlich dicht über Chiamhs Augen. Mit einiger Mühe konnte Aurian das zornige Geschöpf beruhigen, obwohl sie absolut nichts dagegen hatte, daß Shia für den Augenblick blieb, wo sie war. Sobald die Magusch ihren Bussard beruhigt hatte, trat sie mit funkelnden Augen und die Hände in die Hüften gestemmt vor Chiamh hin. »So«, sagte sie kalt. »Vielleicht würdest du mir jetzt erklären, warum du mich ausspioniert hast.«

»Aurian, sei doch vernünftig«, stieß das Windauge hervor. »Wenn ich dich ausspionieren wollte, hätte ich dich dann darauf aufmerksam gemacht? Wenn ich hätte lauschen wollen, hätte ich meinen armen, geschundenen Körper an einem sicheren Ort zurücklassen und dich von den Winden aus beobachten können …«

Shia blickte zu der Magusch auf. »Wenn man genauer darüber nachdenkt, ergibt das durchaus einen Sinn«, meinte sie zweifelnd.

Aurian nickte. »Ja, wahrscheinlich …«

»Bitte – sag dieser verdammten Katze, sie soll von mir runter gehen, und laß mich erklären. Sie bricht mir noch sämtliche Rippen«, protestierte Chiamh mit erstickter Stimme.

»Na gut«, sagte Aurian mit plötzlicher Entschlossenheit. »Laß ihn aufstehen, Shia. Aber Chiamh – ich hoffe, du hast eine gute Entschuldigung parat. Ich habe mir nämlich angewöhnt, dir zu vertrauen, und ich fände es schrecklich, jetzt plötzlich damit aufhören zu müssen.«

Das Windauge mühte sich auf die Füße und tastete zaghaft seine Rippen ab. »Oh, meine Entschuldigung ist tatsächlich gut, mehr als gut. Ich glaube nämlich, ich habe gerade eine Möglichkeit gefunden, uns nach Dhiammara zu bringen. Ich habe lediglich an dir geübt – und du mußt zugeben, es hat funktioniert. Du hattest nicht die leiseste Ahnung, daß ich da war.« Er sah die Magusch an und grinste. »Vertrau mir, Aurian – du wirst einfach begeistert sein.«

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