26 Der Berg des Blinden Gottes

Zwei Tage später näherte sich die Nachtfalke mit ihrer Schar kleinerer Boote im Schlepptau der Küste der Xandim. Als die dunklen Umrisse am Horizont auftauchten, erhob sich gedämpfter Jubel. Die achtunddreißig überlebenden Nachtfahrer waren froh, daß zumindest ihre furchtbare Reise ein Ende genommen hatte. Die letzten Tage waren für keinen von ihnen angenehm gewesen. Obwohl man nach Yanis’ Seemannsbegräbnis den Frachtraum geschrubbt hatte und die Flüchtlinge dort Zuflucht vor den Elementen fanden, war der Raum unter Deck doch nicht als menschliche Behausung geschaffen. Die Unterkünfte waren kalt, feucht, eng und lärmend; das Essen war rar gewesen und das Wasser streng rationiert. Aurians heilende Kräfte waren wieder und wieder gefordert gewesen, und nur ihr war zu verdanken, daß sie nicht noch mehr Menschenleben verloren hatten.

Verglichen mit den grauenvollen Erlebnissen, die sie hinter sich hatten, war der Gedanke an die südlichen Länder für die Nachtfahrer kaum noch erschreckend. Nach Yanis’ erster Reise zu den südlichen Siedlungen vor etwa zehn Jahren – damals hatte er Aurian und ihre Gefährten dort aufgelesen – hatten die Xandim und die Schmuggler eine erfolgreiche Handelspartnerschaft aufgebaut, die im Laufe der Zeit zu Freundschaft geworden war. Tarnal wußte, daß seine Leute, auch wenn sie als Bittsteller kamen, dem Pferdevolk wertvolle Fähigkeiten und Kenntnisse anzubieten hatten; vor allem verstanden sie sich darauf, die schnellen und stabilen Nachtfahrerschiffe zu bauen, an denen die Xandim überaus interessiert waren.

Für Aurian und ihre Freunde sahen die Dinge jedoch ganz anders aus. Sie hatten vor ungefähr zehn Jahren über hundert Xandim dazu verlockt, ihr Heim zu verlassen, und schließlich in einem fremden Land in die Sklaverei geführt. Das Willkommen, das ihnen diesmal bevorstand, mochte um ein Gutteil wärmer sein, als ihnen lieb war. Die Magusch und ihre Gefährten hatten die Angelegenheit mit Zanna und Tarnal besprochen und beschlossen, sich unter Deck zu verstecken, wenn das Schiff anlegte. Nach Einbruch der Dunkelheit wollten sie sich schließlich davonstehlen, und Aurian sollte mit Hilfe der Alten Magie von D’arvans Talisman den Xandim die Kraft des Fliegens schenken.

Zu Aurians Überraschung hatte Vannor darauf bestanden, ebenfalls mitzukommen. Sie hatte erwartet, daß er bei seiner Tochter und seinem Enkelsohn würde bleiben wollen, aber er hatte ihnen beharrlich beteuert, daß er den Magusch von größerem Nutzen sein konnte; außerdem wollte er den qualvollen Erinnerungen an Dulsina entfliehen. Nachdem Aurian die Sache mit Forral besprochen hatte, war sie einverstanden gewesen. Sicherheitshalber würde niemand außer den Anführern der Nachtfahrer von diesem Plan erfahren, und der Rest der Wyvernesser hatte bezüglich der Anwesenheit weiterer Passagiere Geheimhaltung geschworen.

Chiamh hatte vorgeschlagen, daß sie sich zu seinem alten Zuhause auf den oberen Hängen des Windschleiers durchschlagen sollten. Dort würden sie ziemlich sicher sein, denn in das Tal des Todes mit seinen uralten Gräbern wagten sich die Xandim nicht. Das Windauge wollte sich vor allem mit Basileus beraten, dem Moldan des Windschleiers, der ihnen besser als jeder andere ein deutliches Bild von den Ereignissen hier in den Südlichen Königreichen zu geben vermochte.

Als das Schiff in den Hafen einfuhr, reckte Aurian den Hals, um aus dem Bullauge der kleinen Kabine spähen zu können. Die Siedlung der Xandim hatte sich seit ihrem letzten Aufenthalt dort verändert. Die niedrigen Steinhäuser hatten sich über den Rand der kleinen Bucht hinaus ausgebreitet und wirkten jetzt dauerhafter als früher; ferner hatte man den Meeresarm ausgehoben, um einen Hafen zu bauen. Zu beiden Seiten der Bucht ragten lange steinerne Landungsstege weit hinaus ins Meer, um dem Hafen zusätzlichen Schutz zu geben. Einige Pferdeleute bevölkerten die Kais, und auch wenn sie ihren unangemeldeten Besuchern einigermaßen verwirrt entgegen sahen, winkten sie den Schiffen doch freundlich zu.

Als die Nachtfalke festgemacht wurde, trat Izmir, das Oberhaupt der Siedlung, vor, und Tarnal sprang an Land, um sich mehrere Minuten mit leiser, aber drängender Stimme mit ihm zu unterhalten. Aurian sah, wie die Miene des Xandims sich wandelte – aus willkommen heißendem Lächeln wurden Entsetzen und Kummer. Wahrscheinlich erzählte der neue Anführer der Schmuggler ihm gerade von Yanis’ Tod. Als er den mitleiderregenden Zustand der Flüchtlinge sah, hieß der Anführer der Xandim sie ohne Verzögerung oder Zeremoniell in dem großen Gemeinschaftshaus der Siedlung willkommen. Dankbar ließen sich die Nachtfahrer von Mitgliedern der Xandim-Gemeinschaft den Weg weisen.

Chiamh schaute durch das Bullauge und murmelte etwas, das verdächtig nach einem Fluch klang. »Sieh dir das nur an«, sagte er. »Mich haben die Xandim niemals in meinem ganzen Leben willkommen geheißen – und ich glaube nicht, daß sie ausgerechnet jetzt damit anfangen werden.«

Zanna war die letzte, die das Schiff verließ – beinahe. Aurian und Forral, Linnet und die drei Xandim nahmen traurig Abschied, und die Magusch übermittelte ihnen den Dank Wolfs und der Katzen. Dann bemerkte sie, daß Grince sich in der Ecke der Kabine im Schatten herumdrückte. »Ich gehe mit euch«, sagte der Dieb entschlossen. Aurian funkelte ihn wütend an. »Ich dachte, das Thema hätten wir bereits besprochen.«

»Aber du wirst mich brauchen«, beharrte Grince. »Im Namen aller Götter! Warum sollte ich dich brauchen?« fuhr Aurian ihn verärgert an. Zu ihrer Überraschung fiel Grinces Unverfrorenheit sofort in sich zusammen. »Lady, bitte. In meinem ganzen Leben hat mich niemals jemand gebraucht – außer Krieger. Ich gehöre nicht zu diesen Leuten hier – nicht, daß ich dir nicht sehr dankbar wäre«, fügte er mit einem nervösen Blick in Zannas Richtung hinzu. »Lady Aurian, du hast mich damals in Nexis gerettet. Ich stehe in deiner Schuld. Gib mir die Chance, dir deine Freundlichkeit zu danken. Ich war der beste Dieb in der Stadt – meine Fähigkeiten werden mir hier nichts nutzen, sie werden mich lediglich in Schwierigkeiten bringen. Aber für dich könnten sie noch einmal nützlich sein.«

»Nimm ihn mit«, sagte Chiamh plötzlich. »Ich weiß nicht genau, warum, aber ich habe ein merkwürdiges Gefühl …« Er schauderte. »Aurian, laß ihn mit uns kommen. Du wirst es nicht bedauern.« Aurian blickte den Xandim-Seher fragend an und hob dann resigniert die Hände. »Na gut, Grince. Du kannst mitkommen – aber diesen Hund wirst du nicht mitnehmen können, fürchte ich. Es wäre einfach unpraktisch.«

»Das ist schon in Ordnung«, sagte Zanna. »Martek wird sich um Frost kümmern, bis Grince zurückkommt.«

Dann trat sie vor, um sie alle nacheinander zu umarmen. »Bitte«, sagte sie, »paßt gut auf euch auf, ihr alle – und kommt zu uns zurück, wenn dies hier vorüber ist.«

»Das werden wir«, sagte Aurian. Aber obwohl niemand den Gedanken laut auszusprechen wagte, wußte Aurian doch, daß sie alle dasselbe dachten – daß dies möglicherweise ihre letzte Begegnung war.

An diesem Abend gaben Izmir und sein Ältestenrat ein ausschweifendes Fest für die Nachtfahrer, und zum ersten Mal seit Tagen gönnte Zanna sich ein wenig Entspannung – bis der Anführer der Xandim selbst unerwartet das Gespräch auf die Magusch brachte. Er hatte Tarnal gefragt, ob die Nachtfahrer jemals irgendwelchen Kontakt mit den Phaerie gehabt hätten.

Tarnal schüttelte den Kopf. »Nein – den Göttern sei Dank –, vor denen konnten wir uns wenigstens verstecken. Für sie sind Sterbliche nicht mehr als Tiere.«

»Dann werdet ihr die Position der Xandim begreifen«, sagte Izmir grimmig. »Wie wir den Tag bedauern, an dem Angehörige unseres Volkes sich von verderbten Verrätern ihrer eigenen Rasse übers Meer locken ließen. Es waren natürlich nicht nur Leute unserer eigenen Rasse, sondern auch einige Magusch aus dem Norden beteiligt; die Magusch haben diese ganze traurige Angelegenheit überhaupt erst in Gang gebracht.« Er sah die Anführer der Nachtfahrer scharf an. »Und sie sind wirklich nie zurückgekehrt?«

Die Frage hatte Zanna nicht erwartet. Sie atmete scharf ein – und verschluckte sich an einem Bissen Fleisch. Augenblicklich brachen alle, die um sie herum saßen, in hektische Tätigkeit aus; jemand schlug ihr auf den Rücken, ein anderer gab ihr einen Becher Wasser und ein Dritter ein Tuch, mit dem sie sich ihre tränenden Augen abtupfen konnte. Als sie sich erholt hatte, war Tarnal Herr der Situation. »Es klingt doch sehr unwahrscheinlich, daß jemand sich erst in der Zeit verirrt und dann zurückkehrt«, meinte er glatt.

»Aber sie waren doch eure Freunde?« hakte Izmir nach.

»Ja«, sagte Zanna streitlustig. »Aber was spielt das für eine Rolle?«

Der Anführer der Xandim runzelte die Stirn. »Für mich keine, aber traurigerweise muß ich euch bitten, eure früheren Freunde zu vergessen – vor allem, wenn ihr euch mit irgend jemandem außerhalb dieser Gemeinschaft unterhaltet.« Er beugte sich mit ernster Miene vor. »Was uns betrifft, liegen die Dinge anders – wir haben schon seit vielen Jahren erfolgreich mit den Nachtfahrern gehandelt, und zwischen unseren Gemeinschaften hat sich ehrliche Freundschaft entwickelt.« Er sah erst Zanna an, dann Tarnal. »Eure Leute werden bei uns bleiben und ein Teil unserer Siedlung werden. Ihr verfügt über Fähigkeiten wie die des Schiffsbaus, die uns von großem Nutzen sein können.«

»Willst du damit sagen, daß wir in Schwierigkeiten geraten könnten, wenn allgemein bekannt würde, daß wir mit Aurian und den anderen befreundet waren?« wollte Tarnal wissen. »Warum?«

»Bitte – verurteilt mich nicht zu hart, und beraubt eure Leute nicht wegen dieser beklagenswerten Angelegenheit des sicheren Hafens, den sie so dringend benötigen. Auf eure Freunde wartet hier die Todesstrafe, falls sie jemals in den Süden zurückkehren sollten. Seit vielen Jahren sind überall in den Xandimländern Wächter postiert, die Ausschau nach euren Kameraden halten. Ich habe bezüglich der Magusch und der anderen strikteste Anweisungen, genau wie jeder Anführer in den Siedlungen entlang der Küste. Trifft man sie im Land der Xandim an, werden sie zunächst zur Festung gebracht und dann zum Berg des Blinden Gottes geführt.« Er seufzte.

»Was dann geschieht, kann ich nicht mit Gewißheit sagen – die Entscheidung darüber bleibt dem Willen oder der Laune des Gottes überlassen. Ich fürchte jedoch, daß man sie opfern wird.«

Ein einsamer Xandimhirte, der auf den weiten, windgeplagten Ebenen an seinem Feuer lagerte, blickte auf und sah eine Schar dunkler Punkte über das Gesicht des Mondes streichen; sie flogen sehr hoch und sehr schnell. Er runzelte die Stirn. Was im Namen der Göttin war das? Die Leute sahen nicht wie Geflügelte aus, und die flogen des Nachts ohnehin nicht. Aber wer waren sie dann?

Aurian hatte ihre frühere Angst vergessen und kostete den Ritt voll aus. Zu der Erleichterung über ihre unbemerkte Flucht aus der Siedlung der Xandim kam die prickelnde Erregung, im frostigen Mondlicht durch die Luft zu jagen, und die Nacht wob ihren eigenen funkelnden Zauber, mit der die Alte Magie des Amuletts um ihren Hals noch verstärkt wurde. Die Magusch duckte sich tief über Chiamhs Hals, um ihr glühendes Gesicht vor dem eisigen Wind zu schützen. Die Hände hatte sie in der Wärme der im Wind flatternden schwarzen Mähne des Windauges vergraben. Mit der Andersicht, die sich ihr eröffnete, wann immer sie den Talisman trug, konnte sie das Land unter sich sehen: gewaltige, zerklüftete Tafeln in schillernden Topas- und Bernsteintönen lagen übereinandergeschichtet da; die vereinzelten Baumgruppen, die hie und da das Grasland sprenkelten, waren wie Kristallzapfen an einem frostüberhauchten Fenster. Die Winde waren wirbelnde Sturzbäche aus Silber, und die großen Flüsse, die sich durch die Ebenen schlängelten, glichen gewundenen Schlangen, die ein nebelhaft trübes Leuchten verströmten.

Grince ritt hinter der Magusch und umklammerte ihre Taille mit so festem Griff, daß es beinahe weh tat. Außerdem hielt er ein wachsames Auge auf den Bussard, der sich an Aurians Schulter klammerte und in einer Falte ihres Umhangs Schutz vor dem Wind suchte. Aus den Augenwinkeln konnte Aurian Schiannath und Iscalda neben sich herjagen sehen; ihre Lebenskraft war durch die Macht des Talismans und den Willen der Magusch mit den Pfaden des Windes verbunden. Forral ritt den großen, grauen Schiannath, der wie eine Sturmwolke war, die der wilde Wind vor sich her trieb. Vannor ritt Iscalda, die im Mondlicht wie eine Perle schimmerte. Zwischen den beiden Xandim hing wie ein Fadenspiel ein riesiges Netz – eines der Frachtnetze vom Schiff der Nachtfahrer. Shia, Khanu und Wolf, allesamt unglückliche Passagiere, baumelten in dem Netz hin und her. Aurian hatte Mitleid mit ihnen; sie wußte aus eigener Erfahrung, daß dies nicht gerade die angenehmste Art des Reisens war. Bevor sie ihr Ziel erreichten, mußten die drei vollkommen durchgefroren sein, und jeder einzelne Knochen in ihrem Leib würde ihnen weh tun. Wieviel besser hatte es da Linnet, die an der anderen Seite der Magusch flog und mühelos mit dem von den Xandim vorgegebenen Tempo Schritt hielt.

Aurian war dankbar für die Schnelligkeit, mit der sie voran kamen. Auch wenn die Xandim zusätzliche Lasten trugen, konnte die Magusch spüren, daß die Alte Magie ihnen auch die notwendige Kraft schenkte. Bisher hatte die Aufrechterhaltung des Flugzaubers Aurian nicht weiter ermüdet. Wenn sie in diesem Tempo weiterritten, konnten sie in drei Tagen Chiamhs Kammer der Winde erreichen. Und dann? Die Magusch wünschte, sie hätte eine Antwort auf diese Frage. Als sie in den Brunnen der Seelen geblickt hatte, hatte sie Eliseth in Aerilla gesehen – aber welche Garantie gab es, daß die Wettermagusch immer noch dort war?

Als sie kurz vor Sonnenuntergang die Drachenstadt erreicht hatte, war Eliseth ziemlich entsetzt über das Ausmaß der Zerstörung dort gewesen. Anvars Erinnerungen an das Erdbeben waren zwangsläufig von Panik und der Notwendigkeit einer schnellen Flucht verzerrt gewesen. Als das Beben endlich aufgehört hatte, war er bereits unter der Erde und außer Gefahr gewesen. Daher hatte er die Stadt nie in dem Zustand gesehen, in dem sie sich nun Eliseth darbot.

Die geflügelten Träger der Magusch hatten sie auf dem höchsten Turm abgesetzt – genau an der Stelle, von der aus Anvar und Aurian Dhiammara das erste Mal betrachtet hatten. Unter ihnen war der große smaragdfarbene Turm im Herzen der Stadt in der Mitte aufgebrochen, so daß nur zwei geborstene Bolzen übrig waren. Der Boden des Tales war ein einziges Netzwerk tiefer Kluften und Risse, die ebenfalls den Eindruck von Zerstörung und Verfall vermittelten. Als Eliseth jedoch genauer hinsah, stellte sie fest, daß ein Großteil der niedrigen Gebäude, deren jedes aus einem einzigen Edelstein herausgehauen war, die Katastrophe mehr oder weniger unversehrt überstanden hatten. Sie drehte sich zu Sonnenfeder um, der mit angewidertem Gesichtsausdruck neben ihr stand. »Das muß genügen«, sagte sie barsch und forderte ihn mit einem frostigen Blick zum Widerspruch heraus.

Er zuckte jedoch lediglich die Achseln und brachte sie – mit voller Absicht, wie sie sehr wohl wußte – mit dem Ausbleiben jeglicher Reaktion in Rage. »Jawohl, Lady. Ich werde die Männer hinunterschicken, damit sie herausfinden, welche Gebäude sicher sind. Außerdem müssen sie einen passenden Ort ausfindig machen, wo wir die Nacht verbringen können.«

Bei Einbruch der Nacht war die Wettermagusch, wenn auch nicht bequem, so doch zumindest einigermaßen anständig in einem der einfacheren Gebäude untergebracht. Bern, der immer noch das gut eingewickelte Schwert der Flammen für sie trug, hatte das Artefakt hier in ihr Quartier gebracht, bevor er sich in einem der Nachbargebäude ebenfalls zu Bett legte. Ihr Unvermögen, das Schwert zu beherrschen, war bisher Eliseths einziger Rückschlag gewesen – davon abgesehen hatte sie allen Grund, mit sich zufrieden zu sein. Ihre Pläne entwickelten sich bestens. Der stets aufmerksame Sonnenfeder hatte ihr mitgeteilt, daß die Khazalim in der morgigen Nacht ankommen würden, bei Dunkelheit, wenn man die Wüste gefahrlos durchqueren konnte. Morgen nacht würden also die ersten Sklaven von der Siedlung im Wald ankommen. Eliseth streckte die Hände aus, um sie über dem flackernden Feuer zu wärmen, und räkelte sich mit schläfriger Zufriedenheit. Aber bevor sie es sich in den dicken Decken und den luxuriösen Pelzen, die Sonnenfeder ihr gebracht hatte, bequem machen würde, mußte sie noch Kontakt zu Vannors Geist aufnehmen, um festzustellen, welche Fortschritte Aurian gemacht hatte.

Eliseth füllte den Gral mit Wasser aus der Lederflasche neben ihr und beschwor Vannors Bild herauf. Dann ließ sie sich in seinen Geist sinken wie ein Stein, der in einen klaren See fiel. Ihre Konzentration geriet kurz ins Wanken, als sie plötzlich bemerkte, daß sie mit einer gewaltigen Geschwindigkeit durch die Luft flog, und mit einem Übelkeit erregenden Schlingern fand sie sich einen Augenblick später in ihrem eigenen Körper wieder, fluchend riß sie sich zusammen, atmete dann tief durch und saß ganz still da, bis der Schwindel vorübergegangen war. Dann versuchte sie es mit aller Vorsicht noch einmal.

Bei allen Dämonen! Was war da nur los? Das letzte Mal, als sie in seinen Geist eingedrungen war, hatte Vannor sich an Bord eines Schiffs befunden, und seine Gedanken waren ein so verworrenes Durcheinander aus Zorn, Furcht und Kummer gewesen, daß sie sich keinen Reim darauf hatte machen können. Nun jedoch war er ruhiger, und als sie die jüngsten Erinnerungen ihres Opfers ausforschte, fand sie erstaunliche Dinge vor.

Mit einem Aufblitzen von Ärger entdeckte Eliseth, daß sie zu spät kam, um ihre Rache an Zanna zu nehmen – das verflixte Frauenzimmer war in der Siedlung der Xandim an der Küste zurückgeblieben. Zannas Schicksal war jedoch nur eine unbedeutende Einzelheit und schnell vergessen, als die Magusch zu ihrem Entsetzen herausfand, daß Aurian über den Zauber verfügte, der die Xandim fliegen ließ. Eliseth mußte gegen ein kaltes, flaues Gefühl des Unbehagens ankämpfen. Das änderte alles. Sie hatte sich sicher gewähnt und geglaubt, alle Zeit der Welt zu haben, bevor Aurian auch nur in die Nähe der Juwelenwüste kam. Jetzt würde sie ihre Pläne in aller Eile vorantreiben müssen – und sie wußte nur allzugut, daß solche Hast leicht zu Fehlern führen mochte, die sie teuer zu stehen kommen konnten, wenn sie nicht allergrößte Vorsicht walten ließ.

Zum ersten Mal fragte sich Eliseth, ob es klug gewesen war, auf eine Eroberung der Pferdeleute zu verzichten; ein potentieller Feind in ihrem Rücken. Dann zuckte sie die Achseln. Wie töricht, sich von Panik übermannen zu lassen. Schließlich hatte sie seit dem Überfall auf die Waldsiedlung Geiseln in ihrer Hand, die der Magusch viel bedeuteten. Sie nahm sich vor, sofort nach der Ankunft der Sklaven in Erfahrung zu bringen, wer Eliizar und Nereni waren.

»Na schön – soll Aurian nur kommen«, murmelte Eliseth gehässig. »Ich werde bereit sein.«

Da sie grundsätzlich nur des Nachts reisten, konnten Chiamh und seine Gefährten ihre Reise unbemerkt zu Ende bringen. Bei Morgendämmerung suchten sie sofort in einer der spärlichen Baumgruppen Zuflucht, die sich überall in dem ansonsten kahlen Flachland fanden. Tagsüber hielten sie dann abwechselnd und mit einem beklommenen Gefühl der Furcht Wache, während die anderen sich ausruhten. Es war eine anstrengende, kalte und hungrige Reise gewesen. Die Xandim waren insgesamt besser dran als die Menschen, die Katzen und Wolf, denn sie konnten zumindest grasen, aber für die anderen hatte Zanna nur sehr wenige Vorräte abzweigen können.

Genau wie Aurian es sich erhofft hatte, kamen sie in der Nacht des dritten Tages direkt vor Sonnenaufgang auf den oberen Hängen des Windschleiers an. Obwohl sie fast sicher waren, daß man sie von der Festung aus nicht erspäht hatte, hielt Chiamh es für das Klügste, sie alle schnellstens vom Himmel herunter und in ein sicheres Versteck zu bringen, bevor die Sonne aufging. Daher suchte er sofort nach einem Strom funkelnder Luft, der steil zu Boden führte, und einen Augenblick später schossen Pferde und Reiter wie Falken im Angesicht ihrer Beute in das Tal des Todes herab, von wo aus die Kammer der Winde in den Himmel ragte.

Obwohl Chiamh sich vor langer Zeit eingeredet hatte, daß er und die Xandim endgültig fertig miteinander waren, erstaunte es ihn, wie tief ihn dieser erste, wenn auch noch verschwommene Blick auf sein früheres Heim berührte. Als seine Hufe leichtfüßig auf dem kurzgeschnittenen, weichen Rasen vor dem hohen Felsturm aufsetzten, konnte er es kaum erwarten, daß Aurian und Grince endlich abstiegen, damit er wieder seine Menschengestalt annehmen konnte. Ohne auf die anderen zu warten, rannte er in die Höhle am Fuß des Turms.

In ihrem Innern fand er die Zerstörung einer zehnjährigen Vernachlässigung vor. Seine Decken und Pelze waren vom Moder zerfressen, seine spärlichen Besitztümer verstreut und von wilden Tieren angenagt, die den Boden wie zum Beweis ihrer Inbesitznahme des Turms mit ungezählten Kothaufen verziert hatten. Plötzlich war Chiamh dankbar, daß Parric ihm während ihres gemeinsamen Aufenthalts in den Höhlen der Nachtfahrer einige neue Rüche beigebracht hatte.

»Windauge! Solche Ausdrücke habe ich ja noch nie gehört! Weißt du nicht, daß alle wilden Geschöpfe die kleinen Kinder der Göttin sind?«

»Dann sollte Iriana ihnen bessere Manieren beibringen …«, begann Chiamh – bis er plötzlich die Stimme erkannte. »Basileus!«

»In der Tat – wen hast du denn erwartet? Sei mir gegrüßt, kleines Windauge. Ich war noch nie in all den endlosen Äonen meiner Existenz so froh, ein lebendiges Wesen zu sehen. Aber wo bist du gewesen? Warum warst du so lange fort?« Abrupt wich alle Freude aus der Stimme des Moldan. »Es gibt viel, was du wissen solltest, mein Freund. In diesen letzten fahren haben sich hier Dinge von große Bedeutung zugetragen …«

Nicht schon wieder, dachte Chiamh. In letzter Zeit schien das Leben aus nichts als bösen Nachrichten und schwerwiegenden Ereignissen zu bestehen. In diesem Augenblick wurde ihm bewußt, daß er einen gewaltigen Hunger verspürte, daß er fror und schmutzig war – und so müde, als wäre er tausend Jahre alt.

»Dann ruh dich erst mal aus«, sagte der Moldan freundlich. »Ich vergesse immer wieder, wie zerbrechlich ihr Leute aus Fleisch und Blut seid. Meine Neuigkeiten haben jetzt fast zehn Jahre gewartet – sie werden es wohl noch ein wenig länger aushalten.«

Gerade in diesem Augenblick trat Aurian ein und quittierte den Anblick, der sich ihr bot, mit einem leisen, beklommenen Pfiff. »Sieben verfluchte Dämonen!«

»Sei mir gegrüßt, Zauberin.«

»Oh – ich grüße dich, Basileus.« Die Magusch neigte respektvoll den Kopf, obwohl es sinnlos war, in irgendeine bestimmte Richtung zu blicken – schließlich war der Moldan der ganze Berg. »Es tut gut, wieder hier zu sein. Wir haben dir viel zu erzählen.«

»Und ich euch. Aber richtet euch erst einmal hier ein. Ich kann warten.«

Shia betrat die Höhle und schnupperte. »Eichhörnchen«, sagte sie entschieden und zog die Nase kraus. »Ratten und ein ganzes Rudel von Füchsen.«

Chiamh sah sich grimmig in dem von Zerstörung gezeichneten Raum um. »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«

»Aber ich.« Aurian spähte aus dem Höhleneingang. »Grince?« zwitscherte sie honigsüß. »Erinnerst du dich daran, daß du dich nützlich machen wolltest? Nun, wie kommst mit einem Besen zurecht?«

»Khanu und ich werden auf die Jagd gehen«, erbot sich Shia. »Vielleicht gibt es auf den Hängen von Stahlklaue immer noch ein paar wilde Ziegen …«

»WARTET!« rief Basileus hastig. »Ihr dürft keinen Fuß auf Stahlklaue setzen – er ist wieder zu einem Ort des Bösen geworden! In den Wäldern unten in diesem Tal gibt es Kaninchen und Hirsche – dort könnt ihr euch jagen, was ihr braucht.«

Shia, die im Lauf der Reise zunehmend reizbar und launisch geworden war, blickte nun mit störrischem Trotz in den Augen auf. »Aber es gibt doch ohnehin schon Katzen auf dem Stahlklaueberg«, wandte sie ein. »Was es auch ist, es wird uns also nichts tun …«

»Nein«, sagte der Moldan energisch. »Es gibt keine Katzen auf dem Stahlklaueberg. Nicht mehr.«

Shia und Khanu brachten vor Schrecken keinen Laut hervor.

»Aber was ist aus ihnen geworden?« fragte Aurian. »War es eine Krankheit? Sind sie angegriffen worden? Sind alle tot? Und wenn nicht, wo sind sie dann hingegangen?«

»Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist«, erwiderte Basileus, dessen Stimme belegt war und von ehrlichem Bedauern kündete, »aber ich weiß, warum es geschehen ist. Das gehört auch zu den Dingen, die ich euch erzählen muß, wenn ihr euch ausgeruht habt. Dann wird noch Zeit genug sein – aber bis dahin haltet euch von Stahlklaue fern – ihr alle. Und seht zu, daß ihr auch die anderen warnt, die nicht sprechen können, wie wir sprechen.«

»Mein Volk …«, murmelte Shia. »Alle fort.« Mit hängendem Kopf verließ sie die Höhle; Khanu ging dicht hinter ihr her. Die Magusch wollte den beiden Katzen folgen, aber Khanu versperrte ihr den Weg. »Warte ein wenig, Aurian. Später wird sie dich brauchen. Im Augenblick braucht sie wohl eher eine andere Katze. Wir werden einander beistehen.« Er folgte Shia hinaus ins Freie.

Chiamh seufzte. »Hm, wir sollten besser gleich damit anfangen, den Turm wieder bewohnbar zu machen.«

Unter den Besitztümern des Windauges fand Forral einen alten Kochtopf aus Kupfer und einen Eimer mit nicht allzu großen Löchern darin, und Aurian entzündete ein Feuer, um Wasser zu erwärmen. In der Nähe des Teichs standen einige Kiefern, die ihnen dünne Zweige und einen kräftigen Ast lieferten, um daraus einen Besen zu machen. Vannor und Chiamh ordneten die Besitztümer des Windauges und warfen weg, was nicht mehr zu retten war. Obwohl alle mit anfaßten, stand die Sonne bereits hoch am Himmel, als sie den Turm einigermaßen in Ordnung gebracht hatten. Danach badeten sie abwechselnd in dem brodelnden Teich unter dem Wasserfall und trockneten ihre zitternden Leiber an den wenigen Decken ab, die sie noch besaßen.

Bei Sonnenuntergang waren die Gefährten sauber, besaßen ein Dach überm Kopf und hatten gegessen, denn Shia und Khanu waren mit dem Kadaver eines Hirschs zurückgekehrt. Als sich die Dunkelheit übers Land legte, zogen sie sich in die Höhle zurück, und Basileus sprach zu ihnen; Aurian und Chiamh übersetzten für die anderen, was er sagte.

»Es muß fast zehn fahre her sein, als mir zum ersten Mal klar wurde, daß der Stahlklaueberg wieder bewohnt war. Es lag ein neues Gefühl der Anspannung im Gestein – ein zaghaftes Tasten und Suchen drüben in dem Gebirgskamm, den wir den Drachenschwanz nennen. Mir schwante sogleich Böses. ›Wer ist da‹, fragte ich – obwohl ich sehr gut wußte, daß es nur eine Antwort geben konnte. Ghabal. Er war noch genauso verrückt wie damals – er sprach in Rätseln und Mysterien, sagte, daß er aus seinem Gefängnis befreit worden sei, als die letzten der Magusch die Welt verlassen hätten – und doch sei es ein Magusch gewesen, der ihn nach Hause gebracht hatte.

Ghabals Anwesenheit erfüllte mich augenblicklich mit Unbehagen – ein so wahnsinniges, verzerrtes Geschöpf wie er gibt immer einen gefährlichen Nachbarn ab, und seine Kraft schien so groß wie nie zuvor zu sein, was die Gefahr noch verschlimmerte. Eines der ersten Ergebnisse seiner Rückkehr war das Verschwinden der Katzen. Bis auf den heutigen Tag habe ich keine Ahnung, was aus ihnen geworden ist. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Ghabal sie alle getötet hat – es hat nicht mehr Aasfresser in der Nähe des Berges gegeben als gewöhnlich, und das wäre doch gewiß der Fäll gewesen, wenn so viele Leichen dort herumgelegen hätten. Ich glaube, daß die Katzen die Rückkehr des Moldans spürten und aus eigenem Antrieb fortgingen – aber wohin sie gegangen sind, wer kann das sagen? Trotzdem sollten Shia und Khanu nicht verzweifeln. Es ist durchaus möglich, daß ihr Volk an einem anderen Ort lebt, glücklich und zufrieden.«

Basileus hielt einen Augenblick inne, als müsse er seine Gedanken ordnen, bevor er fortfuhr. »Außerdem hat mich der Magusch beunruhigt, der die Hänge Stahlklaues durchstreifte – und meine, wann immer es ihm gefiel. Ich konnte sofort spüren, daß er genauso verrückt war wie der Moldan.«

Eine kalte Angst hatte sich wie ein Stein in Aurians Magen gesenkt. Sie konnte nicht länger Stillschweigen bewahren. »Ein Magusch, sagst du?« unterbrach sie den Moldan. »Ein alter Mann mit Edelsteinen als Augen?«

»In der Tat, es ist, wie du sagst. Ich dachte mir schon, daß du ihn kennen würdest. Er hat keine Augen, nur leuchtende Juwelen, und das ist der Grund, warum die Xandim ihn den Blinden Gott nennen, obwohl er trotzdem irgendwie noch sehen kann …«

»Den Bünden Gott?« schnaubte Aurian. »Nun, ich sehe, daß seine Arroganz im Lauf der Jahre nicht geringer geworden ist – und nicht einmal das, was Eliseth ihm angetan hat, scheint ihn geändert zu haben. Ich hatte gehofft, sie hätte ihn ein für allemal erledigt …«

»Nein, das stimmt nicht.« Forral sah sie wissend an. »Ich kenne dich besser, Aurian. Du wolltest ihn selbst erledigen.«

»Na und?« sagte die Magusch herausfordernd.

»Ja, ja«, erwiderte Forral grinsend. »Du weißt, daß ich ihn auch gern erledigen würde. Du mußt zugeben, mein Liebes – ich habe einen verdammt guten Grund dafür.«

»Also, was hat es mit diesem Kult um den Blinden Gott auf sich, Basileus?« unterbrach Chiamh die beiden.

»Bei Vollmond und bei Mondfinsternis wird einer der Xandim – für gewöhnlich ein Verbrecher oder jemand, der sich das Mißfallen des Rudelfürsten und des Ältestenrates zugezogen hat, hinauf zum Feld der Steine gebracht und geopfert. Die Xandim glauben, sich auf diese Weise die Gunst und den Schutz des Blinden Gottes zu verdienen – ganz zu schweigen davon, daß sie auf diese Weise vor seinem Zorn verschont bleiben. Mir scheint jedoch eher, daß der Ältestenrat und der Rudelfürst dieses brutale Spiel mitmachen, um sich jener zu entledigen, denen sie grollen. Der Gott dagegen gewinnt …«

»Bezeichne ihn nicht als Gott«, sagte Aurian mit gepreßter Stimme. »Sein Name ist Miathan, und ich weiß, was er gewinnt. Das Ungeheuer saugt die Lebenskraft seiner Opfer auf, um seine magischen Kräfte zu vergrößern.«

»Nun, das wird er nicht mehr lange tun«, sagte Forral grimmig.

Die Magusch nickte. »Eine solche Chance werden wir nie wieder bekommen. Es wird Zeit, daß wir unsere offene Rechnung mit dem Erzmagusch begleichen.«

Forral wurde von einer kalten Nase geweckt, die sein Ohr erkundete. Er sprang auf, griff nach seinem Schwert – und stellte fest, daß sein Angreifer nur Wolf war. Der Schwertkämpfer setzte sich wieder und holte tief Luft, um sein jagendes Herz zu beruhigen. »He, Wolf«, sagte er vorsichtig in Gedankenrede. »Was ist los?«

Der Wolf heulte leise und streckte die Vorderbeine aus, bevor er die Nase auf die Pfoten legte und die Ohren aufstellte. »Bist du wirklich mein Vater?« fragte er.

Die Frage, die einfach aus dem Nichts kam, traf Forral vollkommen unerwartet. »Ja«, sagte er mit fester Stimme. »Ja, das bin ich.«

Der Wolf winselte leise. »Das verstehe ich nicht. Großmama Eilin sagte, du hättest braunes Haar und einen Bart. Sie sagte, du wärest tot. Das haben alle gesagt – außer Shia, und die will nicht mit mir darüber reden.«

»Hat deine Mutter dir das alles nicht erklärt?« fragte Forral einigermaßen überrascht. »Ich hätte doch gedacht …«

»Nun, es war im Grunde genommen meine Schuld. Zuerst wollte ich nicht mit ihr reden, weil ich dachte, sie hätte mich nicht haben wollen – als ich dann aufs Schiff kam, war einfach nicht genug Zeit für so etwas. Sie hatte, ehrlich gesagt, nie Gelegenheit, mir etwas zu erklären.«

»Na gut«, sagte er zu seinem Sohn. »Dann werde ich es dir erklären. So ist alles passiert …«

Es dauerte einige Zeit, bis die ganze Geschichte erzählt war. Wolf hatte tausend Fragen, und Forral mußte tief in seinem Gedächtnis graben und bis in Aurians Kindheit zurückgehen, um seine Beziehung zu der Magusch zu verdeutlichen. Als Wolf herausfand, daß der Erzmagusch, der ihn mit einem Fluch belegt hatte, eben derselbe Miathan war, der seinen Vater tötete, begann er leise zu knurren. »Eines Tages«, sagte er, »werde ich ihn töten.«

Das wird nicht nötig sein, mein Sohn, dachte Forral – denn ich habe die Absicht, den Bastard selbst zu töten.

Die Magusch erwachte mitten in der Nacht, weil Chiamh sanft an ihrer Schulter rüttelte. »Was?« murmelte sie mit verschlafenem Ärger. »Was ist los?«

Das Windauge hob einen Finger an die Lippen, um ihr Schweigen zu gebieten. »Folge mir«, flüsterte er.

Die Magusch seufzte, knöpfte ihren Umhang zu und schnallte ihr Schwert an den Gürtel.

»Sieh zu, daß du den Stab dabei hast«, flüsterte Chiamh. Achselzuckend ließ Aurian ihn wie gewöhnlich durch ihren Gürtel gleiten und hängte sich obendrein noch die Harfe über, bevor sie sich ihren Umhang fester um die Schultern zog und ihre Stiefel überstreifte. Dann stahl sie sich leise, um die anderen nicht zu wecken, aus der Höhle, folgte dem Windauge und fragte sich, was im Namen aller Dämonen nun wieder geschehen war.

Als sie die Höhle verlassen hatten, liefen sie Shia über den Weg, die am Eingang Wache stand. »Was habt ihr zwei denn jetzt wieder vor?« fragte sie.

»Wir wollen nur rauf in meine Kammer der Winde«, erwiderte Chiamh.

»Was?« zischte Aurian laut. »O nein, das wollen wir auf gar keinen Fall!«

Sie wollte gerade in die Höhle zurückkehren, als Chiamh sie am Arm festhielt. »Wirklich, diese Sache ist wichtig«, beharrte er. »Komm mit nach draußen, wo wir reden können.«

Die Magusch ging mit ihm bis zum Teich, dessen Wasserfall wie eine Woge bleichen Rauches schien und dessen unruhige Oberfläche unter dem zarten Gewebe des Mondlichts schimmerte. Hier blieb Aurian stehen und fuhr, die Hände in die Hüften gestemmt, zu dem Windauge herum. »Also?«

»Hör zu«, sagte Chiamh drängend, »ich weiß nicht viel über diesen Miathan, aber eins weiß ich gewiß – du solltest nicht versuchen, ihn ohne den Erdenstab aufzuspüren. Ich habe Basileus von den Schwierigkeiten erzählt, die du mit dem Stab hattest – und er glaubt, wir können das wieder in Ordnung bringen.«

Einen Augenblick lang glaubte Aurian, ihn nicht richtig verstanden zu haben. Dann gewann ihr Zorn die Oberhand. »Du hast mit Basileus gesprochen?« sagte sie mit trügerisch ruhiger Stimme. »Du hast meine Privatangelegenheiten – meine persönliche Schmach – mit diesem Moldan beredet?«

»Verflucht, was hätte ich denn tun sollen?« gab das Windauge zornig zurück. »Er wußte es, Aurian. Er hat mich danach gefragt. Er ist ein Erdelementarwesen – er konnte sofort spüren, daß mit dem Stab etwas nicht stimmte.«

»Nun, wenn er es wußte, warum hat er nicht mich danach gefragt?«

»Weil er erst herausfinden wollte, ob er dir helfen könnte, bevor er mit dir sprach«, erklärte Chiamh ihr geduldig. »Er wollte dir nicht umsonst Hoffnung machen.«

»Mir Hoffnung machen?« wütete Aurian. »Ich bin doch kein Kind mehr!«

»Dann hör auf, dich wie eins zu benehmen, verdammt«, brüllte Chiamh sie an. »Hörst du nicht, was ich sage? Basileus kann dir helfen. Oder möchtest du diese eine unbezahlbare Chance, den Stab zu retten, deinem verfluchten sturen, steifnackigen Maguschstolz opfern?«

Die Magusch schloß abrupt den Mund. Sie hatte noch nie zuvor erlebt, daß das Windauge die Beherrschung verlor. Der Schock kühlte ihren Zorn augenblicklich ab, als hätte Chiamh einen Kübel Eiswasser über ihr ausgegossen statt heißer Worte. »Es tut mir leid, Chiamh«, sagte sie. »Ich benehme mich wie eine Närrin. Es ist nur so …« Ihre Stimme brach, und sie räusperte sich. »Ich schäme mich so sehr für das, was ich getan habe.«

Das Windauge griff nach ihren Händen. »Wenn der Stab seine Macht zurückgewinnt, wirst du dann endlich glauben, daß du dir vergeben kannst?«

Der Anflug eines Lächelns stahl sich in die Züge der Magusch. »Weißt du was? Ich glaube, das wäre durchaus möglich.«

»Gut. In diesem Fall sollten wir uns gleich an die Arbeit machen.« Chiamh zeigte auf die Zinnen des Turms. »Deine erste Aufgabe besteht darin, zur Kammer der Winde hinaufzuklettern.«

Aurian machte ein entsetztes Gesicht. »Müssen wir das wirklich tun? Wir könnten doch bestimmt hinauf fliegen – das wäre viel ungefährlicher.«

»Nein«, entgegnete das Windauge entschlossen. »Das war es nicht, was Basileus gesagt hat. Er sagte, wenn du dein Vergehen wiedergutmachen willst, müßtest du dich dieser Herausforderung stellen und deine eigene Furcht bezwingen. Und vielleicht hast du bemerkt, daß ich nicht ›wir‹ sagte. Es tut mir leid, Aurian. Ich fürchte, das ist etwas, das du allein tun mußt.«

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