23 Das Trugbild

Während Zanna sich hinter Tarnal durch das Kampfgetümmel mühte, spürte sie plötzlich, wie etwas an ihrem Umhang zupfte – dann war ihr Sohn nicht mehr da. »Valand!« Sie fuhr herum und sah, wie ein Krieger das Kind mit seinem Panzerhandschuh in den Boden stampfte und mit bösartigen Tritten traktierte. Als der Mann den Fuß zu einem weiteren Tritt hob, erschien wie aus dem Nichts eine fauchende, graue Gestalt, die aufschoß und sich in die Kehle des Kriegers verbiß. Mann und Wolf taumelten rückwärts, bis sie im Kampfgetümmel verschwunden waren.

Zanna rannte dorthin, wo ihr Sohn bleich und reglos am Boden lag, aber sie konnte ihn nicht hochheben, ohne Martek abzusetzen. Tarnal konnte ihr nicht helfen. Er stand vor seiner Familie, um sie zu verteidigen – aber sein Schwert wurde dringend benötigt. Dann lockerte sich das Gedränge für einen Augenblick, und Zanna sah Emmie und Yanis mit Vannor, Parric und Dulsina. Vannor und der Kavalleriehauptmann kämpften Rücken an Rücken um ihr Leben: auch Vannor verteidigte sich mit seiner einen Hand auf bewundernswerte Weise. »Vater!« kreischte Zanna. »Bitte hilf uns!«

Yanis zog an Vannors Ärmel und rief ihm etwas zu, das Zanna in dem Lärm der Schreie und des Schwerterklirrens nicht hören konnte. Dann führte Yanis Emmie und Dulsina zu den Schiffen hinunter; Schneesilber, Emmies großer, weißer Hund, half ihm, die Frauen vor einem Angriff zu bewahren. In der Zwischenzeit hatte sich der ehemalige Hohe Herr von Nexis mit Gewalt einen Weg zu seiner Tochter durchgekämpft; sein alter Freund Parric gab ihm Rückendeckung. Als die beiden Männer Zanna erreichten, erbleichte Vannor beim Anblick seines Enkelsohns, der so schlaff und still da lag. Wortlos nahm er den Jungen auf die Arme, und abermals machten sie sich auf den Weg zum Rand des Wassers. Tarnal und Parric gaben ihnen mit ihren Schwertern erneut Rückendeckung. Zanna, die nur an die Sicherheit ihrer Kinder dachte, lief auf die Boote zu. Den kleinen Wolf, der irgendwo hinter ihr mitten im Kampfgetümmel sein mußte, hatte sie vollkommen vergessen.

Pendrals Soldaten, die entsetzt vor der rothaarigen Furie und dem großen, blonden Krieger zurückgeprallt waren, ergriffen beim Anblick der beiden riesigen Katzen endgültig die Flucht. Die beiden Geschöpfe schienen nur noch aus tödlichen Fangzähnen und Klauen und furchtbaren, brennenden Augen zu bestehen, und da sich ihnen niemand in den Weg stellte, schossen sie durch den Korridor und hinein in die Haupthöhle. Forral hielt kurz inne, um die Szene mit dem erfahrenen Auge eines Kriegers zu überblicken, und sah, daß zwei der Schmugglerschiffe bemannt wurden, während eine Hotte kleinerer Boote durch den Hafen kam, um sich zu ihnen zu gesellen. Er wußte, daß sie nicht mehr viel Zeit hatten. Die Nachtfahrer waren in der Minderheit, und der Strom der Soldaten schien nicht abreißen zu wollen. »Da hinunter – und schnell«, rief er, wies ihnen mit seinem Schwert den Weg und stürmte auch schon den Strand hinunter, stürzte sich mitten in das Gedränge der Kämpfenden, um auf schnellstem Weg zum Wasser zu eilen.

Aurian wollte ihm gerade folgen, als ihr Blick auf einen am Boden liegenden Körper fiel, der im Schatten der Höhlenwand in sich zusammengesunken war. Etwas – ein vages Gefühl des Wiedererkennens – ließ sie nicht los, und ohne einen weiteren Gedanken lief sie zu dem reglosen Bündel hinüber; ihr Herz war bleischwer vor Angst, was sie dort finden würde.

»Chiamh«, flüsterte die Magusch. Sie wagte es nicht, ihn zu berühren – ja nicht einmal, ihm das zerzauste, braune Haar aus dem Gesicht zu streichen. Aus einer Vielzahl von Wunden sickerte Blut: das Windauge war an ungezählten Stellen verletzt und durchbohrt worden, und einige tiefe Wunden, die sich in der Nähe lebenswichtiger Organe befanden, sahen sehr schlimm aus. Aurians Instinkte als Heilerin sagten ihr, daß Chiamh, wenn er nicht schon tot war, sich an einen hauchzarten Lebensfaden klammern mußte, und daß dieser Faden sehr dünn und zerbrechlich war und jederzeit reißen konnte. Sie durfte keine Zeit verschwenden. Aurian wußte, daß sie sofort handeln mußte – falls es nicht bereits zu spät war. Sie schob ihren überwältigenden Schmerz beiseite, um die Situation kühl und sachkundig abzuschätzen. Es schien keine Möglichkeit zu geben, ihn zu retten – wenn sie ihn bewegte, würde ihn das umbringen, und das Risiko, ihr eigenes Leben an die feindlichen Schwerter zu verlieren, wuchs von Sekunde zu Sekunde –, aber Aurian weigerte sich, so einfach eine Niederlage einzustecken. »Keine Sorge, Chiamh – ich bin jetzt bei dir«, sagte sie zu ihm. »Ich kümmere mich um dich.« Während sie sich mit aller Macht darauf konzentrierte, jede Ablenkung durch den Kampf, der um sie herum wütete, auszublenden, nahm sie das Windauge aus der Zeit.

So, und nun ein Apportzauber … Die großen Schiffe waren zu weit weg – Aurian konnte das Windauge unmöglich über solch eine Entfernung bewegen, ohne zuviel von ihrer eigenen Energie zu opfern. Hätte sie es versucht, wäre ihr anschließend vielleicht nicht mehr genug Kraft geblieben, um sich in Sicherheit zu bringen – und ohne sie, die ihn heilen konnte, hatte Chiamh überhaupt keine Chance. Plötzlich entdeckte die Magusch ein kleineres Boot, das die anderen übersehen hatten; es lag hinter einer niedrigen Felsspitze am südlichsten Zipfel des Strandes vor Anker. Die anderen hatten das kleine Schiff in der Dunkelheit nicht bemerkt, und Aurian war es nur wegen ihrer Maguschsicht aufgefallen. »Schön«, murmelte Aurian. Dann wandte sie sich wieder an Chiamh und …

»Lady! Gib acht!«

Aurian duckte sich, und als die Klinge einen Zentimeter über ihrem Kopf die Luft durchschnitt, ließ sie ihr eigenes Schwert in einem weiten Bogen kreisen, der ihren Gegner direkt unterhalb der Knie traf, so daß er wie ein gefällter Baum zu Boden stürzte. Die Magusch drehte die Klinge mit einer geschickten Handbewegung halb herum und erledigte ihren Angreifer, noch bevor dieser auf dem Boden aufschlug. Erst da sah sie Grince, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war; an seiner Seite stand Frost, sein kleiner, weißer Hund. Grinces Gesicht zeigte einen grimmigen Ausdruck, und er schwang ein Schwert, das er eindeutig einem Gefallenen gestohlen hatte und das viel zu groß für ihn war.

»Danke«, sagte Aurian zu dem Dieb. »Gib mir für einen Augenblick Rückendeckung.« Dann nahm sie all ihre Zauberkraft zusammen, dachte an Chiamh, wie er hier lag, stellte ihn sich dort, auf dem Boot vor – und hüllte ihn in ihre Magie, um ihn mit einer gewaltigen geistigen Anstrengung von hier nach dort zu transportieren. Man hörte ein Krachen und spürte einen Windstoß, dann füllte die Luft zischend den leeren Raum aus, wo zuvor Chiamh gewesen war.

Aurian hörte ein Aufkeuchen und einen erstickten Fluch von Grince. »Komm weiter«, sagte sie zu ihm, »verschwinden wir von hier.«

»Da ist noch ein Boot übrig«, rief Tarnal. »Wir sind fast da …« Mit einem Entsetzensschrei brach er ab. Zanna trat auf ihn zu – und ihre Arme krampften sich um ihren jüngeren Sohn, bis er vor Schmerz aufschrie. Ungeachtet seiner Proteste preßte sie sein Gesicht fest gegen ihre Schulter, so daß er nichts sehen konnte. Halb verborgen im seichten Wasser lagen Emmie und Dulsina. Emmie wies keine sichtbaren Zeichen auf, war aber eindeutig tot. Dulsinas Schädel war von einem schweren Schlag zerschmettert worden, der die Hälfte ihres Gesichtes zerstört hatte; Blut und ein Teil ihres Gehirns waren auf den Sand gesickert.

Endlich gelang es Zanna, sich von dem grauenhaften Anblick loszureißen. Ihre eigene Trauer war einfach zu gewaltig, um sie im Augenblick ganz zu ermessen – Dulsina war wie eine Mutter für sie gewesen seit dem Tag, an dem ihre eigene gestorben war. Zanna versuchte, Dulsinas Tod aus ihren Gedanken zu verbannen und wandte sich an ihren Vater. Sie hatte keinen einzigen Laut von ihm gehört – wie nahm er diese Katastrophe auf? Der alte Kaufmann stand am Rand des Meeres, ohne das Wasser zu bemerken, das in seine Stiefel sickerte. Er umklammerte den Körper seines Enkelsohns, als wäre das Schiff seines Lebens gesunken und der Junge das einzige Treibholz, das ihm noch Halt geben konnte.

Vannor blickte zu Zanna auf, und in seinen Augen war eine furchtbare Leere, als hätte ihm jemand die Seele aus dem Leib gerissen. »Das ist nicht meine Dulsina«, sagte er heiser. »Das ist sie nicht.« Dann kehrte er der grauenvoll verstümmelten Leiche den Rücken zu.

Hinter Zanna ertönte ein Ruf, und als sie sich umdrehte, sah sie Yanis an den Rudern eines kleinen Bootes stehen. Schneesilber, der aus einer Schwertwunde in seiner Hanke blutete, wurde mit einem Stück Seil an eine Ruderbank gebunden. Selbst jetzt noch heulte der Hund mitleiderregend und versuchte mit aller Kraft, zu Emmies Leiche zurückzukommen. Yanis strömten die Tränen übers Gesicht. »Ich konnte sie nicht retten«, sagte er. »Ich habe es versucht, aber ich konnte …«

Erst da bemerkte Zanna, daß sein Gewand mit Blut durchtränkt war. »Yanis – du bist verletzt!«

»Ich konnte sie nicht retten … Konnte es einfach nicht …«

Er stand eindeutig unter Schock. Irgend jemand mußte die Sache jetzt in die Hand nehmen … »Vater, steig ins Boot«, sagte Zanna scharf. »Gut – jetzt leg Valand hin und nimm mir Martek ab. Weiter. So, das war’s.« Sie stolperte in das kleine Boot, und Tarnal nickte ihr dankbar zu, bevor er sein Schwert in die Scheide schob und sich anschickte, das Boot vom Kiesstrand ins Wasser zu staken. Zanna, die über seine Schulter blickte, rief ihm plötzlich etwas zu. »Tarnal, warte. Warte nur einen Augenblick!« Anvar – Forral, berichtigte sie sich in Gedanken – kam mit den beiden großen Katzen auf das Boot zugerannt. Tarnal hob die Stimme. »Wenn du mitkommen willst, steig ein.«

»Warte«, sagte Zanna scharf. »Wo ist Aurian?«

»Direkt hi …« Der Schwertkämpfer stieß einen wilden Fluch aus und suchte den Strand ab, um im Getümmel der Kämpfer die Magusch zu entdecken.

Shia, die ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Feind konzentrierte, hatte sich bis an den Rand des Wassers hinuntergekämpft, bevor ihr klar wurde, daß die Magusch nicht mehr hinter ihr war. Mit einem lauten Brüllen fuhr sie herum. »Aurian! Wo bist du?«

»Ich komme …«

»Forral hat ein Boot gefunden.« Es war das erste Mal, daß Shia ihn beim Namen genannt hatte.

»Dann geht.« Die Antworten der Magusch klangen angespannt und geistesabwesend – sie mußte dort oben am Strand eindeutig um ihr Leben kämpfen. »Chiamh liegt verwundet in einem anderen Boot – ich muß mit ihm fahren.«

»Nein! Warte – ich bin gleich bei dir …«

»Ich sagte, gehl Und nimm Forral mit. Sag ihm, er soll – ach, egal. Bring ihn irgendwie dazu, in dieses verdammte Boot zu steigen, Shia, und wenn du ihn bewußtlos schlagen und an Bord schleifen mußt. Auf diese Weise haben wir alle eine Chance, das hier zu überleben. Tu es!«

»Dann gib acht auf dich, meine Freundin!« Shia drehte sich um und sah, daß Forral sich den Hals nach der Magusch verrenkte.

»Nun komm schon, Mann!« rief Tarnal. »Wir müssen ablegen! Steig ein, oder bleib, wo du bist!«

»Ich kann nicht – Aurian ist verschwunden!« schrie der Schwertkämpfer.

»Steig in das Boot«, brüllte Shia ihn an, während sie in ihre Gedanken allen Nachdruck legte, dessen sie fähig war. »Aurian kommt!«

Forral drehte sich zu ihr um. »Was, zum … du …? Hast du …?«

»Ja! Und jetzt steig in dieses verfluchte Boot, Mensch, bevor ich dir die Eingeweide aus dem Leib reiße. Aurian hat es befohlen.«

Ein sturer Zug legte sich um seinen Mund. »Ich gehe nicht, oh …«

Mit einem wilden Fauchen stürzte Shia sich auf ihn, so daß er rückwärts gegen das Boot taumelte und es ein Stück weiter hinaus ins seichte Wasser schob. Tarnal streckte blitzartig den Arm aus und zog ihn an Bord. Shia und Khanu betrachten das bereits mit Menschen überfüllte Boot und tauschten eine wortlose Botschaft aus. Dann sprangen sie gemeinsam ins Wasser und schwammen auf das wartende Schiff zu. Für Katzen, deren große Krallen dazu geschaffen waren, die Klippen und die felsigen Steilwände von Stahlklaue zu erklettern, war es ein Kinderspiel, den Rumpf eines Holzschiffs zu bezwingen. Das andere Schiff war bereits aufgebrochen. Noch während Tarnal, der letzte Passagier des Bootes, an Bord des größeren Schiffs ging, wurde der Anker hochgezogen, und kräftige Männer schoben das Schiff mit Hilfe langer Staken aus dem Hafen.

Die Magusch war außer sich vor Zorn, daß ihre Feinde ihrem Freund so schreckliche Wunden zugefügt hatten. Sie ließ ihre Wut an den feindlichen Soldaten aus und verspürte eine grimmige Befriedigung, als sie unter ihrer Klinge fielen. Dann, als sie sich dem Boot näherte, bot sich ihr ein Anblick, der den roten Nebel in ihrem Gehirn wie ein Blitz durchzuckte und ihre Gedanken in eine rohe, eiskalte Klarheit tauchte. Zwei Soldaten trieben Wolf in die Enge und hatten ihn in eine Felsspalte in der Höhlenwand gedrängt. Aurian konnte Blut auf seinem Mund und in seinem Pelz sehen und hatte keine Ahnung, ob es sein eigenes war oder nicht – sie sah nur die Gefahr, die ihrem Sohn drohte. Als sie ihn vor Furcht wimmern hörte, übertönte sie dieses mitleiderregende Geräusch mit einem Zornesschrei von solcher Gewalt, daß alle Kämpfe in der Höhle für einen Augenblick stockten.

Wolfs Angreifer erfuhren nicht mehr, was ihnen geschah. Die Magusch zog ihr Schwert aus den Rippen des zweiten Mannes, noch bevor der Kopf des ersten auf dem Boden aufschlug. Dummerweise hatte sie jedoch mit ihrem Schlachtenschrei Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, und der Feind kannte nur das eine Ziel, sie aufzuhalten. Schon jetzt näherten sich ihr mehrere Männer.

»Kannst du laufen?« fragte Aurian ihren Sohn.

»Ich – ja …«

»Dann lauf.«

Sie liefen, und Grince und Frost hefteten sich an ihre Fersen. Aber sie würden es niemals schaffen. Eine Gruppe von Soldaten trat ihnen fast auf die Säume ihrer Umhänge, und ein weiterer Trupp des Feindes stellte sich zwischen sie und das Boot. Die eine einzige Lücke, die ihnen noch blieb, wurde immer schmaler … Schloß sich … Die Magusch begriff, daß sie in einen Wald aus Schwertern rannte. Einer der Feinde schrie etwas, aber neben dem qualvollen Summen in ihrem Schädel war es unmöglich, irgend etwas zu hören. Aurian wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß aus den Augen. Die Luft schien dunkler zu werden; dicker. Seit wann war es so kalt? Es fiel ihr immer schwerer, die Umrisse der Soldaten zu erkennen – aber was war das? Ihre Gesichter waren verzerrt von blankem Entsetzen? Sie schraken zurück? Flohen – rannten! Mit einem mißtönenden, schrillen Fauchen glitt eine riesige, schwarze Gestalt über den Kopf der Magusch hinweg und stieß auf die flüchtenden Soldaten herab, fiel über eine Gruppe von drei entsetzten Männern her wie ein Habicht über sein Opfer.

Während der Todesgeist seine Nahrung zu sich nahm, fiel die Lähmung von Aurian ab, und sie kam wieder zu sich. Sie drehte sich zu dem betäubten Grince um und schlug ihm ins Gesicht. »Weg hier – sofort!« kreischte sie.

Die Magusch, der Dieb und der Wolf kamen fast gleichzeitig bei Aurians verstecktem Boot an. Ein einziger gehetzter Bück über die Schulter zeigte Aurian, daß der Todesgeist von den leblosen Leibern der Soldaten abgelassen hatte und Ausschau nach weiteren Opfern hielt. Sie sah, daß die rauchigen, roten Augen in ihre Richtung blickten – dann wandte der Todesgeist sich bewußt von ihr ab und verschwand in den Tunneln, um den flüchtenden Kriegern nachzujagen.

Aurian nahm ihren Sohn auf den Arm und warf ihn in das Boot. Auf Grinces Befehl sprang Frost hinter ihm her, und gemeinsam stießen die Magusch und der Dieb das Boot vom Ufer ab. Dann zogen sie sich ebenfalls über den Rand, achteten jedoch darauf, den in einen blauen Lichtschimmer gehüllten Körper Chiamhs nicht zu berühren. Aurian erinnerte sich später, daß das Wasser, das ihr in die Stiefel schwappte, sehr kalt gewesen war, aber in diesem Augenblick nahm sie solche Einzelheiten überhaupt nicht wahr. Sie riß die Ruder hoch und begann mit aller Kraft zu rudern, um das Boot so schnell wie möglich aus der Höhle zu bringen.

Gevan beteiligte sich nicht länger an dem Kampf. Schon seit einiger Zeit hatte er im Eingang eines der Korridore gestanden und voller Entsetzen das Morden und das Gemetzel beobachtet, das in der Haupthöhle der Nachtfahrer wütete. Jetzt wünschte er, er wäre nicht mitgekommen. Wäre er nur sicher in Nexis geblieben oder hätte wenigstens auf einem der Boote gewartet, bis die Kämpfe vorüber und die Leichen weggeschafft waren. Es wäre nicht weiter schlimm gewesen, in das leere Nachtfahrerversteck hineinzuspazieren und seinen Anteil an der Beute auf sein neues Boot zu laden, bevor er sich auf den Weg zurück in die Stadt und zu einem neuen Leben voller Wohlstand machte. Aber mitanzusehen, wie Menschen, die er seit seiner Kindheit gekannt hatte, kämpfen mußten oder um ihr Leben rannten, um dann doch vor seinen Augen getötet zu werden, das war etwas ganz anderes.

Gevans Unbehagen hatte jedoch nur wenig mit Schuldgefühlen zu tun – wäre er nicht Zeuge dieses Massakers geworden, so sagte er sich, hätte er keine unangenehmen Erinnerungen zurückbehalten und viel leichter vergessen können, welche Rolle er bei der Zerstörung der Gemeinschaft gespielt hatte. Es war ohnehin nicht seine Schuld – Yanis war dafür verantwortlich. Gevan war seit dem Tod von Yanis’ Vater zunehmend unzufrieden mit den Nachtfahrern gewesen. Er war Leynards Stellvertreter gewesen, und soweit es ihn betraf, schuldete Yanis ihm allerhand – Vergünstigungen, Respekt, Aufmerksamkeit und den zusätzlichen Anteil an Plünderbeute, der ihm früher zugestanden hatte. Der neue Nachtfahrerführer hielt jedoch stur an seinen eigenen Vorstellungen fest – zu denen auch die Ansicht gehörte, daß er sein eigener Herr war, ganz gleich, was geschah; er war nicht geneigt, dem alten Gefährten seines Vaters die Leitung der Gemeinschaft zu überlassen, nur weil dieser ihm einige Jahre voraus hatte. Gevan hatte seinen Groll nun schon seit über zehn Jahren genährt, seit Leynards Tod, und sein Ärger hatte irgendwann ein eigenes Leben angenommen und war wie ein lebendiges Wesen von Tag zu Tag gewachsen.

Ungeachtet seiner Gier nach Wohlstand und Ansehen, hatte Gevan die Nachtfahrer in Wirklichkeit nur verraten, um sich an Yanis zu rächen, und das war auch der Grund, warum er seinen Zorn kaum im Zaum halten konnte, als er den Anführer entkommen sah. »Da läuft er! Der Anführer der Nachtfahrer! Haltet ihn auf – er entkommt euch!«

Dem Soldatentrupp, der ihm am nächsten stand, waren plötzlich die Gegner ausgegangen, und sie hatten sich am Strand versammelt, um die Leichen der Nachtfahrer nach Waffen, Schmuckstücken und Münzen abzusuchen. Gevan lief auf den nächstbesten zu und packte ihn am Arm. »Yanis flieht! Du mußt ihn aufhalten!«

Ohne Eile erhob sich der Krieger, zog sein Messer und rammte es Gevan in den Bauch, um die Klinge dann mit einem scharfen Ruck hochzureißen. Die Überraschung traf Gevan einen Augenblick vor dem Schmerz. Noch während er mit einem dünnen Schmerzensschrei zu Boden sank und vergeblich den Sturzbach seiner Eingeweide aufzuhalten versuchte, konnte er nicht glauben, was gerade passiert war.

Der Soldat spuckte aus, und der ehemalige Nachtfahrer spürte den warmen Speichel über sein Gesicht rinnen. Dann spürte er gar nichts mehr. Als Gevan immer tiefer in die Dunkelheit stürzte, folgte ihm die Stimme des Soldaten noch ein Stück des Weges. »Lord Pendral sagte, es würde eine Belohnung für denjenigen von uns geben, der dich aufspießt, sobald du uns hier reingebracht hast«, sagte er. »Warum soll sich ein anderer die Goldmünzen unter den Nagel reißen?«

D’arvan, der allein und hoffnungslos unterlegen war, hatte das einzig Vernünftige getan – er hatte sich und so viele Nachtfahrer, wie er in seiner Kammer unterbringen konnte, verbarrikadiert und seine Magie benutzt, um die Tür so zu verhüllen, daß sie wie ein Teil der Höhlenwand aussah. Zu seiner großen Erleichterung war einer der Sterblichen, denen er Zuflucht gewährt hatte, der alte Hargorn – Maya hätte es ihm nie verziehen, wenn er ihren ehemaligen Kampfgefährten hätte sterben lassen – was im übrigen nicht sehr wahrscheinlich gewesen wäre. D’arvan hatte den heftig protestierenden alten Soldaten aus dem dichtesten Kampfgewühl gezerrt, wo er es mit drei Soldaten gleichzeitig aufnahm, obwohl ihm das Blut aus einer langen, wenn auch nicht allzu tiefen Schnittwunde sickerte; einer seiner Feinde hatte ihn wohl mit der Spitze seines Schwertes am Arm erwischt.

Es dauerte lange, bevor sie es wagten, ihr Versteck zu verlassen. Hargorn, dessen Arm inzwischen verbunden worden war, beschimpfte den Magusch immer noch wegen seiner Einmischung, als sie plötzlich Schreie abgrundtiefen Entsetzens hörten und dann das Geräusch stampfender Schritte, die den Korridor hinunterkamen. D’arvan schauderte. Ihm fiel nur ein Grund ein, warum die Soldaten von solchem Grauen erfüllt sein sollten – und nur die Götter wußten, was geschehen würde, wenn der Todesgeist tatsächlich auf freiem Fuß war und unkontrolliert wüten konnte.

Als der Magusch und die Nachtfahrer sich endlich aus ihrer Kammer wagten, fanden sie den Höhlenkomplex vollkommen verlassen – abgesehen von den Leichen. Die Schmuggler, die ihn begleiteten, weinten und fluchten, als sie Freunde und Verwandte erkannten – aber weit zahlreicher waren die verzerrten Leichen der Feinde. Die meisten von ihnen waren körperlich vollkommen unversehrt gestorben, nur ihre Gesichter zeigten einen Ausdruck tiefsten Entsetzens und grauenhafter Angst. Der Todesgeist hatte heute nacht wahrlich eine üppige Mahlzeit gehabt, dachte D’arvan grimmig.

Mit fieberhafter Hast betrachteten der Magusch und Hargorn eine Leiche nach der anderen, krank vor Kummer, aber fest entschlossen, die furchtbare Angelegenheit hinter sich zu bringen. Es vergingen furchtbare und erschöpfende Stunden, bevor sie sich mit dem Wissen trösten konnten, daß ihre Freunde dem Gemetzel entronnen sein mußten, obwohl der alte Veteran heiße Tränen über Dulsina und Emmie vergoß, die Seite an Seite im seichten Wasser lagen.

Für D’arvan war die schlimmste Entdeckung die Leiche Finbarrs, die auf dem Bett in der Kammer lag, in der der Todesgeist sie abgestreift hatte wie einen alten Mantel. Ohne den schauerlichen Gast in seinem Körper, der ihm Atem eingehaucht hatte, hatte der Archivar seine zaghafte Verbindung mit dem Leben eingebüßt. D’arvan saß eine Weile da, hielt die kalte Hand seines alten Freundes und verspürte nichts als Entsetzen angesichts dieser Verschwendung. Wir waren so nahe dran, dachte er. So wenig hatte noch gefehlt, und sie hätten ihn zurückholen können. Er war einer der besten Männer gewesen, die das Volk der Magusch je hervorgebracht hatte. D’arvans Tränen fielen auf Finbarrs kalte, leblose Hand.

Nach einer Weile trat Hargorn ein. Er hatte zahllose Fragen, blieb aber aus Respekt vor D’arvans Trauer laut- los an der Tür stehen. Der Magusch richtete sich auf; seine Miene war hart und unnachgiebig. »Wir werden uns jetzt um die Toten kümmern, dann kannst du die wenigen überlebenden Nachtfahrer zunächst einmal ins Tal bringen«, sagte er. »Es wird nicht das erste Mal sein, daß die Lady Eilin Flüchtlinge aufnimmt. Was mich betrifft – ich werde dafür sorgen, daß dieser elende Sterbliche, der sogenannte ›Lord‹ Pendral, diesen Tag bitter bereut.«

»Also einen Augenblick mal – du kannst nicht einfach …«

Die silberne Flamme des Zorns blitzte in D’arvans Augen auf. »Ich kann nicht, nein?« sagte er grimmig. »Kannst du ehrlich behaupten, Hargorn, daß die Sterblichen in Nexis unter meiner Herrschaft nicht besser dran wären?« Seine Lippen verzogen sich zu einem eiskalten Lächeln. »Nein, ausnahmsweise einmal wird es mir wirklich ein Vergnügen sein, dem Wunsch meines Vaters nachzukommen.«

Der Magusch war nicht der einzige, dessen Pläne eine Heimkehr nach Nexis vorsahen. In eben diesem Augenblick schoß der Todesgeist wie ein schwarzer Komet durch die Sternenlose Nacht, um auf direktem Weg in die Stadt zurückzukehren. Im Laufe der letzten Tage hatte er Finbarrs Gedanken und Gedächtnis nach Möglichkeiten erkundet, den Zeitzauber aufzuheben – und nun, nachdem er sich in solchem Übermaß an dem Leben ungezählter Sterblicher gelabt hatte, war er sicher, über die Macht und die Möglichkeit zu verfügen, seine Brüder endlich zu befreien. Es würde nicht mehr lange dauern, und die Nihilim würden ein weiteres Mal auf eine arglose Welt losgelassen werden.

Als Grince sie an den Schultern schüttelte, tauchte die Magusch aus einem Nebel der Erschöpfung auf. »Hier, Lady – jetzt übernehme ich das Ruder.«

Aurian straffte ihre schmerzenden Schultern und löste ihren Griff von den Riemen. Es war eine Wohltat, nicht mehr weiterrudern zu müssen. Überrascht stellte sie fest, daß ihre Handflächen brannten und sich die ersten Blasen abzeichneten, obwohl das Land noch ein gutes Stück weit weg war: eine dunklere Linie gegen das Schwarz des sternenlosen Nachthimmels. Wir haben es geschafft, dachte sie mit stumpfem Erstaunen. Wir sind tatsächlich davongekommen. Die Magusch hielt die tropfenden Ruder fest, bis Grince sich neben sie auf die Bank gesetzt hatte und sie ihr abnahm. Dann ließ sie sich müde gegen den hölzernen Rumpf des Bootes sinken.

»Mutter? Ist alles in Ordnung mit dir?« Die Gedankenstimme war zaghaft und furchtsam. Aurian spürte eine kalte Nase an ihrem Arm. Sie öffnete die Augen und sah auf Wolf herab. Er schaute sie an, wandte dann aber hastig den Kopf ab. »Du warst sehr tapfer«, sagte er mit gepreßter Stimme. »Ich dachte, ich wäre dir egal – aber das stimmt nicht, oder?« Plötzlich fiel ein unglaubliches Gewicht von Aurians Herzen. »Ja, du hast dich geirrt«, antwortete sie leise, »aber ich war so lange fort, daß es mich nicht wundert, daß du so gedacht hast. Ich hätte dasselbe gedacht.« Sie legte die Arme um Wolfs zotteligen Hals. »Armer Wolf. Du hast bisher nicht viel von mir als Mutter gehabt, nicht wahr? Wenn das hier vorüber ist, hoffe ich, alles wiedergutzumachen.«

»Glaubst – glaubst du, daß du diesen Fluch von mir nehmen kannst?«

Obwohl er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wieviel ihm das bedeutete, konnte Aurian die Verzweiflung hinter seinen Worten spüren. Trotzdem würde sie ihn nicht mit einer Lüge abspeisen – das wenigstens schuldete sie ihm. »Ich weiß es nicht mit Bestimmtheit«, antwortete sie. »Aber glaub mir, wir werden alles versuchen.«

Der Wolf seufzte und legte den Kopf an ihre Schulter.

»Bist du verletzt?« fragte Aurian ihn ängstlich.

»Nein – nur ein paar Prellungen, das ist alles. Der größte Teil des Blutes stammt von dem Mann, der Valand verletzt hat.« Aurian hörte grimmige Befriedigung in Wolfs Stimme und drückte ihn fest an sich. »Das ist mein Sohn«, sagte sie stolz.

Die Magusch saß reglos neben Wolf, bis der Junge im Bug einschlief. Dann nahm sie alle Kräfte zusammen, um sich für ihren nächsten Kampf zu wappnen: Chiamh lag noch immer eingehüllt in die blaue Matrix des Zeitzaubers da, und Aurian fürchtete sich vor dem, was sie entdecken würde, wenn sie den Zauber entfernte. In ihrem Herzen spürte sie, daß niemand so furchtbare Wunden heilen konnte.

Sie spürte die harte Silhouette der Harfe der Winde an ihrem Rücken und wünschte, das Artefakt besäße heilende Magie. Wenn nur der Erdenstab seine Macht wiederhätte, dachte sie und strich über das Holz, das leblos an ihrem Gürtel hing. Mit ihm hätte ich zumindest eine Chance gehabt, etwas zu tun! Aber vielleicht war dies ja die Strafe dafür, daß sie den Stab mißbraucht hatte, dachte sie. Wenn ja, dann trug ihr die übereilte Ermordung der Soldaten unter der Akademie eine weit schlimmere Strafe ein, als sie es sich in ihren kühnsten Träumen hätte vorstellen können.

Ihre Qual mußte auf ihrem Gesicht deutlich geworden sein, denn Grince streckte die Hand aus und berührte sanft ihren Arm. »Wird er sterben?« fragte er leise.

Aurian nickte und schluckte schwer, um ihre Stimme wiederzufinden. »Ja. Ich glaube, das wird er.«

Das blutbespritzte Gesicht des Windauges, das unter dem flackernden, blauen Zeitzauber bereits Leichenblässe angenommen hatte, verschwamm im Nebel ihrer Tränen. Aurian erinnerte sich an ihre erste Begegnung, in diesem schmutzigen Zimmer im Turm Incondors, in dem sie vor so langer Zeit gefangen gewesen war. Chiamh war der einzige gewesen, der Wolf als wirklichen Menschen hatte sehen können – und er hatte sie in eben jener Nacht den ganzen Weg bis nach Aerillia mit sich auf dem Wind reiten lassen. Aurian dachte an jenen Tag in der Xandimfeste, als das Windauge ihr sein einsames Heim am Ort der Winde gezeigt und ihr genug Vertrauen entgegenbrachte, um für sie seine Pferdegestalt anzunehmen und sie auf seinem Rücken zurückreiten zu lassen. Sie erinnerte sich daran, wie sie ihm mit einem magischen Schild das Leben gerettet hatte, als die Xandim gegen Parric als Herdenführer rebellierten und ihr Windauge beinahe gesteinigt hätten …

Nun – sie sollte es besser gleich hinter sich bringen. Mehr als ihr Bestes konnte sie ohnehin nicht geben. O ihr Götter, betete sie, schenkt mir die Kraft, ihm zu helfen. Laßt Chiamh nicht für meine Fehler leiden. Dann holte Aurian tief Luft, nahm ihre Zauberkräfte zusammen – und entfernte den Zauber.

Chiamh schoß wie eine Schlange hoch und warf die Magusch gegen das Heck des heftig schaukelnden Bootes. »Nicht! Tu nichts! Mir geht es gut! Mir geht es gut!«

Aurian starrte ihn an. Die furchtbaren Wunden waren verschwunden. Die Blutflecke und die klaffenden Schnitte waren einfach nicht mehr zu sehen, und weder die tödliche Blässe noch die Blutspritzer verunstalteten sein Gesicht. Nach mehreren Sekunden klappte die Magusch endlich den Mund zu. Aber ihre Sprache hatte sie immer noch nicht wiedergefunden. Plötzlich wurde ihr schwach vor Erleichterung, und zu ihrem Entsetzen spürte sie, wie sich eine einzelne Träne aus ihren Augen löste und über ihr Gesicht rann; sie mußte sich heftig auf die Lippen beißen, um zu verhindern, daß der ersten Träne weitere folgten.

»O Göttin, was habe ich getan?« murmelte Chiamh. Er ließ ihre Arme los und wandte den Blick von ihr ab. »Aurian, es tut mir leid«, sagte er kläglich. »Ich wollte dich nicht so furchtbar erschrecken. Es war alles eine Illusion, das einzige, was mir einfiel, um mich zu retten – ganz zu schweigen von Schiannath und Iscalda. Warum sollte sich irgend jemand die Mühe machen, mich zu töten, wenn er mich ohnehin schon für tot hielt?«

»Du bist und bleibst ein unverbesserlicher Bastard«, sagte Aurian, die jede einzelne Silbe betonte. »Wie hast du das nur gemacht?«

»Nun – du erinnerst dich doch sicher, wie ich damals in der Feste den Mob mit der Illusion eines Dämons aufgehalten habe – nur daß sie das Trugbild entlarvten und mich fast umgebracht hätten?«

Aurian nickte. »Genau daran dachte ich. Damals habe ich dich übrigens auch für tot gehalten«, fügte sie schneidend hinzu.

Chiamh errötete. »Nun«, fuhr er hastig fort, »heute nacht hätte ich um ein Haar denselben Fehler gemacht – aber dann habe ich mich rechtzeitig an damals erinnert, außerdem wußte ich, daß ich die Soldaten irgendwie von Schiannath und Iscalda ablenken mußte. Einige Sekunden lang war ich, da wo der Korridor eine Biegung macht, für niemanden zu sehen, also bin ich in einen Eingang geschlüpft und habe eine zweite Illusion heraufbeschworen.« Er grinste sie an. »Diesmal war es ein Trugbild von mir. Anschließend habe ich die Dämonenvision zerfallen lassen, und die Soldaten haben sich auf mich gestürzt, um mich zu töten – nur daß ich es eben nicht war.«

Er runzelte die Stirn. »Ich habe an der Tür gestanden und zugesehen – es hat mir einen ziemlichen Schock versetzt zu beobachten, wie man mich auf so furchtbare Art und Weise tötete …«

»Für mich war es auch nicht gerade ein Spaß«, brummte Aurian.

»Das schwierigste«, fuhr Chiamh fort, als hätte sie überhaupt nichts gesagt, »das schwierigste war, die Wunden vorzutäuschen, als die Schwerter in den Körper eindrangen, und die Luft zu verdichten, damit die Klingen auf einen gewissen Widerstand trafen. Ich glaube nicht, daß es ausreichte, um realistisch zu sein, aber die Soldaten waren in diesem Augenblick so erregt und so blutgierig, daß sie nichts gemerkt haben.« Er zuckte die Achseln. »Nachdem sie fort waren, wurde mir klar, daß ich keine Chance hatte, mich zum Strand hinunterzukämpfen. Ich blickte auf mein Trugbild herab, und es sah so realistisch tot aus – und in diesem Augenblick dachte ich, wer würde sich schon die Mühe machen, einen Mann zweimal zu töten? Also habe ich das Trugbild aufgelöst und seinen Platz eingenommen, natürlich erst nachdem ich die Illusion der Wunden um mich herum geschaffen hatte. Als du vorbeikamst, hatte ich dann keine Gelegenheit mehr, dich zu warnen, bevor du mich aus der Zeit genommen hast … Aurian, es tut mir wirklich leid. Es muß ein furchtbarer Anblick gewesen sein.«

Die Magusch schüttelte verwundert den Kopf. Die eisige Ruhe des tiefen Schocks, der mit seinen Worten geschmolzen war, entlud sich schließlich in einer Woge des Zorns. »Du elender Mistkerl, weißt du, was ich deinetwegen durchgemacht habe?« Sie hob die Hand, um ihn zu schlagen, fand sich aber statt dessen in seinen Armen wieder. »Chiamh, ich könnte dich umbringen – wenn ich nicht so verdammt froh wäre, dich lebendig vor mir zu sehen.«

Er legte ebenfalls die Arme um sie – zaghaft zuerst, dann mit zunehmender Festigkeit. Aurian lehnte den Kopf an seine Schulter und schloß die Augen, getröstet von einer Woge der Erleichterung und einem Glück, das ihr absolut unvernünftig erschien, wenn sie an das Grauen dachte, das sie in dieser Nacht mitangesehen hatte. Aber sie war trotzdem glücklich. Und binnen weniger Sekunden waren die Magusch und das Windauge, einer in den Armen des anderen, fest eingeschlafen.

Grince, der immer noch heldenhaft, wenn auch mit weniger Geschicklichkeit als Energie, die Ruder bediente, blickte stirnrunzelnd auf seine schlafenden Passagiere hinab. »Oh, vielen Dank, Grince, daß du die ganze verdammte Nacht unser verwünschtes Boot gerudert hast«, murmelte er verdrossen. »Wir wissen das wirklich zu schätzen.«

Nun, sie waren nicht die einzigen, die todmüde waren. Mit einem Achselzucken zog er die Ruder wieder an Bord und versuchte, sie irgendwo unterzubringen, wo die Wassertropfen sie am wenigsten stören würden. Dann kletterte er über die Bank und rollte sich neben Frost und Wolf, die im Bug schliefen, zusammen. Das Wetter schien ihnen keine Schwierigkeiten zu machen, und das Boot konnte gewiß ein oder zwei Stunden für sich selbst sorgen … Das war Grinces letzter benommener Gedanke, bevor auch er einschlief.

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