33 Auferstehung

Eliseth lief durch die Straßen Dhiammaras und suchte nach der schwer faßbaren Gestalt ihrer Feindin. Es machte ihr größte Mühe, sich zu konzentrieren – sie betrachtete den Schauplatz durch verschiedene Augen, während sie von einer ihrer Marionetten zur anderen sprang, um zwischendurch immer wieder in ihren eigenen Körper zurückzukehren. Zu ihrer Erleichterung hatte sie Vannor endlich wiedergefunden. Und, was wichtiger war, sie hatte festgestellt, daß ihr der Zugang zu seinem Geist nicht länger verwehrt war. Ohne lange zu zögern, hatte sie auch ihn auf der Suche nach Aurian in die Stadt geschickt.

Nach einer zähen und erfolglosen Suche wurde Eliseth nun langsam müde und ungeduldig. Außerdem zeigte ihr ein Blick zum Himmel, daß Sonnenfeders geflügelte Soldaten der Wildheit Sturmvogels und der Kolonisten von Eyrie nicht gewachsen waren. Es wurde langsam Zeit, die Dinge zu einer Entscheidung zu bringen, bevor sie ihren Vorteil verlor – wenn sie ihre Feindin nicht fand, mußte sie dafür sorgen, daß Aurian zu ihr kam. Kurzentschlossen streckte Eliseth ihre Gedanken nach Bern aus, der sicher verborgen in einem nahe gelegenen Gebäude saß. Dann manipulierte sie kurz und geschickt seinen Geist und gab ihm den Befehl, die Artefakte auf die Terrasse des höchsten Turmes der Stadt zu bringen.

»Aurian!« rief Eliseth, die ihre Stimme magisch anschwellen ließ, so daß sie durch die ganze Drachenstadt hallte. »Ich bin dieses Katz-und-Maus-Spiel langsam leid! Wenn du mich herausfordern willst, wirst du mich auf dem höchsten Turm finden.« Sie erhielt keine Antwort – und hatte auch keine erwartet. In aller Eile machte die Magusch kehrt und ging zum Turm zurück.

Als Eliseth oben ankam, war Bern bereits dort; seine Brust hob und senkte sich von der Anstrengung des Aufstiegs. Der Gral und das Schwert lagen neben ihm auf dem Stein. Gut – sehr gut. Jetzt würde sie erst einmal herausfinden, was Vannor erreicht hatte …

Genau in dem Augenblick, in dem Eliseth in Vannors Geist schlüpfte, stand dieser plötzlich Aurian gegenüber.

Verwirrt und unglücklich stolperte Vannor durch die Straßen Dhiammaras. Wieder und wieder ließ ihn sein Geist im Stich, nur um dann zurückzukehren und ihm die erschreckenden Lücken in seinem Gedächtnis bewußt zu machen. Immer wieder blieb der alte Kaufmann blinzelnd stehen und fand sich irgendwann später ahnungslos in einer ganz anderen Straße wieder. Ein einziger Gedanke vermochte seine Verwirrung zu durchdringen. Finde Aurian – das war alles, was er wußte. Nun ging er auf den funkelnden grünen Turm zu – und plötzlich stand sie vor ihm.

»Vannor?« Aurian trat auf ihn zu. Sie runzelte die Stirn. »Was tust du denn hier? Du solltest doch auf die Kinder achtgeben …«

Und dann glitt Eliseth in Vannors Geist, und sie hob sein Schwert in die Höhe und ließ es auf die Magusch niederkrachen. Die Klinge bohrte sich in Aurians Hals, und die Magusch ging in einem Teich aus Blut zu Boden. Eine Sekunde später erklang ein wütender Aufschrei, und Eliseth blickte noch einmal durch Vannors Augen – und sah Aurian, das Schwert in der Hand, um die Ecke kommen. Ihre Augen brannten vor Zorn und Trauer. Die Wettermagusch blickte abermals herab, und da lag auf der Straße in seinem eigenen Blut das Xandimgeschöpf, das Vannor als das Windauge kannte. Und in diesem Augenblick krachte Aurians Schwert wie ein Blitz auf den Kaufmann herab, und Vannor sah nichts mehr.

Aurian starrte die beiden Männer entsetzt an. Dann ließ sie sich neben Chiamhs Körper zu Boden sinken und erkannte mit einem einzigen Blick, daß dieser eine tödliche Verletzung empfangen hatte. Vannor hatte ihn mit seinem unbeholfenen Schlag enthaupten wollen, statt dessen aber die Stelle zwischen seinem Hals und seiner Schulter getroffen, und durch die klaffende Wunde drang nun mit jedem Schlag seines stockenden Herzens Chiamhs Lebensblut. Aurian hatte nicht genug Zeit, eine so furchtbare Wunde zu heilen – Chiamh würde längst tot sein, bevor sie fertig sein konnte; außerdem mußte sie Eliseth suchen. Mit Hilfe der Macht des Stabes nahm sie das Windauge aus der Zeit – und auch den armen Vannor, obwohl sie ziemlich sicher war, daß sie ihn getötet hatte. Er war also die ganze Zeit über der Spion gewesen – aber als er zum tödlichen Schlag ausholte, hatte Eliseth aus seinen Augen geblickt. Aurian hatte ihn im Zorn niedergestreckt, und es wäre ihr auch gar nichts anderes übriggeblieben, als sich Eliseths Marionette zu entledigen, aber Vannor war ihr Freund gewesen. Sanft streckte sie die Hand aus, um sein Gesicht zu berühren. »Es tut mir leid«, flüsterte sie, und ihre Kehle war wie zugeschnürt vor Kummer, »und ich weiß, du warst nicht freiwillig ihr Sklave.«

Für mehr blieb ihr keine Zeit. Jetzt war es wichtiger als alles andere, daß sie den Gral fand – um Chiamhs willen und auch um seines Mörders willen.

Aurians Gefährten standen wie betäubt vor Entsetzen um sie herum. »Chiamh war meine Tarnung – er hat sich mit Hilfe einer Illusion mein Aussehen verliehen«, erklärte sie hastig. »Ich habe dem Idioten ja gesagt, es wäre gefährlich …« Ihre Stimme brach, und sie schluckte. »Irgendwie hatte Eliseth Vannor unter ihrer Kontrolle …« Sie zuckte die Achseln. Für weitere Erklärungen war jetzt keine Zeit mehr. »Und ich werde die Sache mit ihr austragen.« Aurian marschierte bereits in Richtung Turm davon, hielt dann aber noch einmal inne. »Ihr anderen bleibt hier«, sagte sie. »Und das ist mein Ernst.«

Shia sah Forral an. »Glaubst du, sie meint uns?«

»Nein, das ist unmöglich.«

»Das dachte ich mir auch.« Gemeinsam gingen sie hinter der Magusch her. »Na schön, ihr zwei.« Aurian sprach, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzudrehen. »Ich wußte, daß ihr nicht auf mich hören würdet.«

Über ihrem Kopf kreiste noch immer der Bussard, der offensichtlich auch nicht auf sie hörte.

»Wartet, wartet!« Iscalda rannte hinter der Magusch her. »Das ist doch Wahnsinn! Warum willst du den ganzen Weg da hinaufklettern, wo Eliseth genau das erwartet? Ich bringe dich hin, Aurian. Wir werden fliegen.«

Hastig schlüpfte Iscalda in ihre Pferdegestalt. Die Magusch stieg auf den Rücken der weißen Stute und beschwor die Kraft des Talismans herauf, um die Wege auf dem Wind zu finden. Und dann ging es hinauf; höher und höher kamen sie der Spitze des Spiralturms und der großen, silberhaarigen Gestalt, die dort stand.

Aurian hatte keine Ahnung, daß der Angriff unmittelbar bevorstand. Sie hörte einen heiseren Aufschrei und sah nur noch das Aufblitzen von Silber, als eine Schwertklinge dicht neben ihrem Ohr die Luft durchtrennte. Aurian bekam sich gerade rechtzeitig wieder unter Kontrolle, um die taumelnde Gestalt Sonnenfeders zur Erde hinabstürzen zu sehen – ihr Bussard klammerte sich noch immer an sein Gesicht und hieb ihm mit seinem langen, gebogenen Gesicht die Augen aus. Der Vogel löste sich erst von seinem Opfer, als der geflügelte Mann auf dem Boden aufschlug. Aurian fragte sich, wie schon so oft in der Vergangenheit, ob der Bussard nicht wirklich Anvars Geist beherbergte.

Eliseth stieß einen schrillen Entsetzensschrei aus, als sie Sonnenfeder stürzen sah. »Ich verdamme dich!« kreischte sie. »Verflucht sollst du sein auf alle Ewigkeit!«

Auf Befehl der Wettermagusch begann der Wind um den Turm zu kreisen und zu heulen; schließlich versuchte er sogar, Aurian von Iscaldas Rücken zu werfen. Mit dem Stab, der ihr zusätzliche Kraft verlieh, zog Aurian einen Schild hoch, der sie selbst und ihre Gefährten umschloß, zu denen auch der Bussard zählte, der nun wieder auf ihrer Schulter gelandet war.

Eliseths erster Blitz traf Aurian, noch bevor sie ihr Ziel erreicht hatten, prallte aber mit einem Funkenregen von dem Schild ab. Es folgten weitere Blitzschläge und ein Schauer harter, kalter Hagelkörner, die ebenfalls wirkungslos von der Barriere abprallten.

Aurian ließ ihren Schild für einen Augenblick sinken und sandte einen Energiestrahl aus dem Stab der Erde gegen den Turm. Eine Sekunde lang blieb das hoch aufragende Gebäude in einem Nebel vibrierender, grüner Kraft verborgen, und man konnte nur das Krachen hören, mit dem es bis zu seinen Grundfesten hinab erschüttert wurde. Ein Netzwerk ungezählter Risse legte sich über das Mauerwerk, aber der Turm hielt stand. Eliseths Diener, der sich hinter Eliseth versteckt hatte war von Aurians Energiestrahl zu Boden geschleudert worden und rollte nun hilflos über den Rand. Sein langgezogener Schrei brach abrupt ab, als er auf dem Boden aufprallte, und Aurian schauderte. Eliseth, die hinter ihren eigenen Schilden sicher verborgen war, hatte nur ein schrilles Lachen übrig.

Da bemerkte Aurian zum ersten Mal Eliseths Unachtsamkeit. Das Schwert der Flammen lag immer noch auf dem Turmdach – außerhalb des Schildes der Magusch –, und Forral war, dicht gefolgt von Shia, den Spiralweg hinaufgestiegen. Sie schlichen sich hinter Eliseths Rücken über das Dach, und als Aurian sah, wie Forral nach dem Artefakt griff, ließ sie Iscalda jäh vom Himmel hinunterschnellen.

Plötzlich erinnerte die Magusch sich daran, daß sie Forral erzählt hatte, warum sie das Schwert nicht gleich beim ersten Mal erringen konnte, und das Blut gefror in ihren Adern zu Eis. »Nein …« dachte sie. Als Forral die Hand um den Griff des Schwertes legte, bückte er mit solcher Sehnsucht und Liebe in den Augen zu ihr auf, daß Aurian sofort wußte, was er vorhatte. »Nein«, schrie sie innerlich. »Nein, nein, nein …«

Danach schien alles sehr langsam zu geschehen. Forral drehte den Griff des Schwertes in seinen Händen um und stürzte Anvars Körper in die Klinge. Eliseth fuhr herum, und ihr Mund war zu einem Protestschrei geöffnet, während Aurian, die immer noch gut einen Meter über dem Dach war, von Iscaldas Rücken sprang und an die Seite des Schwertkämpfers eilte.

Forral drückte der Magusch den Schwertgriff, der noch klebrig war von seinem Blut – Anvars Blut –, in die Hände. »Deins«, flüsterte er.

»Deins«, sang das Schwert. Eine feuerrote Zunge zuckte die tropfende Klinge hinab, und Aurian spürte, wie die Macht des Artefakts durch ihre Adern hindurch pulsierte. »Deins. Das Bündnis besiegelt mit Lebensblut, mit einem Opfer, wie es verheißen war. Besiegt und endlich zusammengefügt …«

Aurian wurde übel. Dieses widerwärtige Ding! Aber sie würde nicht zulassen, daß ein Gefühl der Schwäche Forrals Opfer zunichte machte. Halb blind von Tränen, sprang sie auf die Füße und schwang das feurige Schwert in einem gewaltigen, sirrenden Bogen, der in einem ungeheuerlichen Funkenregen mitten durch Eliseths Schild schnitt.

Dann drehte sie die Hände, wie Forral es ihr als kleinem Mädchen im Tal ihrer Mutter beigebracht hatte, und eine Sekunde später bohrte sich die Klinge durch Eliseths Schädel, spaltete ihr makelloses Gesicht und grub sich tief in den Leib der Wettermagusch, bevor es endlich haltmachte.

Elend und zu Tode erschöpft sank Aurian über dem Leichnam ihrer besiegten Feindin zusammen. Sterbe ich auch, dachte sie ohne jedes Gefühl. Das Licht schien durch ihre geschlossenen Augenlider heller und heller zu werden, und dieses unirdische, getragene Singen … Singen? Wer im Namen aller Schöpfung konnte in diesem Augenblick singen? Kein lebendiges Geschöpf war eines solchen Geräusches fähig, und doch erschien es ihr so vertraut …

Müde hob Aurian den Kopf und öffnete die Augen. Die Sonne ging auf – und überall waren Drachen; einige rot, einige gold, andere grün – und alle blinzelten mit ihren gewaltigen Augen aus schlummerndem Feuer und streckten ihre gerippten, durchscheinenden Hügel aus, um die frühe Morgensonne aufzufangen. Einen Augenblick später ging ein gewaltiges goldenes Geschöpf neben der Magusch auf dem blutbefleckten Dach des Turmes nieder. Der Drache kam ihr irgendwie vertraut vor. »Aber …«, sagte Aurian, »aber …«

Plötzlich erwachte der Morgen unter einer Flut von Licht und Musik zum Leben. Der Drache sprach zu ihr. »Aber ich bin in dem Erdbeben umgekommen, als die Schatzkammer zusammenstürzte?« Ein Wasserfall schimmernder Farben zierte die Luft, als der Drache laut lachte. »Illusion, Magusch – alles Illusion. Das Schwert war dazu bestimmt, uns in die Zeit zurückzuholen. Aber erst, wenn es errungen und das Böse besiegt wurde, denn wir wünschten nicht, in der Welt zu leben, solange sie kein besserer Ort war …« Der Drache neigte den Kopf und sah Aurian kritisch an. »Ich muß sagen, du hast dir ganz schön Zeit gelassen!«

Diese Bemerkung ließ Aurians Zorn aufflammen. »Und ich muß sagen, es überrascht mich, daß ihr eine so schmutzige Waffe wie diese ersinnen konntet.« Voller Abscheu blickte sie auf das blutbefleckte Schwert, das noch immer sein wildes Lied von Blutvergießen und Morden summte. »Außerdem könnt ihr das widerliche Ding zurückhaben!« Mit aller Kraft trieb sie die Klinge mit der Spitze nach unten in den Stein des Turmdachs. Zu ihrer Überraschung sank das Schwert mühelos bis zu seiner halben Länge hinein und blieb dort stecken. Der Drache sah sie mit vor Überraschung geweiteten Augen an – und mit einer gehörigen Portion Respekt. »Tollkühne Magusch«, sang er. »Wieder eine Legende geboren!«

»Du kannst dir deine Legenden an den Hut stecken«, brauste Aurian auf – dann wurden ihre Züge plötzlich weicher. Es war absolut unmöglich, auf ein so prachtvolles und wunderschönes Geschöpf lange wütend zu sein. Aurian überlegte, daß die Drachen wahrscheinlich deshalb mit so großer Schönheit ausgestattet waren, weil sie sonst alle gegen sich aufgebracht und wahrscheinlich nicht lange überlebt hätten. »Ich bin froh, daß du wieder da bist«, sagte sie leise zu dem Drachen, »aber ich hoffe, ihr wißt die Opfer zu schätzen, die euretwegen gebracht wurden.« Mit diesen Worten drehte sie sich wieder zu Forral um – und fand sich Auge in Auge mit der gewaltigen, turmhohen Gestalt des Todes. »Nun, jetzt hast du sie beide«, sagte sie bitter. »Bist du endlich zufrieden?«

»Im Gegenteil, Magusch«, sagte die Geistererscheinung. Dem Tonfall seiner Stimme nach klang es beinahe, als lächle der Tod in den dunklen Tiefen seiner Kapuze. »Vielleicht habe ich sie doch nicht beide – noch nicht. Ich bin jedoch wegen des Grals gekommen. Bist du immer noch bereit, dein Versprechen zu halten?«

»Darf – darf ich ihn mir zuerst für ein paar Minuten ausborgen?« fragte Aurian hastig.

Diesmal lachte die Geistererscheinung laut auf. »Wie die Drachen bereits bemerkten, niemand könnte die Magusch an Dreistigkeit überbieten. Ja, du darfst den Gral ein letztes Mal benutzen – unter der Bedingung, daß du versprichst, niemals mehr in mein Reich einzudringen – das heißt, nicht, bevor ich dich einlade.«

»Ich denke, dieses Versprechen kann ich ohne weiteres geben«, erwiderte Aurian.

»Da siehst du’s also, ich kann sogar dir helfen.«

Die Magusch hörte dumpfes Flügelschlagen und sah Sturmvogels Himmelsleute näherkommen. Sie trugen die Körper Chiamhs und Vannors. Sanft legten sie sie neben die Magusch.

»Einer gehört dir«, erklang die Stimme des Todes abermals, »und einer mir. Das Windauge kannst du haben, aber der andere wurde aus meinem Reich fortgerissen und muß zurückkehren.«

Aurian nickte wortlos. Sie würde den lieben Vannor vermissen. Dann nahm der Tod persönlich den Gral aus seiner geschützten Ecke auf dem Dach, und Aurian sah erstaunt zu, wie die schwarzen Verfärbungen sich in seiner Hand wieder zu einem hellen, unbesudelten Gold verwandelten. Schließlich neigte er den Kopf zur Seite und reichte Aurian das Artefakt. Es schien bis an den Rand mit blauweißem Licht gefüllt zu sein. Nachdem sie neben der verstümmelten Leiche des Windauges niedergekniet war, versprengte sie etwas von dem flüssigen Leuchten auf seine furchtbaren Wunden.

Chiamh öffnete die Augen und lächelte zu ihr auf. »Ich dachte, ich sei tot«, sagte er leise. »Ich bin froh, daß das nicht stimmt. Ich hätte dich vermißt.«

Dann hob er die Arme, um die Magusch an sich zu ziehen, noch schwach zuerst, dann mit zunehmender Kraft. »Mein liebster Freund«, flüsterte Aurian. »Wie gut es tut, dich wiederzuhaben.«

»Und was ist mit mir?« meldete sich eine ungeduldige Stimme zu Wort. Aurian drehte sich zu Wolf um. Einen Augenblick lang fragte sie sich, was sie tun sollte – und dann wußte sie es. »Hier, mein Sohn«, sie stellte den Gral vor der zottigen grauen Gestalt auf den Boden. »Trink.«

Während Wolf den schimmernden Inhalt des Grals in sich aufnahm, schien das Leuchten in ihn hineinzusickern,, breitete sich in seinem Körper aus und wurde stärker und stärker, bis der Glanz zu grell war, um ihn ansehen zu können. Als Aurian wieder hinschaute, stand an der Stelle des Wolfes und angetan mit einem grauen Umhang der kräftige, dunkelhaarige Junge, den sie Zwischen den Welten gesehen hatte. Aurian sprang auf, um ihn an sich zu ziehen, aber er versteifte sich in ihrer Umarmung. »Mein Vater«, rief er gequält. »Er ist tot!« Weinend rannte Wolf zu dem leblosen Körper, der Forrals vorübergehende Hülle gewesen war.

Bevor Aurian ihm folgen konnte, um ihn zu trösten, wurde die Luft plötzlich kalt, und ein dunkler Schatten versperrte die Morgensonne. Die Geflügelten stoben mit Entsetzensschreien auseinander, und selbst die Drachen schlugen mit ihren gewaltigen Schwingen und zischten beklommen. Aurian schritt furchtlos an den Rand des Dachs und hielt den Gral mit ausgestreckten Händen in die Höhe. »Hier ist er«, rief sie. »Ich habe auch euch gegenüber mein Versprechen gehalten.«

»So lebe denn wohl, Lady«, erwiderte der Todesgeist an der Spitze seiner Schar. »Mögen die Segenswünsche der Götter dich begleiten, bis wir uns wiedersehen.«

In einem dunklen, dünnen, rauchgleichen Strom ergossen sich die Nihilim in den Gral – und kamen wenige Sekunden später wieder zum Vorschein, leuchtend und prächtig, Wesen aus reinem Licht mit durchscheinenden Silberflügeln. Ihre Dankesschreie hingen noch in der Luft, während sie einmal um Aurian kreisten und schimmernd in den Welten des Jenseits verschwanden.

Der Tod machte eine tiefe Verbeugung vor der Magusch. »Wahrlich, Lady«, sagte er mit tiefen Respekt, »von all deinen Erfolgen ist dies wohl der größte. Du hast meine Dankbarkeit – und die Dankbarkeit aller sterblichen Geschöpfe.«

Als die Seraphim verschwunden waren, formte sich neben der Geistererscheinung eine nebelhafte Gestalt, die von Sekunde zu Sekunde körperlicher wurde. »Forral!« rief Aurian. Der Schwertkämpfer, der ein allerletztes Mal seine wahre Gestalt trug, hielt die Arme für sie auf, und Aurian stellte zu ihrem Erstaunen fest, daß sie ihn berühren konnte, als wäre er aus Heisch und Blut.

»Mein Geschenk an dich«, sagte der Tod sanft. »Die Gelegenheit, Abschied zu nehmen.«

»Das kann ich nicht«, rief Aurian. »Ich kann dich nicht noch einmal verlieren!«

»Doch, das kannst du, mein Liebes«, entgegnete der Schwertkämpfer mit fester Stimme.’»Ich bin ohnehin tot, erinnerst du dich? Ich dürfte eigentlich gar nicht hier sein. Der Tod hatte recht – es ist Zeit für mich weiterzugehen. Vannor und ich werden gemeinsam gehen. Ich mußte dich noch ein letztes Mal sehen, und ich wollte meinen Sohn kennenlernen. Das ist im Grunde alles, was ich wirklich wollte. Ihr werdet jetzt in Sicherheit sein und glücklich …« Er nahm ihr den Gral ab und goß den Rest des Leuchtens über die blutbefleckte Gestalt Anvars. Binnen weniger Sekunden erholte sich der Körper von seiner schrecklichen Verwundung.

Forral verbeugte sich vor dem Tod und reichte ihm den Gral. Als die Geistererscheinung verschwand, umarmte der Schwertkämpfer seinen Sohn und zog auch die Magusch noch einmal an sich. »Anvar ist mein letztes Geschenk an dich«, flüsterte er. »Sei glücklich. Gehabe dich wohl, meine Geliebte – bis wir uns wiedersehen.« Dann löste er sich auf wie Rauch, und Aurians Arme waren leer – aber zu ihren Füßen setzte Anvar sich langsam auf, öffnete die blauen Augen und lächelte, während ganz in der Nähe unbeachtet der Körper eines Bussards zu Boden fiel.

Zanna stand auf dem Felsvorsprung jenseits der Fischersiedlung und blickte übers Meer, während die aufgehende Sonne einen Pfad aus Rosa und Gold über den glatten grünen Ozean warf. Sie war früh aufgewacht und hatte in der Nacht einen seltsamen Traum gehabt. Vannor hatte vor ihr gestanden, eingehüllt in einen Nimbus flüssigen Goldes. »Ich muß jetzt fort, mein Mädchen«, hatte er gesagt, »daher dachte ich, ich komme noch einmal her und sage Lebewohl. Forral und ich gehen gemeinsam. Wir bringen dem Tod seinen Gral zurück – aber das alles willst du ja gar nicht wissen. Am Ende hat sich jedenfalls alles zum Besten gefügt.

Eliseth ist tot, und Aurian und Anvar sind wieder zusammen – oh, und Wolf ist endlich zu einem Jungen geworden. Nun, ich muß jetzt los, mein Liebes – ich werde dich vermissen. Gib gut acht auf dich und auf meine kleine Enkeltochter. Willst du mir das versprechen? Bewahre mich in deinem Herzen, und ich werde nie weit fort sein.« Zanna hatte die geisterhafte Berührung eines Kusses auf ihrer Stirn gespürt – und dann war sie erwacht. Vannor war fortgewesen, aber der Kuß war irgendwie zurückgeblieben.

Die Nachtfahrerin wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und blickte über den Ozean. Der Traum war echt gewesen – dessen war sie absolut sicher. »Lebewohl, Vater«, flüsterte sie. »Und gib du auch auf dich acht.« Sie fragte sich, woher er das mit seiner Enkeltochter gewußt hatte – bisher war sie selbst sich nicht ganz sicher gewesen, ob sie tatsächlich ein Kind unterm Herzen trug. Ob ich es Tarnal wohl schon erzählen kann, dachte sie.

Weit draußen auf See zog das Funkeln des Sonnenlichts auf einer Wasserfontäne ihren Blick auf sich. Zanna hielt den Atem an. Da draußen waren Wale! Mehr Wale, als sie sich jemals hätte vorstellen können! Dann sah sie, daß aus Norden noch weitere Mitglieder dieser dunklen, anmutigen Rasse herbeigeschwommen kamen – nur vier oder fünf vielleicht. Ein Wal, der größte, war den anderen weit voraus. Die beiden Gruppen verschmolzen in einem herrlichen Schauspiel; sie sprangen freudig und mit ungeheurer Eleganz aus dem Wasser und schleuderten in glitzernden Diamantbögen die Wassertropfen von ihren großen Leibern. Vor Zannas Augen wurde die kleinere Gruppe der Leviathan von der größeren Familie ihrer Gefährten aufgenommen – und dann waren sie alle zusammen verschwunden, eingetaucht in die goldene Flamme des Sonnenuntergangs wie ein Traum, der dem Morgen wich.

Einige Tage später machten Aurian und mehrere ihrer Gefährten sich bereit, Dhiammara endgültig zu verlassen. Die meisten, zu denen auch die gefangengenommenen Khazalim zählten, kehrten in ihre Heimat zurück.

Eliizar und Nereni freuten sich auf die Heimkehr in ihre Siedlung, um dort noch einmal von vorn anzufangen. Zu aller Überraschung würden Rabe und Aguila, der von Aurian geheilt worden war, sich ihnen anschließen. »Ich habe in Aerilla nie Glück gehabt«, beharrte Rabe. »Sollen die Priester es doch behalten, wenn sie so versessen darauf sind. Außerdem würde ich Nereni vermissen.« Sie bedachte ihre alte Freundin mit einem strahlenden Lächeln.

»Und wir kehren zu den Xandim zurück – Chiamh, Iscalda und ich«, sagte Schiannath. »Es wird langsam Zeit, daß denen mal jemand etwas Verstand in ihre Köpfe bleut. Außerdem sind wir dort nicht allzuweit von Aurian und Anvar entfernt und können sie gelegentlich besuchen.«

Eliizar stand, einen Arm um seine Tochter gelegt, neben den beiden Magusch. »Und wohin wollt ihr?« fragte er Aurian und Anvar. »Ihr werdet doch gewiß nicht nach Norden zurückkehren?«

Es dauerte einen Augenblick, bis er die Aufmerksamkeit der beiden Magusch gewann, die die vergangenen Tage in einer schwindelerregenden Aura der Glückseligkeit zugebracht hatten. Ihre Gefährten hatten den Eindruck, daß sie seit Anvars Rückkehr nicht aufgehört hatten, einander zu berühren und zu umarmen. Als Eliizar seine Frage wiederholte, schüttelte Anvar den Kopf. »Nein – wir haben darüber geredet, und es gibt gewiß noch viel zu tun im Norden – zum Beispiel die Sache mit den Phaerie –, aber wir sind zu dem Schluß gekommen, daß D’arvan für den Augenblick allein mit diesen Problemen fertig werden muß.«

»Wir gebieten immer noch über die Harfe und den Stab, und daher tragen wir eine Verantwortung für das Geschick unserer Welt – aber zuerst wollen wir uns ausruhen«, pflichtete Aurian ihrem Seelengefährten lächelnd bei. »Und wir wollen endlich Gelegenheit haben, eine Familie zu sein. Ich glaube, das haben wir uns wirklich verdient. Später haben wir dann noch genug Zeit, um uns um die Phaerie zu kümmern und herauszufinden, was aus Shias Volk geworden ist. Anvar hat mir von einer herrlichen Bucht erzählt, die er einmal entdeckt hat. Dort ist das Meer warm und blau, und einen üppigen Wald gibt es auch, voller Früchte und Wild … Wir wollen uns dort niederlassen und die Schwierigkeiten der Welt für eine Weile anderen überlassen. Landeinwärts von der Bucht gibt es sogar Hügel mit einigen Höhlen, in denen Shia ihre Jungen großziehen kann.« Sie lächelte ihre Freundin an, die gerade ihren Kopf an dem Khanus rieb.

»Wahrhaftig – du kannst mir helfen, auf sie aufzupassen, wenn du so versessen darauf bist«, sagte die Katze unhörbar für alle anderen zu der Magusch.

Aurian lächelte und sah zu Anvar auf, um ihn in ihr Gespräch mit der Katze einzubeziehen. »Vielleicht können unsere Kinder ja gemeinsam aufwachsen«, sagte sie.

»Du und Khanu, ihr mögt zwar einen gewissen Vorsprung vor uns haben, Shia«, fügte Anvar hinzu, »aber ich glaube nicht, daß wir viel Zeit verschwenden werden, bevor wir euch einholen.«

Aurian lachte und umarmte ihren Seelengefährten. Über seine Schulter fing sie Grinces Blick auf. »Und was wirst du anfangen?« fragte sie ihn.

Der Dieb kicherte. »Ich werde in die Nachtfahrersiedlung an der Xandimküste zurückkehren. Ihr wißt ja,“ Frost, mein Hund, ist immer noch dort – und vielleicht haben Zannas Leute Verwendung für meine besonderen Fähigkeiten. Alles in allem, denke ich, werde ich wohl zurechtkommen«, fügte er mit einem hinterhältigen Zwinkern hinzu. Dann durchstöberte er die Innentasche seines Rockes, zog einen kleinen Lederbeutel hervor und goß dessen Inhalt in einem funkelnden Strom in seine Hand.

Aurian ächzte – und brach in lautes Gelächter aus. »Pendrals Juwelen! Was bist du doch für ein frecher junger Hund!« rief sie. »Du hast sie die ganze Zeit mit dir herumgeschleppt?«

»Und ob ich das getan habe«, schnaubte Grince. »Glaubst du etwa, nach allem, was ich ihretwegen durchgemacht habe, würde ich sie einfach irgendwo liegenlassen?«.

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