11 Die Stadt der fliegenden Pferde

Aus der Luft schien es kaum mehr zu sein als ein Hügel. D’arvan, der mit dem Gesicht nach unten quer über dem Widerrist des Pferdes hing, drehte den Kopf zur Seite und wischte sich die tränenden Augen an der Schulter, um besser sehen zu können. Man hatte ihm die Hände auf dem Rücken gefesselt, und zwar mit einer Substanz, die sich wie biegsames Metall anfühlte. Auf diese Weise konnte er sich kaum rühren, und die Phaerierosse bewegten sich so schnell durch die dünne, kalte Luft, daß dem Magusch sein langes, flachsblondes Haar immer wieder in die Augen gepeitscht wurde. Seine Augen tränten während des ganzen wilden Ritts, der die Nacht hindurch bis zum Morgen dauerte. D’arvan blinzelte abermals und versuchte, auf die zerklüftete, von Bäumen bedeckte Anhöhe hinunterzuspähen. Diese Felsspitze mitten im Nichts konnte doch unmöglich ihr Bestimmungsort sein?

Anscheinend doch. Eins nach dem anderen lösten die Rosse der Phaerie sich aus ihrer Phalanx und ließen sich auf den steilen, bewaldeten Gipfel zutreiben. Als der Krieger, der D’arvan gefangengenommen hatte, seinen Abstieg begann, wurde dem Magusch eine Sekunde lang schwarz vor Augen, und eine unangenehme Übelkeit bemächtigte sich seiner. Dann nahm die Szenerie unter ihm mit einem jähen, schwindelerregenden Ruck in dem klaren, kalten Nordlicht wieder ihre wahre Gestalt an. Der Hügel war bei weitem größer, als D’arvan gedacht hatte – und jeder einzelne dieser Bäume, die zwar durch Phaeriemagie die äußerliche Erscheinung eines Waldriesen hatten, war ein in den Himmel ragender Turm.

Der Waldfürst und seine Untertanen hatten eindeutig ihr Bestes gegeben, um diese Stadt zu einer echten Nachbildung ihrer magischen Zitadelle Zwischen den Welten zu machen. Sie hatten ihre Zauberkraft benutzt, um die Natur zu verwandeln und sich ein schönes, zweckmäßiges – und lebendiges – Heim geschaffen, das sich über die Turmbäume bis hoch in die Luft erstreckte. D’arvan vermutete, daß es sich auch unterhalb des Hügels unterirdisch fortsetzte, denn er konnte in den Felsvorsprüngen und den steilen Steinwänden zahlreiche Balkons und Fenster erkennen. Auf den Waldlichtungen blühten Gärten mit Lauben, Bächen und Springbrunnen, und Wasserfälle ergossen sich wie Wogen aus reiner, weißer Spitze die Berghänge hinunter.

Hinter dem Hügel erstreckte sich eine gewaltige Gebirgskette bis zum Horizont. Als der Magusch den Schnee auf ihren Gipfeln sah und die blau beschatteten Wände eisbedeckter Schluchten, war er entsetzt darüber, wie weit nach Norden man ihn gebracht hatte. In der Nähe seines Bestimmungsortes wurden die Gipfel niedriger und auch ein wenig freundlicher. Die nächstgelegenen Berge streckten der Phaeriestadt lange Arme entgegen und umschlangen ihre Anhöhe mit einem gewellten, breiten, grünen Tal, das von dem noch dunkleren Grün des Waldes umfaßt wurde. Während das Phaerieroß seinen schwungvollen Abstieg zu dem Hügel hinunter fortsetzte, konnte D’arvan einen Blick auf das Tal werfen, das von einem langen, schimmernden Wasserlauf durchzogen wurde. An seinen Ufern lag bebautes Bauernland, und auf den Feldern grasten Rinder- und Schafherden.

Dieses herrliche neue Königreich, das Hellorin der einsamen nördlichen Wildnis abgerungen hatte, nötigte D’arvan unwillkürlich Ehrfurcht ab. Während die Phaerie aus der Welt verbannt gewesen waren, hatte man leicht vergessen können, wie mächtig, launenhaft und gefährlich der Waldfürst wirklich gewesen war. Jetzt, da er unter sich das ganze Ausmaß der ungeheuerlichen Leistungen seines Vaters sah, schlug D’arvans Herz vor Angst und Erregung ein wenig schneller. Sie waren nicht gerade als Freunde geschieden, doch wenn er ihn so schnell nach seiner Rückkehr durch die Zeit gefunden hatte, bedeutete das, daß Hellorin während all der Jahre seiner Abwesenheit ständig nach ihm Ausschau gehalten haben mußte. Und jetzt, da er ihn gefangengenommen hatte, welches Schicksal hielt der Waldfürst für seinen abtrünnigen Sohn bereit?

Die Phaerierosse landeten auf einem Plateau hoch oben am Osthang des Hügels. D’arvan wurde von dem Pferd heruntergerissen und fand sich sogleich von Hellorins Kriegern umstellt. Er hatte gerade noch Zeit, Maya lautstark fluchen zu hören, bevor er weggerissen wurde. Zahllose Bäume, sanfte, mit Blumen gesprenkelte Wiesen und gepflasterte oder geschotterte Wege, die zwischen den Lichtungen hügelaufwärts führten, fesselten seine Aufmerksamkeit. Neugierige Phaeriegesichter mit großen, tiefliegenden Augen und scharfen Zügen wandten sich ihm zu, während seine unbarmherzigen Wächter ihn hinter sich her zerrten, bis er schließlich durch eine gewaltige Doppeltür geschoben wurde, die in den Hügel hineinführte.

»Nehmt eure verdammten Hände weg, ihr fremdländischen Bastarde!« fauchte Maya. Doch weder ihr Protest noch ihre heftige Abwehr brachten sie irgendwie weiter – ihre Entführer faßten sie lediglich noch härter an. Als ihr klar wurde, daß in dieser Situation Vorsicht wichtiger war als Kampfgeist, ließ Maya sich fallen und davontragen. »Aber sobald ich ein Schwert in die Hände kriege, wird Hellorin ein paar seiner Untertanen einbüßen«, schwor sie sich grimmig.

Ihre Entführer brachten sie in eine andere Richtung als D’arvan; sie trugen sie um den Hügel herum, und es ging ständig abwärts. Obwohl sie unsanft herumgeschubst wurde, bemerkte Maya, daß die Bäume, je weiter sie nach Norden kamen, immer spärlicher wurden. Die Hänge wurden rauher und unwirtlicher hier, mit steifen Farnen und dornigem Ginster, der überall längs der gewundenen Pfade wuchs. Große, mit grünem, dürrem Moos bewachsene Felsbrocken bohrten sich durch die dünne Erde wie Knochen durch die Haut einer von Krähen aufgepickten Leiche.

Auf der Nordseite war das felsige Antlitz des Hügels an seinem Fuß mit Tunneln durchzogen, die allesamt durch ein verriegeltes Eisentor abgesperrt und von jeweils zwei Phaerie bewacht wurden. Die Krieger trugen gewaltige Speere mit langen Klingen, die dasselbe scharfe, kalte, gnadenlose Licht widerzuspiegeln schienen, das auch aus den Augen der Männer leuchtete. Mayas Entführer wechselten ein paar kurze, unverständliche Worte mit den Wachen, dann wurde sie wie ein lebloses Paket einem anderen Phaerietrupp ausgehändigt. Ihre neuen Wächter steuerten eine der dunklen Öffnungen an und trugen Maya in die Finsternis.

Der Tunnel war feucht, und seine erdigen Seiten sowie das Dach wurden von groben Brettern verstärkt. Zwischen ihnen ragten Baumwurzeln – suchenden Fingern gleich – durch die Ritzen. Die feuchten Holzbretter waren von einer Schicht schleimigen Moders überzogen, dessen grünliches Leuchten die einzige Lichtquelle darstellte. Die Luft war geschwängert von den Düften feuchter Erde und fauliger Blätter, und in diesem unterirdischen Labyrinth herrschte die knochentiefe Kühle des Grabs. Die Stimmen der Phaerie, die sich leise in ihrer eigenen, fremdartig zischenden Sprache unterhielten, klangen tonlos und tot, gedämpft von dem alles absorbierenden Lehm, der sie umgab wie ein erstickendes Leichentuch.

Maya war noch immer wie betäubt von der langen Reise durch die dünne, kalte Luft. Ihre Glieder schmerzten in dem schraubstockartigen Griff der Phaeriewachen, und sie fühlte sich, als würden die Wände und das Dach ihr immer näherkommen. Es war, als versuchten ihre Peiniger sie bei lebendigem Leibe zu begraben. Mit aller Macht kämpfte sie gegen die Panik an, die in ihr aufzusteigen drohte. Wahrscheinlich, so dachte sie, überwand sie dieses Gefühl von Angst und Verzweiflung am besten, indem sie die Augen schloß und ihre Umgebung nicht mehr wahrnahm. Auf diese Weise gelang es ihr vielleicht auch, sich einen Ausweg aus dieser unmöglichen Situation auszudenken.

Nach einer Weile veränderte sich das beinahe lautlose Wispern der weichbesohlten Phaerieschuhe auf dem feuchten Erdboden. Es klang jetzt wie das Schlurfen von Leder über Stein, und die fremdartigen Stimmen hatten ein scharfes, hallendes Echo. Außerdem hielten ihre Entführer sie plötzlich anders, so daß ihr Kopf tiefer hing als ihre Füße, und sie noch heftiger durchgerüttelt wurde als zuvor.

Maya riß die Augen auf. Die Wände des Tunnels waren nicht mehr aus Erde, sondern aus einem roh behauenen Gestein, und sie selbst wurde mit dem Kopf zuerst eine ungleichmäßige Steintreppe hinuntergetragen. Das Treppenhaus wurde von Kristallgloben beleuchtet, die ein warmes, tanzendes, grüngoldenes Licht verströmten, wie Sonnenlicht, das man durch Bäume sah. Am Fuß der Treppe befand sich ein hohes Tor mit Gitterstäben aus gewundenem Eisen, die ein Fortkommen unmöglich machten. An diesem Tor standen zwei weitere Phaeriewachen, und eine davon war eine Frau. Wieder wechselten ihre alten Wachen einige unverständliche Worte mit den neuen. Maya wurde indessen auf den Boden heruntergelassen und festgehalten, während die Phaeriefrau sachkundig ihren Körper und ihre Gliedmaßen abtastete – gerade so, als sei sie, Maya, ein Pferd auf dem Markt. Die erzürnte und gedemütigte Kriegerin legte den Kopf in den Nacken, um der Frau ins Gesicht zu spucken – und erstarrte unter dem kalten, mitleidlosen Blick dieser fremdartigen Kreatur, eines Blickes, der ihr Blut in den Adern in Eis verwandelte. Die Phaerie hob warnend die Hand, und Maya schluckte ihren Speichel hastig herunter. Die Frau schlug sie trotzdem – links, rechts, einmal auf beide Seiten ihres Gesichtes –, und Mayas Kopf schien vor Schmerz zu explodieren, da die Berührung der Phaerie eine Spur brennenden Feuers hinterließ, die sich wie Säure in den gequälten Knochen ihres Schädels fraß. Maya schrie immer noch, als sie ihr die Kleider vom Leib rissen und ihr eine zarte Kette aus irgendeinem eiskalten Metall um den Hals legten. Dann öffneten sie die hohen Eisentore und stießen sie hindurch, so daß sie eine kurze Treppe hinunterfiel und nackt, atemlos und mit zerschundenen Gliedern auf dem staubigen Höhlenboden liegenblieb.

»Du Arme – ist alles in Ordnung mit dir?«

Maya, der noch immer die Tränen des Schmerzes in den Augen standen, konnte nicht sehen, wer da sprach, aber zumindest klang die Stimme weiblich, einigermaßen freundlich – und menschlich. »Das ist es natürlich nicht, verdammt noch mal«, murmelte sie undeutlich, denn sie hatte sich zu allem Übel auch noch die Lippe durchgebissen. Trotzdem tastete sie nach der Hand, die ihr hilfreich entgegengestreckt wurde und ergriff sie, um sich auf die Knie hochzuziehen. Nachdem sie Staub und Blut ausgespien und sich mit den Fingerknöcheln die salzige Feuchtigkeit aus den Augen gerieben hatte, erblickte sie eine große, knochige Frau von etwa vierzig Jahren. Die Frau, die sich über sie beugte, war bis auf ein dünnes, goldenes Halskettchen unbekleidet.

Maya strich sich zaghaft über die Wange, die noch immer unter den langsam verebbenden Nachwirkungen der schmerzhaften Kälte pochte. Dann blinzelte sie zu der Frau auf. »Wer, in Chathaks Namen, bist du denn?«

Der Gesichtsausdruck der Frau, der vorher nur Besorgnis gezeigt hatte, verriet nun einen winzigen Hauch von Ärger. »Mein Name ist Licia«, erwiderte sie. Dann zog sie die dargebotene Hand zurück und strich sich mit einer schroffen, leicht verlegenen Geste über ihr mit silbernen Strähnen durchzogenes braunes Haar, das sie zu einem strengen Knoten gebunden hatte. »Die Spitzenklöpplerin aus Nexis«, fügte sie hinzu, als erkläre das alles.

Maya rieb sich noch einmal den schmerzenden Kopf. Irgendwie mußte sie die ganze Situation wohl mißverstanden haben. Sie blickte an der Frau vorbei und stellte fest, daß sie sich in einer riesigen Höhle befand, die von den gleichen goldenen Globen beleuchtet wurde, die auch das Dach und die Wände übersähten. Von dem ebenerdigen Bereich am Fuß der Treppe, wo sie kniete, neigte sich der Boden hügelabwärts, und unter sich konnte die Kriegerin eine Ansammlung kleiner, steinerner Hütten erkennen, die um einen schimmernden, dunklen Weiher herum erbaut waren. Was, im Namen aller Götter, hat es mit diesem unheimlichen Ort auf sich?

Verwirrt wandte sie sich wieder an Licia. »Nun, wenn du aus Nexis bist, was tust du dann hier?« wollte sie wissen.

»Meine Güte, wo hast du denn die letzten paar Jahre gelebt?« Die Frau klang schockiert. »Wie ist das möglich, daß du nicht weißt, was vor sich geht?«

Die Luft in der Höhle war trocken und angenehm warm, aber Maya erbebte trotzdem und wünschte sich verzweifelt ein Kleidungsstück, mit dem sie ihre Nacktheit hätte bedecken können. In diesem Zustand fühlte sie sich unangenehm verletzlich, und deshalb fiel es ihr schwer, den Worten der Frau ihre ganze Aufmerksamkeit zu schenken. Der Schlag der Phaeriefrau schien ihr Denkvermögen weit ärger beeinträchtigt zu haben, als es der Schlag eines menschlichen Wesens vermocht hätte. Und tief in ihrem Herzen wuchs ein kleines, kaltes Körnchen der Furcht heran, das sich ausdehnte wie eine keimende Saat.

Sie starrte die Frau zornig an. »Das ist doch eine blöde Frage, oder? Ich habe offensichtlich nicht die leiseste Ahnung, was hier los ist …« Dann wurde ihr plötzlich klar, daß es ihr absolut nichts eintragen würde, wenn sie diese Frau einschüchterte. Ihrer steinernen Miene nach zu urteilen, schien sie auch nicht viel von Dummköpfen zu halten.

Maya schluckte ihre wütenden Worte herunter. »Ich entschuldige mich«, seufzte sie. »Auch wenn mir jeder Knochen im Körper weh tut und ich verwirrt und zu Tode erschrocken bin, ist das noch lange kein Grund, es an dir auszulassen.« Sie hielt der Frau die Hand hin. »Mein Name ist Maya, und ich bin Kriegerin. Und du hast recht – ich war mehrere Jahre nicht in Nexis.«

Licias starre Miene wurde weicher. »Du armes Ding – natürlich hast du Angst, und es ist kein Wunder, daß du verwirrt bist. Diese Entführungen waren für keinen von uns leicht – zuerst ist es immer ein schrecklicher Schock. Du kommst am besten mit mir in meine Hütte, dann gebe ich dir etwas Warmes zu trinken.« Mit diesen Worten half sie der jungen Kriegerin mit überraschend starkem Griff auf die Beine.

»Und bitte – könntest du mir etwas zum Anziehen borgen?« fragte Maya sie hoffnungsvoll. »Irgendein alter Lumpen würde mir genügen …«

»Ich fürchte, das kann ich nicht.« Licia schüttelte bedauernd den Kopf. »Wenn die Arbeitstrupps nach draußen gehen, erlauben die Phaerie ihnen, etwas anzuziehen, aber bei ihrer Rückkehr werden ihnen die Sachen immer wieder weggenommen. In den Höhlen halten sie uns nackt. Wie Tiere.« Sie stieß die Worte hervor, als bereiteten sie ihr einen üblen Geschmack im Mund. »Das alles trägt dazu bei, unsere Hoffnung und unseren Kampfgeist zu untergraben – uns zu zähmen, wie die Phaerie es ausdrücken.«

Vor Entsetzen blieb Maya wie angewurzelt stehen. Plötzlich begriff sie. »Du meinst, die Phaerie benutzen Menschen als Sklaven?« Sie erinnerte sich an Hellorin, D’arvans Vater und seine trockene, halb amüsierte Freundlichkeit ihr gegenüber. Wußte er, daß sie hier war? Hatte er es angeordnet? Er würde doch der Geliebten seines eigenen Sohnes nicht so etwas antun? Dann erinnerte sie sich an die langen Monate, in denen er sie dazu verdammt hatte, die Existenz jenes zweifach verfluchten Einhorns zu führen, das sich nicht einmal mit dem Mann, den sie liebte, hatte verständigen können – und plötzlich war sie sich da nicht mehr so sicher. Bei Lichte betrachtet war sie nicht mehr als ein verachtetes menschliches Wesen, und Hellorin war zu allem fähig – zu absolut allem. Wenn er ihr das antun konnte, was würde er dann mit D’arvan, seinem abtrünnigen Sohn, machen? Ein Schauder der Angst durchlief sie.

Licia zog an ihrem Arm und drängte sie zwischen den Reihen notdürftiger Behausungen hindurch. Es war keine Menschenseele zu sehen. »Natürlich benutzen sie uns als Sklaven – diese Bastarde.« Maya war einigermaßen verblüfft, ein solches Schimpfwort aus dem Munde einer Frau zuhören, die so altjüngferlich und steif wirkte. »Was hast du erwartet – daß sie uns hierher gebracht haben, weil ihnen an unserer Gesellschaft gelegen ist?« fragte die Spitzenklöpplerin und runzelte die Stirn. »Obwohl sie die Gesellschaft einiger Menschen durchaus zu schätzen wissen«, fügte sie verbittert hinzu. »So manches junges Mädchen hat sich hier rausgekauft, indem sie sich mit dem Feind verbündet und den Phaerie Nachkommen geboren hat – aus irgendeinem Grund scheint sich das unsterbliche Blut immer durchzusetzen.« Sie seufzte. »An manchen Tagen, wenn ich meine Seele hier unten im Dunklen für etwas frische Luft und ein bißchen Sonnenlicht verkaufen würde, kann ich ihnen kaum einen Vorwurf daraus machen. Aber manchmal würde ich ihnen am liebsten ein Messer in ihre verräterischen Herzen bohren. Nun ja, vielleicht bin ich auch nur eifersüchtig, weil man mich noch nie gefragt hat, da ich alt und unfruchtbar bin.«

»Was tun denn die anderen – die Leute hier unten?« fragte Maya in banger Erwartung.

Licia zuckte die Achseln. »Einige bedienen die Phaerie; sie kochen, putzen, machen Botengänge und ähnliches. Einige Leute arbeiten auch an den Gebäuden oder hauen neue Wohnquartiere aus dem Felsen unter dem Hügel. Andere arbeiten auf den Feldern und in den Scheunen, wo sie sich um die Ernte und um das Vieh kümmern. Schließlich«, fügte sie gehässig hinzu, »wäre es wohl auch eine zu große Zumutung für die wunderbaren und mächtigen Phaerie, selbst zu pflügen oder Kuhmist unterzugraben. Sie würden sich ihre knochigen, weißen Hände niemals schmutzig machen. Wir anderen – die begabten Handwerker«, fügte sie stolz hinzu, »wir fertigen alles, was unsere Herren brauchen, und unser einziger Lohn ist das Essen in unseren Mägen und das Ausbleiben von Schmerzen.«

Die Frau ging trotz ihrer Nacktheit mit großer Würde und mit hocherhobenem Kopf weiter, und Maya mußte sich alle Mühe geben, um mit ihr Schritt zu halten. Ein Soldateninstinkt sagte ihr, daß sie beobachtet wurde, und nach und nach wurde sie sich der verstohlenen Bewegungen in der Düsternis einiger Steinhütten bewußt – hier der bleiche Schatten eines Gesichtes, da eine Hand, die um die Kante einer Tür gelegt wurde, das Aufblitzen eines Auges in einem Fenster, während ein Kopf sich hastig unter das Sims duckte. Allzubald war dieses Gefühl, heimlich beobachtet zu werden, nicht mehr ärgerlich, sondern beängstigend. »Licia …?« fragte sie beklommen, obwohl sie ihre Unruhe im Grunde nicht verraten wollte.

»Keine Bange«, meinte die Spitzenklöpplerin achselzukend. »Sie fürchten sich vor Fremden, das ist alles. Wir haben eine Regel, nach der nur einer von uns herauskommt, um einen Neuankömmling zu begrüßen – für gewöhnlich sind die Neuen entweder zu Tode erschrocken oder gefährlich. Wir wissen aus Erfahrung, daß es am klügsten ist, den neuen Gefangenen ein wenig Zeit zu lassen, damit sie sich einfügen können. Du wirst die anderen später kennenlernen, wenn die Arbeitstrupps von den Feldern zurückkehren. Dann können wir dich allen gleichzeitig vorstellen.«

Bald darauf kamen sie an ein niedriges, tür- und fensterloses Steingebäude, das den anderen Unterkünften aufs Haar glich und ebenfalls am Ufer des Sees gelegen war. Licia führte die Kriegerin hinein, in ein einziges Zimmer, in dem es nichts gab, außer einer dicken Schicht von einem weichen, faserigen Material auf dem Boden. Dennoch war die Hütte makellos sauber und wurde von diesen funkelnden Goldgloben beleuchtet, die hier jedoch ein klares und ruhiges Licht abgaben, statt des gewohnten, verwirrenden Flackerns.

Maya hob neugierig eine Hand, um die Phaerielampen zu berühren, die wie Ansammlungen fremdartiger Früchte von der Decke hingen. Ihre Finger wurden von einer tiefen, anhaltenden Wärme umhüllt wie von sommerlichem Sonnenlicht. »Warum sind diese Globen so anders als die in der Höhle?« wollte sie von Licia wissen.

Die Spitzenklöpplerin schnaubte. »Diese elenden Mistkerle lassen die großen Höhlenlichter die ganze Zeit über so flackern, damit keiner von uns klar denken kann – du wärst überrascht, wie einem das mit der Zeit auf die Nerven geht. Aber hier drin können sie das wegen der Spitze nicht machen. Ich brauche klares, helles, ruhiges Licht für diese feine Arbeit, sonst würde ich erblinden, und – was den Phaerie größere Sorgen macht – die Spitze könnte ruiniert werden.« Ihr Gesicht verzog sich zu einem freudlosen Lächeln. »Ich bin die beste Spitzenklöpplerin in Nexis – oder war es jedenfalls.«

Mit einer kurzen Handbewegung deutete sie auf einen schlichten Holztisch hinten im Raum, auf dem ein dicker Ballen Stoff lag. Daneben erkannte Maya eine Reihe zarter, spindelförmiger Klöppelhölzer und etliche Spulen mit einem schimmernden, regenbogenfarbigen Zwirn, der feiner als Spinnweben zu sein schien. »Meine Arbeit ist bei den Phaerie ungemein gefragt«, erklärte sie Maya ohne eine Spur von Bescheidenheit. »Sogar die Männer – und Fürst Hellorin ist da keine Ausnahme – legen größten Wert auf prunkvolle Gewänder. Auf diese Weise komme ich gelegentlich mal zu einer Vergünstigung. Und zumindest habe ich einen Tisch und einen Stuhl zum Arbeiten. Die meisten Leute müssen auf dem Boden hocken, wie Tiere in einem Stall.«

Sie streckte die Hand aus und holte unterm Tisch einen Hocker mit langen Holzbeinen hervor. »Hier, Mädchen – setz dich. Du siehst ein wenig zittrig aus, aber da wundert mich nicht. Zieh dir den Hocker in die Ecke, damit du dich an der Mauer anlehnen kannst.« Licia griff tief in eine dunkle, aus dem dicken Stein der Mauer herausgehauene Nische und holte eine grobe Steinguttasse hervor. »Hier …« Sie reichte Maya einen Apfel und ein hartes Stück Brot. »Wir werden bis zum Abend nichts mehr zu essen bekommen. Dann kehren die Arbeiter von draußen zurück, aber ich hebe mir meist eine Kleinigkeit für den Notfall auf. Du wirst dich schon besser fühlen, wenn du erst einmal etwas im Magen hast. Ich werde inzwischen etwas Wasser holen. Ruh dich ein wenig aus – ich will dich nicht beleidigen, indem ich dir rate, dir keine Sorgen zu machen, aber schieb sie wenigstens für den Augenblick von dir. Sorgen sind wie Hefepilze – wenn man sie füttert, halten sie sich unbegrenzt. Ich bin im Handumdrehen wieder da.«

Alleingelassen, aber mit einem Gefühl der Dankbarkeit, setzte Maya sich hin; sie fühlte sich zu schwach, zu geschunden und verraten, um sich darum zu scheren, wohin die Spitzenklöpplerin gegangen war – obwohl die Kriegerin den starken Verdacht hatte, daß Licia nur deshalb Wasser holen wollte, um ihren Mitsklaven Bericht zu erstatten. Obwohl ihr Magen vor Hunger schmerzte, ließ Maya das Essen unangerührt auf dem Tisch stehen. Sie wußte, daß sie darüber nachdenken sollte, wie sie D’arvan finden konnte; sie mußte irgendeinen Fluchtplan schmieden, aber sie war müde, so furchtbar müde …

»So – ich habe dir ja gesagt, ich würde nicht lange fort sein.«

»Was?« Maya riß die Augen auf. Dann setzte sie sich hastig auf; um ein Haar wäre sie von dem Hocker heruntergefallen.

Licia hielt den primitiven Becher hoch, und Maya, die in diesem Augenblick ihre Seele verkauft hätte für einen Becher Taillin mit einem Schuß starkem Schnaps darin, nippte und schnitt ein Gesicht. Es war Wasser, schlichtes Wasser, aber salzig von zugesetzten Mineralien und warm, nicht heiß – ungefähr von der Temperatur, die ein behagliches Bad haben mußte. Die Spitzenklöpplerin, die sie beobachtete, hob sarkastisch die Augenbrauen. »Du wirst uns entschuldigen müssen, aber die Weinlieferung scheint noch nicht eingetroffen zu sein.«

»Ist das alles, was sie euch zu trinken geben?« fragte Maya entgeistert.

»Aber wo denkst du hin – du kannst auch kaltes haben, wenn dir das lieber ist.«

»Sieben verfluchte Dämonen! Licia – behandeln die Phaerie euch so grausam?« Bei der Erinnerung an die kaltblütige Beiläufigkeit des Schlages, den sie von der Phaeriefrau bekommen hatte, vermutete Maya, daß sie die Antwort bereits kannte.

»Was glaubst du denn?« In Licias hellblauen Augen glomm bitterer Zorn. »Wir sind in ihren Augen weniger als Insekten. Dabei können wir Handwerker noch froh sein – sie wissen unsere Talente zu schätzen und kümmern sich besser um uns, aber das Leben einfacher Arbeiter hat für sie nicht den geringsten Wert. Wenn sie ein paar Sterbliche verletzen oder töten, na und? Es gibt ja jede Menge davon.«

Maya war entsetzt. Irgendwie hatte sie nicht damit gerechnet, daß das Volk ihres Geliebten zu solcher Grausamkeit fähig wäre! Plötzlich ergab die Beharrlichkeit der Magusch, mit der sie die Phaerie aus der Welt verbannt hatten, wahrhaftig einen Sinn. »Hat denn niemand je versucht zu entfliehen?« wollte sie wissen.

Die Spitzenklöpplerin zuckte die Achseln. »Glaubst du etwa, sie hätten dieses kleine Problem unbeachtet gelassen? Was denkst du, wozu diese Dinger da sind? Zur Dekoration?« Sie betastete das zarte Kettchen um ihren Hals. »Sie behaupten, dieses Metall sei eine Mischung aus echtem Gold und Phaerieblut, und es enthält Teile ihrer Magie. Es mag zwar nicht nach viel aussehen, aber glaub mir, es ist absolut unzerstörbar. Es gibt keine Möglichkeit, es abzunehmen – und es sind schon einige Menschen bei dem Versuch gestorben. Diese Ketten kennzeichnen uns nicht nur als Sklaven, sie halten uns auch hier fest. Die Phaerie haben überall längs der Grenzen ihres Reiches magische Felder aufgebaut, und wenn jemand, der eine solche Kette trägt, versucht, durch diese Felder hindurchzukommen, wird die Kette glühend heiß und brennt dem Betreffenden buchstäblich den Kopf von den Schultern.«

Maya war zu erschüttert, um ein Wort herauszubringen. Unwillkürlich griff sie sich an die Kehle, als wolle sie sich davon überzeugen, daß ihre Peiniger noch nicht dazu gekommen waren, auch ihr solch ein gräßliches Ding um den Hals zu legen. Die Kälte des Metalls schien sich in ihre Finger zu fressen, und ihr Herz zog sich vor Furcht zusammen. »Diese – sie gehen nicht ab?« wisperte sie. »Niemals?«

Licia schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, mein Mädchen. In all den Jahren, seit die Phaerie sterbliche Sklaven halten, wurde nicht eine einzige dieser Ketten jemals entfernt. Wir glauben nicht, daß es überhaupt möglich ist.« Sie runzelte die Stirn. »Selbst die verfluchten Magusch waren besser als diese Kreaturen«, stieß sie wütend hervor. »Unter ihrer Herrschaft konnten wir zumindest hingehen, wohin wir wollten – das heißt, bis sie sich gegenseitig umgebracht und zugelassen haben, daß die Phaerie jetzt Amok laufen.«

Einen Augenblick lang loderte ein schwaches, flackerndes Fünkchen der Hoffnung in Mayas Herzen auf. Ah, dachte sie, aber die Magusch sind nicht alle tot. Sie konnte nur beten, daß D’arvan genug Willenskraft besaß, um seinen arroganten Vater zu der Einsicht zu zwingen, daß Sterbliche nicht als Sklaven mißbraucht werden sollten. »Wir sind mehr als stumpfsinnige Tiere«, flüsterte sie bei sich. »Wir sind nicht auf der Welt, nur um den Phaerie zu dienen.« Sie war jedoch realistisch genug und wußte genau, daß die Frage von gut und böse, richtig und falsch in dieser Welt nur wenig Bedeutung hatte. Abermals griff sie nach der Kette, die sie um den Hals trug. Sklave, sagte die Kette. Niederes und nichtswürdiges Tier. Zu guter Letzt war doch alles eine Frage der Macht. Die Phaerie haben die Macht, die Sterblichen zu versklaven, dachte Maya, und wir können sie nicht aufhalten. Das Schicksal unserer Rasse liegt ausschließlich in ihren Händen, und unsere einzige Hoffnung besteht darin, sie irgendwie dazu zu bringen, uns zu verschonen.

Der hohe Turm bildete die Krone von Hellorins Palast, und als solcher war er auch der einzige Ort in der Phaeriestadt, von dem aus man alle Seiten des Phaerieterritoriums einsehen konnte. D’arvan blickte von dem südlichen Fenster hinunter auf die Stadt, das Symbol des Reichtums und des Luxus der Phaerie, des greifbaren Beweises für ihre Überlegenheit und Macht. Das Nordfenster mit Blick auf das tiefe, grüne Tal zu Füßen des Gebirges zeigte ein ganz anderes Bild: Hellorins Steinbrüche und Minen, die halb verborgen zwischen den dicht bewaldeten Hängen lagen, und sein Ackerland, das sich, gerodet und bestellt, dem Tal entgegenwölbte. Alles in allem ein einziges Symbol menschlicher Sklaverei.

Als D’arvan mit der Weitsichtigkeit, die das Vermächtnis seines Vaters war, durch das Nordfenster blickte, beobachtete er die sterblichen Gefangenen, die sich wie ein Ameisenvolk abmühten, während die Phaerie es sich Wohlsein ließen, in dem nahen Wald jagten oder mit kleinen Schiffen auf dem Fluß segelten. Ein leises Schuldgefühl regte sich in ihm wie eine winzige Schlange, als er daran dachte, daß die Magusch, sein eigenes Volk, vor der Verheerung die Sterblichen auf genau dieselbe Art und Weise versklavt hatten – in dem festen Glauben, dies sei die natürliche Ordnung der Dinge.

Weder die Rasse seiner Mutter noch die seines Vaters war ohne Fehl und Tadel, und D’arvan spürte sengenden Zorn und Scham angesichts solcher Niedertracht. Verflucht sollten sie sein, diese Phaerie! Hellorin hatte ohne einen Hauch von Gewissensbissen die Menschlichkeit der Xandim wie eine Kerze ausgelöscht. Jetzt hatte er sich auf dieselbe herzlose Art und Weise eine andere Rasse unterworfen. Und was hatte er mit Maya gemacht?

D’arvan rüttelte an der versperrten Tür und hämmerte, wie es ihm schien, zum hundertsten Mal mit den Fäusten dagegen. »Antwortet mir, verdammt noch mal – ist überhaupt jemand da draußen? Wie könnt ihr es wagen, mich so einzusperren – wißt ihr denn nicht, wer ich bin? Laßt mich hier raus, ihr Bastarde mit dem Gehirn einer Schnecke! Holt meinen Vater her – sofort!«

Die Pest mochte die verfluchten Phaerie holen! Bei all seinen Flüchen und Beteuerungen war es D’arvan vollkommen klar, daß man ihn auf Hellorins Anweisung hier eingesperrt hatte. Man ließ ihn in diesem luxuriösen Gemach hoch oben im höchsten Turm des Palastes seines Vaters, damit sein Zorn verrauchen konnte, bevor der Waldfürst sich dazu herabließ, sich um ihn zu kümmern. Es war ein Machtspiel, das Hellorin da spielte, um von Anfang an seine Überlegenheit zu demonstrieren. Nun, wenn er die Absicht hatte, D’arvan zu demütigen und ihm das Gefühl der Hilflosigkeit zu geben, dann hatte seine Strategie langsam Erfolg.

»Ich werde es nicht zulassen«, murmelte D’arvan in grimmigem Zorn. »Ich werde mich nicht von ihm unterkriegen lassen!« Er wußte, was Maya getan hätte, so selbstverständlich, als hätte ihre Stimme es ihm ins Ohr geflüstert. Wenn er nicht den Mut verlieren wollte, mußte er sich mit seinem ganzen Zorn gegen die Situation zur Wehr setzen. Er ging in dem mit vielen Fenstern versehenen Raum auf und ab, zerfetzte mit seinen Stiefelabsätzen den moosigen Teppich und fachte seinen Zorn an wie eine rote Flamme, trat Stühle und Tische um, weil ihm ein besseres Ziel für seinen Zorn nicht zu Gebote stand, und verwünschte seinen Vater mit geflüsterten Schimpfworten.

»Sei vorsichtig mit den Möbeln – sie könnten eines Tages dir gehören.«

D’arvan fuhr herum und sah Hellorin in der Tür stehen. Sein Vater grinste ihn bösartig an. »Du!« fuhr er auf und griff den ersten Gegenstand, den er in die Finger bekam.

Der Waldfürst trat geschickt zur Seite, und der Stuhl, der durch die Luft geflogen kam, zerkrachte am Türrahmen.

Das Lächeln, mit dem der Waldfürst seinen lang vermißten Sohn willkommen geheißen hatte, erstarrte, als er den Ausdruck maßlosen Zorns in D’arvans Zügen sah.

»Du widerwärtiges Ungeheuer! Hast du denn gar kein Gewissen?« stieß D’arvan hervor. »Das sind Menschen da draußen – deine Arbeiter, deine Lasttiere! Menschen, die eine Zukunft hatten, Familien, Träume und Pläne. Und was ist mit den Xandim? Die armen Geschöpfe – du hast nicht einmal davor zurückgeschreckt, ihnen auf ewig ihre Menschlichkeit zu rauben! Wie kannst du damit leben?« In D’arvans Augen stand ein kalter, unversöhnlicher Ausdruck, der den Phaeriefürsten irgendwie an diese verwünschte Maguschfrau erinnerte, an jene Begegnung, bei der sie das letzte Mal die Schwerter gekreuzt hatten. Wage es nicht, mir in die Quere zu kommen, besagte dieser Blick.

Hellorin schluckte die freundliche Begrüßung, die ihm auf der Zunge gelegen hatte, herunter und dachte hastig nach. Seine Entfremdung von Eilin hatte ihn gelehrt, mit den Magusch bei weitem vorsichtiger und bedächtiger umzugehen, als es seinem Temperament entsprach – und D’arvan war immerhin zur Hälfte auch ein Magusch. Er wollte D’arvan auf keinen Fall verlieren, wie er Eilin verloren hatte – aber Maguschblut hin oder her, der Junge war der Erbe des Phaeriereiches und mußte notfalls mit Gewalt dazu gebracht werden, seine Verantwortung gegenüber seinem Volk zu erkennen und auf sich zu nehmen. Nichtsdestoweniger war Hellorin entschlossen, es zunächst auf versöhnliche Art und Weise zu versuchen. Nur wenn D’arvan sich als zu halsstarrig erweisen sollte, würde er andere Mittel anwenden. »Willst du dir nicht wenigstens anhören, was ich zu sagen habe, bevor du anfängst, mit Möbeln um dich zu werfen?« erkundigte er sich mit sanfter, angenehmer Stimme.

Die Miene des jungen Magusch wurde noch düsterer. »Gib mir Maya zurück – dann werde ich dir vielleicht zuhören.«

Der Waldfürst schüttelte den Kopf. »Noch nicht, mein Sohn. Zuerst werden wir reden, und dann, wenn der Ausgang unseres Gesprächs in meinem Sinne ist, werde ich dir deine kleine Sterbliche zurückgeben.«

»Und wenn das Gespräch nicht nach deinem Sinn verläuft?« erkundigte sich D’arvan sanft. Seine Lippen hatten sich zu einer dünnen, scharfen Linie verzogen. »Nein, das reicht mir nicht. Ich will sie hier haben, bei mir. Ich will sicher sein können, daß sie außer Gefahr ist, an einem Ort, wo du sie mit deinen verfluchten Tricks nicht mehr erreichen kannst. Solange du mir nicht Maya herbringst, werde ich kein Wort mehr mit dir wechseln.« Er kehrte seinem Vater entschlossen den Rücken zu und starrte aus dem Nordfenster, wo er weit unter sich im Tal die sterblichen Sklaven schuften sehen konnte.

Einen Fluch auf diesen unverschämten Welpen und seinen unbeugsamen Maguschstolz! Hellorins Zorn näherte sich dem Siedepunkt. Er ballte die Fäuste und atmete tief ein, um seine Wut im Zaum zu halten. »Du willst also nicht reden. Schön. Nur hast du leider keine andere Wahl, als mir zuzuhören. D’arvan, für diese Feindseligkeiten zwischen uns gibt es doch keinen Grund. Du bist mein Sohn, und wegen der Liebe, die mich mit deiner Mutter verband, bist du ebenfalls mein Erbe. Dein wahres Heim ist hier bei uns, deinem Volk. Du könntest hier große Macht haben und beträchtliches Ansehen bei den Phaerie genießen. Alle würden sich dir beugen. Willst du zulassen, daß eine Handvoll Sterblicher sich zwischen dich und deinen eigenen Vater stellt? Sterbliche! Stumpfsinnige, kurzlebige Kreaturen ohne Magie – sie sind kaum mehr als Tiere. Sie wurden hierhergebracht, um uns zu dienen. Es ist ihr Schicksal, ihr Daseinsgrund.«

Während Hellorin dies sprach, hatte D’arvan nicht einen Muskel geregt. Jetzt drehte er sich ganz langsam um, und in seinen Augen lag ein Ausdruck, der das Blut des Waldfürsten erstarren ließ. »Und angenommen, ich sage, daß du ein widerwärtiger, entarteter Despot bist, und daß ich nicht dein Sohn bin«, zischte er mit einer dünnen, gepreßten Stimme, die vor Zorn zu brechen drohte. »Was, wenn ich dir sage, daß ich dich aus tiefster Seele verachte, und daß ich mich eher erhängen würde oder Gift trinken oder mir einen Dolch durchs Herz rammen würde, als mich in deine widerwärtigen Pläne verstricken zu lassen?« D’arvan sah ihn ohne einen Wimpernschlag an, und ihre Blicke trafen sich und krachten aufeinander wie zwei tödliche Schwerter. »Ich wünschte, es hätte anders zwischen uns sein können. Aber ich kann und werde diese Sklaverei niemals gutheißen.«

D’arvans Worte trafen den Waldfürsten bis ins Herz. Er spürte, wie sich bittere Enttäuschung in ihm ausbreitete, so kalt wie Eis und so hart wie Eisen. Dieser feige, jaulende junge Hund hatte die Unverschämtheit, sich gegen seinen eigenen Vater aufzulehnen?

Hellorin runzelte die Stirn. Du hast einen schweren Fehler gemacht, mein Sohn, dachte er grimmig. Ich habe dir eine lange Leine gelassen; ich habe versucht, dich zu überzeugen, dich zu überreden – aber jetzt ist es an der Zeit, daß du Gehorsam lernst. Hellorin schüttelte seine menschliche Verkleidung wie einen unerwünschten Umhang ab und zeigte sich seinem Sohn in der vollen Gewalt und Majestät des obersten Phaeriefürsten. Die rohe, wilde Elementarmacht der Alten Magie durchpulste ihn wie die ungezähmte Energie eines explodierenden Sterns; strahlend und furchteinflößend ragte er vor seinem Sohn auf. Einen Moment lang hatte er die schale Befriedigung, D’arvan erbleichen und einen heimlichen Schritt zurücktreten zu sehen.

Hellorin warf den Kopf in den Nacken und brüllte vor Lachen. »Rückgratloser, geistloser junger Narr! Wie ist es möglich, daß ich dich je gezeugt habe? Du würdest dich also lieber erhängen oder Gift trinken oder dir einen Dolch ins Herz rammen, ja?« Seine Stimme war voller Spott gegenüber D’arvans leeren Drohungen. »Ich frage mich, mein prächtiger Sohn, ob Maya genauso empfinden würde?«

»Was?« schrie der junge Magusch. »Du elender Mistkerl, du kannst nicht …«

»Ich kann nicht?« Hellorins Stimme war wie eine Messerklinge, die über Knochen schabte. All seine ursprünglich guten Absichten hatten sich in Luft aufgelöst. Wenn D’arvan sich auf seine Seite stellen wollte, dann war das gut und schön – aber wenn nicht, mußte er gebrochen und an seinen Platz verwiesen werden. »Maya befindet sich jetzt in meinem Besitz, sie ist ein Spielzeug für mich«, erklärte er seinem Sohn mit weicher, einschmeichelnder Stimme. »Ich kann mich ihrer entledigen, wie es mir gefällt – ganz zu schweigen von diesen beiden entlaufenden Xandim, die du freundlicherweise zu mir geführt hast.«

Er zuckte die Achseln und heuchelte Gleichgültigkeit. »Was dich betrifft – dir steht es frei, jederzeit zu gehen. Natürlich wirst du zu Fuß gehen müssen, da du die Benutzung der Xandim ablehnst, aber ich denke, deine erhabenen Ideale werden dich mühelos durch die endlosen Meilen öder Wildnis tragen.«

»Nein«, schrie D’arvan. »Ich gehe nicht ohne Maya!«

Hellorin bedachte ihn mit einem harten Blick. »Sei versichert, daß du nicht mit ihr gehen wirst. Als du deinen Vater und dein Erbe verschmähtest, hast du jedes Recht an ihr verwirkt.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Aber wer weiß, da ich jetzt keine Erben mehr habe, werde ich deine kleine Schwertkämpferin vielleicht für mich selbst nehmen. Was für Söhne sie mir wohl gebären wird, hm?«

Bevor er überhaupt begriff, was geschah, schoß ein Feuerball auf sein Gesicht zu. Mit einem entsetzten Aufkeuchen nahm er seine ganze Magie zusammen und riß einen Abwehrschild hoch – gerade noch rechtzeitig. Die feurige Kugel zerplatzte an der Barriere und löste sich in einem durchscheinenden Sternenwirbel auf. Ungezählte Tröpfchen flüssiger Flammen brannten ein Muster kleiner, dunkler Löcher in den moosgrünen Teppich.

Hellorin, der sich schnell wieder faßte, warf den Kopf zurück und lachte. »Großartig! Gut gemacht, mein Sohn!«

D’arvan lehnte sich schwach und nach Luft ringend an die Wand; er war kreideweiß.

Hellorins Züge nahmen einen verschlagenen Ausdruck an. »Aber ich möchte wetten«, fügte er in beiläufigem Tonfall hinzu, »daß du es nicht noch einmal tun könntest – jedenfalls nicht in nächster Zeit. Du bist ein Erdmagusch, D’arvan – es kostet dich zuviel Kraft, auf solch verschwenderische Art und Weise mit Feuer um dich zu werfen.«

Er ging auf den taumelnden D’arvan zu und bückte seinem Sohn tief in die Augen. »Genug mit diesem Unfug. Ich habe dir eine Chance gegeben, mir entgegenzukommen, wie es sich für einen gehorsamen Sohn geziemt, du aber bist mir nur mit Unverschämtheit und Trotz begegnet. Höre mir gut zu, denn ich werde dir sagen, was passieren wird. Die Tage der Magusch sind vorüber – die Phaerie werden an ihrer Stelle ihre Länder beherrschen. Jetzt, da meine Stadt erbaut ist, habe ich die Absicht, mir Nexis ein für allemal Untertan zu machen und die Nexianer unter meine Oberherrschaft zu bringen. Ich habe lediglich auf deine Rückkehr gewartet, denn es erschien mir passend, dir deine Geburtsstadt zum Geschenk zu machen.«

»Was?« stieß D’arvan mit erstickter Stimme hervor. »Du bist wahnsinnig!«

»Warum?« Hellorin zuckte die Achseln. »Jemand muß doch diese glücklosen Sterblichen beherrschen, und nicht einmal ich kann an zwei Stellen gleichzeitig sein. Also, mein Sohn, du stehst vor einer einfachen Entscheidung. Du kannst mein Angebot annehmen und Nexis für mich regieren – denn auf diese Weise – und nur auf diese Weise – kannst du dafür sorgen, daß die Sterblichen behandelt werden, wie es dir gefällt. Außerdem wirst du die kleine Wölfin Maya zu deiner Königin machen – und mir ein paar Enkelkinder schenken, hm?«

»Und was ist, wenn ich mich weigere?« fragte D’arvan langsam. »Was wirst du dann mit mir machen?«

»Mit dir? Absolut gar nichts. Wie ich schon sagte, du wirst frei sein, diesen Ort zu verlassen und deiner Wege zu gehen. Aber du wirst nicht mehr mein Sohn sein und jemand anderes wird über Nexis herrschen und meine sterblichen Sklaven überwachen. Außerdem werde ich Maya für mich behalten.« Er hielt inne. »Entscheide dich, mein Sohn. Du hast meine Geduld schon reichlich strapaziert. Ich werde dich kein zweites Mal fragen.«

D’arvan schlug die Hände vors Gesicht und sank besiegt in sich zusammen. »Nun gut, mein Vater«, flüsterte er. »Ich werde tun, was du von mir verlangst.« Dann richtete er sich wieder auf und sah Hellorin ohne mit der Wimper zu zucken in die Augen. »Dies sind meine Bedingungen.«

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