Das Geräusch von Stimmen und Schritten draußen vor Licias Hütte weckte Maya. »Was ist los?« fragte sie schläfrig.
»Das sind die Arbeiter«, antwortete die Spitzenklöpplerin. »Sie kommen für die Nacht nach Hause.«
»Was?« Langsam schüttete die Kriegerin den Schlaf ab und kam wieder zu Verstand. Sie mühte sich auf die Füße und spähte aus der Hütte. Draußen zog ein zerlumptes Häufchen müder Arbeiter vorbei. Als Maya die Gesichter der Vorbeigehenden betrachtete, blieb sie bei einer kleinen, vertrauten Gestalt hängen. Einen Augenblick lang konnte sie es nicht fassen. »Parric?« Sie füllte ihre Lungen und nahm Zuflucht zu dem Schlachtengebrüll, das sie von Forral gelernt hatte. »PARRIC!«
Ein Stück weiter die Straße hinunter regte sich etwas in der Menge. »Geht mir aus dem Weg, verdammt noch mal!« Maya grinste, als sie diese vertraute, gereizte Stimme hörte. »Mögen euch die Götter in Verdammnis stürzen, laßt mich durchl« Einen Augenblick später taumelten zwei stämmige Arbeiter zur Seite weg, und die gedrungene, drahtige Gestalt des Kavalleriehauptmanns kam zwischen ihnen hindurchgeschossen.
Parric blieb wie angewurzelt stehen, als er sie sah, und sein Gesicht wurde bleich vor Schreck. Dann lief er ohne ein Wort auf Maya zu und preßte sie so fest an sich, daß er ihr beinahe die Rippen brach. So blieben sie lange Zeit wortlos stehen, zu aufgewühlt von ihrem Wiedersehen, um ihre Gefühle zu artikulieren.
Der Kavalleriehauptmann teilte eine Schlafhöhle mit zwei Dutzend anderen Arbeitern, daher zogen sie sich, um ungestört sein zu können, in Licias Hütte zurück. Die Spitzenklöpplerin war in dieser Hinsicht sehr freundlich.
»Wenn wir einander nicht ab und zu helfen können, sähe die Sache schlimm aus. Dann wären wir ja nicht besser als diese stahläugigen, kaltblütigen Bastarde, die sich zu unseren Herren aufgeschwungen haben.«
Maya schüttelte tadelnd den Kopf. »Licia, wenn man dich so ansieht, käme man nie auf den Gedanken, daß du solche Ausdrücke kennst.«
Die Spitzenklöpplerin errötete und zuckte mit den Achseln. »Na ja, die kannte ich bis vor kurzer Zeit auch nicht. In Nexis war ich einfach nur eine alte Jungfer; steif, ordentlich und nichtssagend – bevor ich hier raufgebracht wurde und mit diesen verkommenen Kriegern zusammenkam.«
»Na, wie dem auch sei. Jeder, der hier bei diesen Hurensöhnen von Phaerie lebt, lernt das Fluchen«, eilte Parric ihr zur Hilfe.
Da zu dieser Zeit des Abends das Essen verteilt wurde, erbot sich Licia taktvoll, Maya und Parric für eine Weile allein zu lassen, während sie die Rationen für sie alle drei holen ging. Parric erzählte der Kriegerin von Vannors irrsinnigem Verhalten und dem katastrophalen Feldzug gegen die Phaerie. Anschließend berichtete Maya von ihren Erlebnissen, seit sie Nexis vor so furchtbar langer Zeit verlassen hatte, um D’arvan ins Tal zu begleiten. Dann erzählte sie, wie sie mit Aurian zusammen wieder durch das Tor in der Zeit getreten war, und kam zu guter Letzt auf ihre und D’arvans Entführung durch den Waldfürsten zu sprechen.
Als sie fertig war, stieß Parric einen leisen Pfiff aus. »Du hast all diese Zeit als Einhorn zugebracht? Kaum zu glauben!«
»Nun, so hat es sich zugetragen«, versicherte Maya ihm. »Und jetzt frage ich mich nur, was Hellorin diesmal für D’arvan und mich auf Lager hat.« Während sie sprach, betastete sie das Kettchen um ihren Hals. »Nun ja«, fügte sie dann ein wenig energischer hinzu, »das ist meine Geschichte. Was ich immer noch nicht begreife, ist, was dir und Vannor zugestoßen ist? Was, in Chathaks Namen, ist nur in diesen Narren gefahren, daß er den verfluchten Phaerie den Krieg erklärt hat?«
Parric schüttelte den Kopf. »Das konnte ich nie ergründen. Wirklich, Maya, man konnte es kaum einen Angriff nennen. Sie haben nur gewartet, bis wir, vollkommen erschöpft von dem langen Weg hier herauf, ankamen; dann haben sie eine Art magisches Feld um uns herum gewoben und uns aus der Luft erledigt. Sangra ist bei diesem Kampf gestorben.« Sein Gesicht verzog sich bei der Erinnerung an alten Schmerz. »Weißt du, der alte Vannor hatte immer einen gesunden Verstand. Er war früher ein guter Mann – ein Mann, den ich mochte und respektierte. Ich habe ihn gut gekannt, als wir bei den Rebellen waren, und ich kann mir einfach nicht vorstellen, warum er so dumm war, die Phaerie anzugreifen. Er muß doch gewußt haben, wie viele Menschenleben ein solcher Angriff kosten würde! Und selbst wenn er es nicht wußte, es waren genug Leute da, die es ihm gesagt haben – mich und Dulsina eingeschlossen. Und du weißt doch, wieviel Einfluß sie immer auf ihn hatte. Aber diesmal nicht. Die ganze Sache hat die beiden schließlich sogar auseinandergebracht. Es war, als ob …« Er zuckte die Achseln. »Du wirst wahrscheinlich denken, ich sei übergeschnappt, Maya, aber damals kam es mir vor, als wäre er nicht mehr er selbst – der alte Vannor war vollkommen verschwunden. Es war, als spräche man mit einem Fremden – und einem höchst widerwärtigen obendrein.«
Parric seufzte und schüttelte den Kopf. »Nun, er hat am Ende seinen Willen durchgesetzt. Um dir die Wahrheit zu sagen, schließlich hatten alle sogar ein bißchen Angst vor ihm. Man hatte das Gefühl, er wäre zu allem fähig – zu absolut allem. Es war, als hätte das Gift irgendwie seinen Geist angegriffen …«
»Gift?« fragte Maya scharf. »Jemand hat versucht, Vannor zu vergiften?«
»Oh, ich hab’ ganz vergessen, daß du davon nichts wußtest. Jemand hat es getan – wir wissen immer noch nicht, wer es war, aber er hätte beinahe Erfolg gehabt …«
Maya hörte entsetzt zu, während Parric ihr von dem Attentat auf Vannor erzählte und von dem Erdbeben, das sich kurze Zeit später zugetragen hatte. »Das war also der Grund für all diese Zerstörung«, murmelte sie. »Ich dachte, es wären die Phaerie gewesen.«
»Oh, die Phaerie waren schon schlimm genug«, erwiderte der Kavalleriehauptmann verbittert. »Unser Angriff auf sie – wenn man das überhaupt so nennen kann – hat sie scheinbar erst so richtig in Fahrt gebracht.«
»Das hat er ganz gewiß.« Licias Stimme kam aus der offenen Tür. Sie ging auf den Tisch zu, stellte ihre Rationen darauf und wandte sich dann den anderen zu. Ihr Gesichtsausdruck spiegelte die Düsternis ihrer Erinnerungen wider. »Sie sind in jener Nacht wie der Zorn der Götter auf Nexis niedergegangen«, sagte sie ruhig. »Niemand hat es erwartet, und welche Chance hatten wir schon, wo all unsere besten Krieger fort waren? Sie haben Männer und Frauen gleichermaßen geholt – die einzige Beschränkung, die sie sich auferlegen mußten, beruhte auf der Zahl von Leuten, die sie wegtragen konnten.«
Ihre Finger umklammerten die Tischkante. »Diejenigen, die entführt wurden, hatten Glück – für jeden einzelnen, den sie gepackt hatten, wurden drei weitere getötet, in den Straßen oder in ihren Betten. Ah, es war leichter für mich als für manch anderen. Ich hatte wenigstens keine Familie zu betrauern … Kleine Kinder wurden wie Fliegen von den Hufen der gewaltigen Phaerierosse zertrampelt. Die Leute schrien, Häuser brannten …« Sie schüttelte den Kopf. »Es war so furchtbar, daß man es nicht beschreiben kann. Sie sind in Lord Vannors Villa eingebrochen und haben auch ihn geholt – obwohl wir ihn nie zu Gesicht bekommen haben, ist er irgendwo da oben in der Zitadelle eingekerkert.«
Licias Stimme wurde hart. »Was übrigens auch sein Glück ist – ich glaube, hier unten hätten ihn die Leute in Fetzen gerissen. Ich hoffe nur, daß er sehen konnte, was ich gesehen habe. Wenn es eine Gerechtigkeit in dieser Welt gibt, sollte ihn dieser Anblick für den Rest seiner Tage verfolgen …« Sie brach plötzlich ab; ein Schatten war über den Eingang der Hütte gefallen. Etwa ein halbes Dutzend Phaeriewachen standen dort, groß, grimmig und erschreckend. Zu Mayas Erstaunen hielt einer von ihnen ein Bündel mit Kleidern unterm Arm. »Ihr zwei da.« Einer von ihnen zeigte auf Parric und Maya. »Man will euch sprechen. Kommt mit uns.«
»Bei allen Göttern!« rief D’arvan. »Was hast du mit ihm gemacht?«
»Ich? Nichts.« Hellorin zog sein Schwert und stieß damit sanft die Gestalt an, die reglos auf dem Boden kniete. Vannor geriet daraufhin leicht ins Taumeln, rührte sich ansonsten aber nicht. Auch sein Gesichtsausdruck blieb regungslos – ein Jammer, dachte D’arvan, denn unter dem wilden Gewirr des langen, grauen Haares und dem weißen Bart lag ein Ausdruck, der etwas zutiefst Erschreckendes an sich hatte. Das Gesicht des Gefangenen war zu einem lautlosen Schrei unaussprechlicher Qual verzerrt.
»Wie lange ist er jetzt in diesem Zustand?« fragte der junge Magusch.
Hellorin zuckte die Achseln. »Seit wir ihn hierher gebracht haben – etwas länger als ein Jahr jetzt, würde ich sagen. In der Nacht, in der wir ihn eingefangen haben, hat er uns mit Schimpfworten und Flüchen überhäuft. Bei unserer Rückkehr haben wir ihn eingesperrt, und am nächsten Morgen, als die Wachen ihn holen wollten, befand er sich genau in dem Zustand, in dem du ihn jetzt siehst. Es sind zwei Sklaven nötig, um ihn zu füttern, ihn zu waschen und sich anderweitig um ihn zu kümmern; und das ist das Ergebnis – er sagt nichts, verändert sich nicht und scheint in seiner eigenen Qual verloren zu sein.«
»Warum hast du dir überhaupt die Mühe gemacht, ihn am Leben zu halten?« wollte D’arvan wissen.
Hellorin zuckte mit den Achseln. »Ich war neugierig. Irgend etwas an diesem Angriff erschien mir seltsam. Wenn die Sterblichen sich in unserer Abwesenheit nicht auf eine grundlegende Art und Weise geändert haben, woran ich zweifle, schienen die Taten dieses Mannes überhaupt keinen Sinn zu ergeben. Nur jemand mit Kräften, die den unseren nahe kommen, könnte es auch nur in Erwägung ziehen, den Phaerie den Krieg zu erklären – nur jemand mit der unglaublichen Arroganz und dem Ehrgeiz eines Magusch, um genau zu sein.« Plötzlich fuhr der Waldfürst herum und durchbohrte D’arvan mit einem scharfen Blick. »Bist du sicher, daß dieser Sterbliche nicht mehr ist, als es den Anschein hat?«
D’arvan hatte alle Mühe, sein Erschrecken zu verbergen. »Aurian hat mir erzählt, daß Miathan auch aus großer Entfernung den Geist eines anderen beherrschen könne«, gab er zu, »aber das geschah anscheinend mit der vollen Zustimmung des Opfers. Nach allem, was ich von Vannor gehört habe, würde er sich einer solchen Ungeheuerlichkeit niemals unterwerfen.«
»Wer weiß, was diese Sterblichen tun würden oder nicht?« erwiderte Hellorin voller Abscheu. »Maya scheint, um ehrlich zu sein, einen durchaus scharfen Verstand zu haben – wahrscheinlich Hegt das daran, daß sie. so viel mit den Magusch zu tun hatte –, aber ich fürchte, daß du ihretwegen dem Rest dieser Herde zuviel Intelligenz zubilligst. Glaubst du wirklich, daß ein entschlossener Magusch nicht in der Lage wäre, einen bloßen Sterblichen ohne weiteres, einfach durch schiere Willenskraft, zu beherrschen?«
»Nun, ich wäre dazu jedenfalls nicht in der Lage«, antwortete D’arvan fest. »Aber andererseits hatte ich auch nie den Wunsch dazu. Außerdem – wenn Vannor von einem Magusch beherrscht wurde, warum versucht derjenige dann nicht, ihn von hier entkommen zu lassen? Außerdem könnte er ihn benutzen, um dich auszuspionieren.«
»Genau das sollst du für mich herausfinden.«
»Ich?« stieß der Magusch hervor. »Was kann ich denn tun?«
»Ach, na komm schon«, sagte Hellorin ungeduldig. »Sterbliche sind für uns Phaerie eine vollkommen fremde Spezies. Du mit deinen Maguschvorfahren stehst ihnen viel näher. Du könntest in seinen Geist eindringen, D’arvan, und herausfinden, was ich nicht in Erfahrung bringen konnte. Als eine Bedingung für deine Mitarbeit hast du mich gebeten, Vannor freizulassen. Nun, bevor ich das tue, möchte ich sicher sein, daß sein Geist nicht von einem Magusch beherrscht wird – wenn ihm überhaupt noch ein Fünkchen Geist übriggeblieben ist. Ich werde ihn jedenfalls nicht freilassen, damit er in Zukunft weitere Verschwörungen gegen mich anzetteln kann …«
Der Waldfürst wurde von einem respektvollen Klopfen an der Tür unterbrochen. »Ah – ich nehme an, da sind deine anderen Sterblichen angekommen. Herein«, fügte er mit lauterer Stimme hinzu.
»Nimm deine verfluchten Hände weg!« hörte D’arvan Maya schreien, bevor er sie sah. Dann flog die Tür auf, und sie kam ins Zimmer gestürzt; am Leibe trug sie bloß ein schlecht sitzendes Männerhemd, das ihr bis zu den Knien reichte. Parric, der ähnlich gewandet war und finster vor sich hin starrte, folgte ihr.
Maya umrundete Hellorin wie eine Tigerin. »Du verräterische Schlange«, zischte sie. »Du schleimiger Sohn einer pockennarbigen Hure! Undenkbar, daß ich dich einmal Vater genannt habe!«
Hellorin lächelte sie an. »Maya, du bist ein Quell der Freude. Du änderst dich niemals.«
»Und du auch nicht«, fuhr Maya ihn an. »Du warst damals ein herzloser, mordender Schlächter und bist es immer noch.« D’arvan, der sah, daß seine Geliebte die Hände zu Fäusten geballt hatte, trat schnell auf sie zu und legte ihr einen Arm um die Schultern, bevor sie in ihrem Zorn etwas Törichtes tun konnte.
»Es ist immer schön, wenn die Leute einen zu schätzen wissen.« Hellorin machte eine spöttische Verbeugung vor ihr und ging zur Tür. »D’arvan – ich überlasse es dir, ihr zu erklären, welchen Handel du geschlossen hast. Meine Anwesenheit scheint deine Sterblichen aufzuregen.« Mit diesen Worten war er verschwunden.
»Deine Sterblichen?« Maya wandte sich mit einem gefährlichen Glitzern in den Augen an D’arvan – nur um ihn eine Sekunde später stürmisch zu umarmen. »Gedankt sei den Göttern, daß dir nichts zugestoßen ist«, murmelte sie an seine Schulter gepreßt. »Als sie uns hier heraufbrachten, wußte ich nicht, was uns erwartet.«
»Wir wissen immer noch nicht, was uns erwartet.« Parric bückte mit aschfahlem Gesicht auf Vannor hinunter. »Was, im Namen aller Götter, haben diese Kreaturen ihm angetan?«
D’arvan seufzte. Das würde nicht leicht werden. »Nach allem, was Hellorin erzählt, haben die Phaerie ihm überhaupt nichts angetan. Sie haben ihn am Morgen nach seiner Gefangennahme in diesem Zustand vorgefunden.«
»Unsinn!« fuhr Parric auf. »Niemand bekommt so ein Gesicht ohne Grund.«
Maya ging zu Vannor hinüber und legte ihm zaghaft eine Hand auf die Schulter, unter das zottelige Gewirr seines strähnigen, grauen Haares. »Vannor?« Stirnrunzelnd berührte sie sein Gesicht, aber er zeigte nicht die leiseste Reaktion.
»Hört mir zu – ihr beide.« D’arvan übernahm das Kommando. »Vergeßt Vannor für den Augenblick; wir werden gleich auf ihn zu sprechen kommen. Setzt euch und trinkt etwas Wein. Wir müssen reden, wir drei.« Er holte tief Luft und fragte sich fieberhaft, wie er seiner Geliebten die Neuigkeiten bebringen sollte. »Es gibt keine schonende Art, dir das zu erzählen«, sagte er schließlich. »Hellorin verlangt, daß ich hierbleibe und meine Pflichten als sein Sohn erfülle.«
»Was?« schrie Maya. »Aber das kannst du nicht tun! Was ist mit Aurian?«
»Ich habe keine Wahl, meine Geliebte«, antwortete der Magusch ausdruckslos. »Die anderen Sklaven müssen dir bereits von der Bedeutung dieser Kette, die du trägst, erzählt haben. Mein Vater benutzt dich als Geisel, um meine Mitarbeit zu erzwingen. Wenn ich ihm nicht gehorche, wird er dich töten.«
Eine Vielzahl unterschiedlicher Gefühle spiegelte sich in Mayas Gesicht: Erschrecken, Empörung und in erster Linie Zorn. Während sie alle drei noch in entsetztes Schweigen versunken waren, bemerkte D’arvan, wie ihre Stirn sich nachdenklich in Falten legte. Sie blickte zu ihm auf. »Wenn Hellorin mich tötet«, sagte sie langsam, »hat er keine Macht mehr über dich. Du kannst zurückkehren und Aurian helfen.«
Der Magusch konnte den anderen Gedanken erraten, der sie bewegte, jenen, den sie nicht laut ausgesprochen hatte. Er stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Und wenn ich mich selbst töte, wird D’arvan frei sein. Er atmete tief durch, um nicht in Panik zu geraten, denn er wußte, daß seine nächsten Worte die Angelegenheit entscheiden würden, und er wünschte sich verzweifelt, sie zu überzeugen. Er griff nach ihren Händen. »Maya«, sagte er liebevoll, »du darfst jetzt nichts überstürzen. Hör dir einfach an, was ich zu sagen habe … Das war ein langer und ermüdender Tag für mich, und ich habe mit meinem Vater einen harten Kampf ausgefochten. Er ist sturer als der halsstarrigste Magusch, aber ich habe es schließlich geschafft, ihm einige Zugeständnisse abzuringen – solange wir beide bereit sind, hierzubleiben.«
»Ich hoffe, du hast einen guten Grund, wenn du mit ihm paktierst«, brummte Maya.
»Es ist besser als nichts – und genau das hatte er mir ursprünglich angeboten.« D’arvan drückte ihre Hände. »Ich wollte, daß er die Nexianer freiläßt, aber das hat er rundheraus abgelehnt. Er wird jedoch Parric und Vannor gehen lassen, damit die beiden zurückkehren und Aurian helfen können … das heißt, wenn es mir gelingt, Vannor aus dieser bösen Trance zu befreien.«
»Ist das alles?« fauchte Maya. »Ich kann nicht behaupten, daß der Großmut deines Vaters mich bisher besonders beeindruckt hätte.«
D’arvan blickte jedoch zu Parric hinüber und sah in den Augen des Kavalleriehauptmanns ein wildes, freudiges und gleichzeitig verzweifeltes Licht aufflammen. Zu stolz, um für sich zu bitten, zu vernünftig, um die Diskussion mit Gefühlen zu beeinflussen, saß Parric völlig unbeweglich da. Es kostete ihn große Anstrengung, Schweigen zu bewahren – aber was er empfand, verrieten seine Augen.
»Da kommt noch mehr«, erklärte D’arvan Maya hastig. »Ich habe Hellorin erneut gebeten, den Xandim ihre menschliche Gestalt zurückzugeben – aber ich hatte keine Chance; er würde eher auf die Nexianer verzichten. Er ist aber bereit, Chiamh und Schiannath von ihrem Zauber zu befreien und sie mit Parric zurückkehren zu lassen.«
»Nein, wie großzügig!« rief Maya verbittert. »Und darf ich fragen, was dein Vater als Gegenleistung für diese großen Vergünstigungen erwartet? Soll ich für den Rest meines Lebens eine Sklavin bleiben? Da ist doch etwas, das du mir nicht gesagt hast – ich weiß es.«
»Nun – er sagt, er würde irgendwann deine Kette abnehmen …« D’arvan brachte sich vorsichtshalber in Sicherheit, wo ihr Schlag ihn nicht mehr treffen konnte. »Sobald wir zusammen einen Sohn hervorgebracht haben.«
»Er hat was gesagt?« Maya brach in schallendes Gelächter aus, aber D’arvan konnte spüren, daß sie nahe daran war, die Beherrschung zu verlieren. »Warum?« fragte sie. »Was, in Teufels Namen, will ein unsterbliches, allmächtiges, magisches Wesen mit einem verfluchten Erben?«
»Er will sein Reich ausdehnen.«
Mayas Gelächter verstummte sofort.
»Hellorin will, daß die Phaerie den ganzen nördlichen Kontinent beherrschen«, erklärte D’arvan. »Er möchte, daß Sprößlinge seines eigenen Blutes in verschiedenen Regionen in seinem Namen die Macht ausüben – auf diese Weise glaubt er, die widerspenstigen Sterblichen besser beherrschen zu können.«
Parric sah den Magusch voller Argwohn und unverhohlener Feindseligkeit an. »Und worin genau besteht deine Aufgabe in diesem großartigen Plan?« fragte er kalt.
D’arvan seufzte. Er hatte diesen Augenblick gefürchtet. »Er möchte, daß ich über Nexis herrsche«, antwortete er ruhig.
Parric trat, so heftig er es mit seinen nackten Zehen wagte, gegen die Wand der Hütte. »Dieser Verräter! Dieser dreimal verfluchte, hinterhältige, feige Überläufer! Ich hätte doch wissen müssen, daß wir einem verdammten Magusch nicht vertrauen können!«
»Zum letzten Mal, Parric – hältst du jetzt endlich den Mund?« fauchte Maya. »Wenn du nicht so ein Theater gemacht und die Wachen in Alarmbereitschaft versetzt hättest, du Narr, hätten wir mit ihm diskutieren können.«
»Was gibt es da zu diskutieren? Im Herzen ist er ein machthungriger Tyrann – genau wie der Rest seiner Brut.«
»Wie Aurian, meinst du?« Einen Augenblick lang glaubte Maya wirklich, er würde sie schlagen. Noch nie hatte sie einen solchen Zorn auf Parrics Gesicht gesehen. Aber obwohl sie sich gleichermaßen verraten fühlte, als D’arvan ihr die Neuigkeiten eröffnet hatte, bemühte sie sich jetzt, ihren Liebsten gegen Parrics heftige Angriffe zu verteidigen.
Der Kavalleriehauptmann, der sich nur mit Mühe beherrschen konnte, wandte sich voller Abscheu ab. »Wie kannst du da stehen und so etwas sagen!« fragte er mit schneidender Verachtung. »Im Gegensatz zu deinem kostbaren Phaeriehengst habe ich Aurian nie bei dem Versuch erlebt, eine ganze Rasse zu versklaven.«
»Es war nicht seine Idee!« rief Maya. »Du hast doch gehört, was er sagte – Hellorin wird uns so oder so versklaven! D’arvan wollte uns eine Chance geben …« Ihre Stimme erstarb, als ihr endlich die unausweichliche Wahrheit ihrer eigenen Worte aufging.
Licia, die eine unfreiwillige Zeugin des Streites war, nutzte den Augenblick. »Parric, ich möchte, daß du gehst. Sofort. Ihr könnt eure Diskussion später fortsetzen, wenn die Gemüter sich beruhigt haben.«
»Gern. Ich habe schon lange keine Lust mehr, diesem phaeriehörigen Abschaum zuzuhören.« Mit einem letzten giftigen Blick in Mayas Richtung stampfte Parric aus der Hütte, und bahnte sich fluchend seinen Weg durch die Schar Neugieriger, die sich in der Nähe der Tür versammelt hatten.
Maya stand wie eine Statue in der Mitte des Raums. Sie hatte eine Hand vor die Lippen gelegt, und ihr Blick schien nach innen gerichtet zu sein, so daß sie blind für ihre Umgebung war. »D’arvan ist unsere einzige Chance«, murmelte sie leise. »Unsere einzige, winzige Chance, Hellorin in seinem eigenen Spiel zu schlagen …« Sie war so tief in Gedanken versunken, daß sie gar nicht bemerkte, wie die Spitzenklöpplerin auf Zehenspitzen die Hütte verließ.
»Bitte … ich muß Lord D’arvan sprechen.« Maya versuchte ihren Ärger zu verbergen, als die Wachen am Tor hochnäsig auf sie herabschauten. Versuch wenigstens respektvoll auszusehen – es ist doch nur zu deinem Besten, mahnte sie sich, und dachte an den Schlag, den sie sich wenige Stunden zuvor eingehandelt hatte.
»Ah, Lord D’arvans kleines Schoßhündchen«, höhnte der weibliche Wachposten. »Sterbliche, du scheinst deinen Rang vergessen zu haben. Lord D’arvan wird schon nach dir schicken, wenn er dich sprechen will.«
»Aber …«
»Du wagst es, mir zu widersprechen, Sterbliche?« Die Augen der Wächterin funkelten vor Zorn. Sie machte eine merkwürdige Geste – und die Kriegerin fand sich plötzlich von Kopf bis Fuß von den gewaltigen Dornen einer Rose umklammert. Augenblicklich schlössen sich die biegsamen, grünen Reben um ihren Leib und schnitten schmerzhaft in Mayas Gliedmaßen, bis sie kaum noch Luft bekam. Als die Ranken sich weiter zuzogen, bohrten sich die langen, scharfen Dornen tief in ihr Heisch.
Maya fiel zu Boden und krümmte sich, so daß die unzähligen Krallen der Rose noch tiefer in ihre Haut drangen. Halb erstickt lag sie da und konnte nicht einmal schreien. Sie vernahm bereits ein schrilles Summen in den Ohren, und eine funkelnde Schwärze trat ihr vor die Augen …
»Du erbärmliche Kreatur, laß sie los!«
Das Brüllen war so laut und zornerfüllt, daß es sogar bis in die tiefe, dunkle Grube drang, in der Maya sich in Qualen wand. Sie hörte ein wildes, sirrendes Geräusch, dann ein lautes Krachen, das wie eine gewaltige Explosion klang, und schließlich einen Schmerzensschrei. Mit einemmal waren die erstickenden Dornen verschwunden, und Maya rang dankbar nach Luft. Mit einem lauten Knall schwang das Tor auf, und ihr Blick wurde langsam wieder klar. D’arvan kniete über ihr, und in seinen diamanthellen Augen standen Zorn und ungeweinte Tränen.
Als der Magusch sie vom Boden aufhob und sie von der Sklavenhöhle wegtrug, fiel Mayas Blick auf den weiblichen Wachposten, der in sich zusammengesunken vor der Mauer lag. Das Gesicht der Frau wurde von einem blasigen Brandmal entstellt, als hätte man sie mit einer feurigen Peitsche geschlagen.
»Nie wieder«, stieß D’arvan hervor. »Nie, nie wieder!« Er hob die Stimme. »Hört mich an, ihr Phaerie!« rief er mit rauher Stimme. »Wenn einer von euch dieser Frau jemals auch nur ein Haar krümmt – wenn er sie auch nur unfreundlich ansieht, werde ich ihm jeden Zoll Heisch von seinen erbärmlichen Knochen brennen. Ich bin der Sohn des Waldfürsten – ihr wißt, daß ich dazu fähig bin. Und um euretwillen solltet ihr mir besser glauben, daß ich es auch tun werde.«
Maya wollte ihm sagen, wie froh sie war, ihn zu sehen, aber im Augenblick fehlte ihr dazu der Atem.
Als er sie auf das Sofa im Turmzimmer legte, keuchte Maya vor Schmerz auf; selbst der seidige Stoff bereitete ihrem zerschundenen Heisch neue Qual. Ihr bleicher Körper war mit Verletzungen übersät, und jeder qualvolle Atemzug schmerzte sie. Obwohl D’arvan kein Heilkundiger war, hatte die Lady Eilin ihm doch die Techniken beigebracht, die man benötigte, um Schmerz zu unterdrücken, Blutungen zu stillen und einfache Wunden zu schließen. Es genügte jedoch nicht, um seine Schuldgefühle zu tilgen. Als die Anspannung des Schmerzes langsam aus Mayas Zügen wich, sprang D’arvan auf und lief in dem Turmzimmer auf und ab. Er fühlte sich außerstande, sich der Verdammung zu stellen, die schon bald in ihren Augen aufflackern würde. »Ich würde dir keinen Vorwurf machen, wenn du mich haßt«, brachte er schließlich kläglich hervor. »Es ist alles meine Schuld. Ich hätte nie zulassen dürfen, daß sie dich wieder zu den anderen brachten.«
»Rede nicht so dummes Zeug, mein Liebster – dafür haben wir keine Zeit.«
Erstaunt fuhr D’arvan herum. Maya hielt ihm die Hand hin, und in ihrem Gesicht stand ein Ausdruck liebevoller Verzweiflung. »Komm her und setz dich«, sagte sie mit heiserer, rauher Stimme. »Das heißt, wenn ich es mir recht überlege, bring mir erst etwas zu trinken – und setz dich dann.«
»So«, sagte sie, als er ihren Wunsch erfüllt hatte, »laß uns diese Sache ein und für allemal aus der Welt schaffen. Es ist nicht deine Schuld, daß dein Vater seine Sklaven so behandelt, und es war nicht deine Schuld, daß man uns in die Höhle zurückgebracht hat – das lag daran, weil dieser Heißsporn Parric die Fassung verloren hat.«
»Ich hätte eher zu dir kommen müssen …«
»D’arvan, halt den Mund. Es ist geschehen – und zumindest wird diese Wächterin es sich in Zukunft zweimal überlegen, bevor sie Sterbliche mißhandelt.« In ihren Augen blitzte boshafte Schadenfreude auf. »Es gefällt mir übrigens, was du mit ihrem Gesicht gemacht hast ich hoffe, sie hat ihre Lektion gelernt.« Sie drückte ihm fest die Hand. »So, und nun hör mir zu. Ich habe nachgedacht …«
D’arvan verspürte bei ihren Worten einen Hauch von Unwohlsein – wie ein Finger aus Eis, der sein Rückgrat hinunterstrich. Er kannte Maya gut, und ihr energischer, sachlicher Tonfall ließ darauf schließen, daß ihm ihre nächsten Worte nicht im mindesten gefallen würden. Er blickte in das geliebte Gesicht und wünschte, er könnte dem Strom dessen, was sie nun sagen würde, Einhalt gebieten. Aber er wußte schon jetzt, daß es unmöglich sein würde, unmöglich und unklug.
»Gehe ich recht in der Annahme, daß man Phaeriemagie braucht, um die Xandimpferde fliegen zu lassen?« fragte Maya.
D’arvan nickte. Die Richtung, die ihre Gedanken einschlugen, überraschte ihn. »Die Magie liegt sowohl bei den Pferden, als auch bei den Phaerie. Sie können nur gemeinsam fliegen.«
Maya biß sich auf die Lippen und wandte den Blick von ihm ab. Sie starrte aus dem Fenster, als faszinierten sie die Schatten des von Lampen erleuchteten Raums vor dem Hintergrund des schwarzen Mitternachtshimmels. »Dann kannst du es tun«, sagte sie endlich.
»Was tun?«
Maya umklammerte seine Finger mit eisernem Griff, und ihr Gesicht glühte vor Aufregung. »D’arvan, geh zurück zu Hellorin und verhandle noch einmal mit ihm. Du mußt zu Aurian zurückkehren, und du mußt Chiamh und Schiannath mitnehmen. Fliegende Rösser sind für Aurian vielleicht genau der Trumpf, dessen sie noch bedarf.«
»Weib, hast du den Verstand verloren?« explodierte D’arvan. »Hast du mir nicht zugehört, als ich dir alles erklärt habe? Hellorin möchte, daß ich bleibe und Nexis regiere. Ich bin sein Erbe, wie er sich ausdrückt – sein einziger Sohn. Er wird mich auf keinen Fall noch einmal entfliehen lassen!«
»Er wird es, wenn ich als Geisel für deine Rückkehr zurückbleibe«, wandte Maya halsstarrig ein.
D’arvan bedachte sie mit einem finsteren Blick, in dem sich Zorn und Erschrecken mischten. »Maya, wenn du auch nur einen Augenblick lang denkst, ich würde eine Wiederholung der heutigen Ereignisse riskieren …«
Mayas Augen blitzten schelmisch auf. »Aber ich habe mir etwas ausgedacht, wie Hellorin seinen Erben behalten und ich gleichzeitig für meine Sicherheit sorgen kann. Niemand würde es wagen, mir ein Leid zuzufügen, D’arvan – nicht wenn ich dein Kind unterm Herzen trüge.«