20 Wiedersehensfreude

Der Morgen war grau, und ein feiner Regen, getrieben von einem launischen Wind, fegte über das Tal; der Wind verwandelte die Oberfläche des Sees in feingeriffeltes Zinn. Eilin schlüpfte lautlos aus dem Turm, darauf bedacht, nur ja kein Geräusch zu verursachen – obwohl nur die Götter wissen, warum ich mir solche Mühe gebe, dachte sie trocken. In der vergangenen Nacht waren so viele Geschichten erzählt und so viele Pläne geschmiedet worden, und alle waren so spät zu Bett gegangen, daß ihre Vorsicht kaum notwendig zu sein schien. Eilin war die einzige, die überhaupt nicht geschlafen hatte, und nun gewann sie den Eindruck, als sei sie der einzige Bewohner dieses Planeten.

Als sie die den Elementen preisgegebene Brücke überquerte, nahm der Wind an Kraft noch zu. Eilin zog sich die Kapuze ihres braunen Umhangs tiefer in die Stirn, damit sie ihr nicht ständig vom Kopf geweht wurde. Es war nicht der richtige Morgen für einen Spaziergang, aber sie brauchte den Trost ihres geliebten Tals. Sie wollte nachdenken – aber im Grunde gab es kaum etwas zu überlegen. Yazour würde heute morgen mit den anderen fortgehen – ja, er würde sogar Wolf und Iscalda mitnehmen. Er wollte mit Aurian in seine südliche Heimat zurückkehren, und sie, Eilin, würde ihn nie wiedersehen. Wieder einmal würde sie allein sein, so wie sie es den größten Teil ihres Lebens gewesen war. Und genau wie damals bei Aurian, würde sie auch dieses Kind allein großziehen müssen.

Warum, dachte die Magusch verzweifelt. Warum passieren mir immer wieder solche Dinge? Nach Geraints Tod hatte sie sich geweigert, auch nur den Gedanken an einen anderen Seelengefährten in Betracht zu ziehen. Nie wieder hatte sie einen solchen Verlust erleben wollen – und, wie recht sie damit hatte! Trotzdem fühlte sie sich von Anfang an zu ihm hingezogen – von jenem allerersten Tag an, an dem er Iscalda und den kleinen Wolf zu ihr gebracht hatte. Damals war ein Funke zwischen ihnen aufgesprungen – aber sie hätte niemals zulassen dürfen, daß dieser Mann sie derart bezauberte. Der junge Krieger hatte lange gebraucht – fast zwei Jahre –, um sie für sich zu gewinnen, aber – bei Iriana –, wie hartnäckig er gewesen war! In mancher Hinsicht schien er älter zu sein, als seine Jahre es vermuten ließen – er war stark, tüchtig und verläßlich, und sogar inmitten ihrer Gefühlsstürme und Zweifel hatte er immer die Ruhe bewahrt. Trotzdem war er auf andere Weise so jung gewesen, so voller Begeisterung und Lebensfreude … Er hat mir meine Jugend wiedergegeben, dachte Eilin. Er hat mir so viele verlorene Jahre zurückgegeben. Und sie war mit offenen Augen in ihr Unglück gerannt, hatte sich sogar von dem Gedanken an ein zweites Kind hinreißen lassen … Oh, Eilin, du Närrin. Du arme, mitleiderregende alte Närrin!

Es war zu feucht und zu windig für einen Spaziergang. Eilins Umhang konnte wenig gegen die Feuchtigkeit und Kühle des Morgens ausrichten. Die Magusch suchte Zuflucht in dem Birkenwäldchen auf der landeinwärts gelegenen Seite der Brücke und lehnte sich gegen den kräftigen, trostspendenen Stamm eines tropfnassen Baumes. Zum ersten Mal bemerkte sie nun, daß die Blätter langsam gelb wurden. Ja, der Sommer war wahrhaftig zu Ende.

Nun, sie besaß genug Mut und Entschlossenheit, um ihrem Verlust ins Auge zu sehen. Nur die Götter wußten, daß sie auch genug Übung darin hatte. Sie würde nichts tun, um Yazour zu behindern oder festzuhalten – er mußte seinem eigenen Weg folgen und gehen, wohin sein Herz ihn führte. Sie hatte gestern nacht sein Gesucht gesehen, als sie mit D’arvan, Parric und den anderen gesprochen hatten – hatte den Kampf gesehen, den zu verbergen er sich bemühte. Er wollte Aurian helfen, wollte wieder mitten im Gedränge der Ereignisse stehen: wollte in die Welt zurückkehren, die Welt mit ihren Aufregungen und Verlockungen. Und wer konnte ihm einen Vorwurf daraus machen? Obwohl sie jetzt seit fast zehn Jahren zusammen waren, war er immer noch jung genug, um diese Dinge zu begehren.

Zumindest hatte Eilin seinen Sohn – und bei Currain würde sie gewiß nicht denselben Fehler machen, den sie bei Aurian gemacht hatte. Dieses Kind sollte keine verbitterte und nachlässige Mutter haben. Und es war ja auch nicht so, als wäre Yazour tot und unerreichbar wie Geraint. Wer weiß, dachte die Magusch – vielleicht wird er eines Tages zurückkehren … Zornig schalt sie sich eine Närrin, daß sie sich an solche Träume klammerte. Natürlich würde er nicht zurückkehren! Er würde nach Hause gehen, zu seinem eigenen Volk, in sein eigenes Land … Mit einem Seufzen drehte die Magusch sich um und kehrte zum Turm zurück, zwang sich, Haltung anzunehmen, um Yazour Lebewohl zu sagen.

Es regnete immer noch, als alle, bereit zum Abschied, den Turm verließen und die Brücke überquerten. Yazour blieb hinter den anderen zurück, weil er als letzter fortgehen wollte. Er wollte sich jede Einzelheit des Heims einprägen, das er und Eilin gemeinsam aufgebaut hatten, er mit seiner Kraft und sie mit ihrer Magie. Das ist doch lächerlich, sagte er sich. Es ist nur für kurze Zeit – wenn all das vorüber ist, wirst du zu Eilin und Currain zurückkehren, und alles wird sein wie zuvor. Wenn du dich bei diesem Abenteuer nicht umbringst, sagte eine leise Stimme ganz hinten in seinem Kopf. Wenn du dich nicht wieder in den Süden verliebst und dieses harte, feuchte Klima des Nordens endgültig hinter dir lassen willst. Wenn sich nicht hundert Dinge verschwören, dich von hier fernzuhalten.

Das schlimmste war, daß Eilin nichts getan hatte, um ihn aufzuhalten. Wenn sie geweint oder ihn angefleht hätte, hätte er vielleicht Grund gehabt, ihr zu grollen. Hätte sie ihm nur ein Zeichen gegeben, daß es ihr überhaupt etwas ausmachte … Nein, das war nicht gerecht. Sie beide waren nun so lange zusammen, daß er wußte, wie unglücklich sie bei dem Gedanken war, daß er sie verließ – und wie felsenfest ihre Entschlossenheit war, es ihn nicht merken zu lassen. Er bewunderte ihren Mut – es war wirklich nicht weiter erstaunlich, daß die Tochter dieser Frau eine so großartige Kriegerin geworden war.

»Yazour, kommst du endlich?« Parric winkte ihm von der anderen Seite der Brücke ungeduldig zu, und der Krieger machte sich mit einem Seufzen auf den Weg. Currain sah ihm nach – mit dem Instinkt eines Kindes begriff er, daß etwas nicht in Ordnung war. Auch Wolf starrte ihn an, und die feinen Härchen in seinem Nacken hatten sich aufgestellt. Obwohl Yazour sich nicht wie Eilin mit Hilfe der Gedankenrede mit Wolf verständigen konnte, zweifelte er keine Sekunde lang daran, daß Aurians Sohn seine Entscheidung mißbilligte.

Die drei Xandim standen nebeneinander. Nach so langer Zeit in Pferdegestalt warteten sie bis zum allerletzten Augenblick, bevor sie die Verwandlung abermals vornahmen. Eilin überschüttete D’arvan und Iscalda mit Nachrichten und Ratschlägen, die sie an Aurian weitergeben sollten. Sie sah kaum einmal in Yazours Richtung, aber Chiamh schlenderte zu ihm hinüber. »Yazour, du machst einen großen Fehler«, zischte er dem Krieger ins Ohr. »Wir sind genug, um Aurian zu helfen – einer mehr spielt keine große Rolle. Dein Platz ist hier. Dein Herz ist hier.«

Es war Zeit zu gehen. Chiamh, Schiannath und Iscalda entfernten sich ein Stück von den anderen und nahmen ihre Verwandlung vor. Yazour bemerkte, daß Currain, der sich an die Hand seiner Mutter klammerte, das Geschehen mit offenem Mund verfolgte. Mit einem Gefühl, als würde ihm das Herz aus dem Leibe gerissen, ging er zu seiner Familie, um sie ein letztes Mal zu umarmen. »Ich komme zurück«, sagte er zu Eilin. »Ich komme so bald wie möglich zurück – ich schwöre es.«

»Natürlich tust du das.« Sie konnte die Lüge in ihrer Stimme hören. »Gib acht auf dich«, fügte sie hinzu. »Und sag Aurian, daß ich sie liebe.« Ihre Mundwinkel zuckten, und ein schiefes Grinsen machte sich auf ihrem Gesicht breit. »Erzähl ihr von ihrem Bruder – dann brauche ich es nicht mehr zu tun.«

»Das mache ich«, versicherte Yazour ihr. »Und gib du auch acht – auf dich und auf Currain.« Als er sie verließ, hatte er das Gefühl, als reiße er sich selbst in Stücke. Der Junge war noch zu klein, um zu verstehen – er winkte seinem Vater ernsthaft nach, so wie er es immer tat, wenn Yazour auf die Jagd ging oder den Turm verließ, um irgendeine Kleinigkeit zu erledigen.

Die anderen warteten. D’arvan hatte Wolf vor sich auf den Sattel gehievt und hielt das Tier fest, während er sich über den Widerrist des Pferdes beugte. Es war unverkennbar, daß weder Wolf noch Chiamh mit der Situation besonders glücklich waren. Es ließ sich jedoch nichts daran ändern. Obwohl Wolf und seine Großmutter sich nur widerstrebend voneinander trennten, hatte Eilin in der vergangenen Nacht entschieden, daß er zu seiner Mutter gehen solle. So bestand wenigstens eine kleine Chance, daß sie ihn von seinem Fluch würde erlösen können. Dennoch hatte es einiger Überredungskraft und erstaunlicher Beharrlichkeit ihrerseits bedurft, um ihren Enkelsohn zu überzeugen. Der Junge konnte, wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, genauso stur sein wie seine Mutter.

Parric war wie zuvor auf Schiannaths Rücken gestiegen, so daß die beiden ehemaligen Herdenführer zusammen waren. Er hielt die schlaffe Gestalt Vannors vor sich im Sattel fest. Eilin hatte es ebensowenig wie D’arvan vermocht, dem Kaufmann zu helfen, obwohl sie immer noch hofften, daß Aurian, die in die Künste des Heilens tiefer eingeweiht war als sie beide, ihn vielleicht aus seinem selbstgewählten Gefängnis würde befreien können.

Yazour ging mit langen Schritten durchs Gras, dorthin, wo die geduldig wartende Iscalda stand. Er sah Eilin ein letztes Mal an, setzte sich rittlings auf den Rücken der weißen Stute – und biß sich auf die Zunge, als Iscalda unter ihm zu einem wilden, hufeschleudernden Wirbel explodierte. Obwohl er ein guter Reiter war, hatte Yazour nicht die leiseste Chance, sich auf ihrem Rücken zu halten. Iscalda war fest entschlossen. In wenigen Sekunden lag der Krieger mit dem Rücken im Gras und stieß grimmige Flüche aus.

»Ich glaube, sie versucht dir etwas zu sagen«, bemerkte Parric trocken.

»Etwas, das du bereits weißt«, warf D’arvan ein.

Yazour rappelte sich mühsam hoch. Dann drehte er sich wieder zu Iscalda um, aber sie hatte die Ohren angelegt und sah ihn mit gebleckten Zähnen an. Nach und nach breitete sich ein Grinsen tiefster Erleichterung und Freude auf Yazours Gesicht aus.

»Wenn ich auch nur einen Augenblick lang glaubte, daß Aurian ohne dich nicht zurechtkäme, würde ich es dir sagen«, verschaffte Parric sich von neuem Gehör. »Bei Chathaks Hosen, Mann! Geh und sei glücklich! Tu es für uns alle.«

Der Krieger nickte. »Die ganze Zeit über hat mir mein Herz gesagt, daß ich bleiben soll. Ich wollte nicht gehen – aber ich hielt es für meine Pflicht.« Er lachte und ihm war mit einemmal unendlich leicht ums Herz. Es war, als sei ihm eine schwere Last von den Schultern genommen. »Ausnahmsweise einmal werde ich euren Rat annehmen. Gehabt euch wohl, meine Freunde – und küßt Aurian für mich.«

Yazour streckte die Hände nach Eilin aus, und die Magusch trat mit glühendem Gesicht einen Schritt vor, um sie zu ergreifen. Obwohl das Tal noch immer von einem unsteten Wind und einem leichten Nieselregen heimgesucht wurde, schien es dem Krieger, als wolle der Tag nun heller werden.

Aurian öffnete die Augen. Eine Sekunde lang befand sie sich immer noch Zwischen den Welten, bei dem Tod – und bei Anvar. Dann erkannte sie ihre Umgebung und begriff, daß sie wieder in der Nachtfahrerzuflucht war, wenn auch nicht in dem Zimmer, das man ihr ursprünglich zugewiesen hatte. Außerdem schmerzte ihr Körper von Kopf bis zu den Zehen, und jedes Fetzchen Haut, das ihre Kleider nicht geschützt hatten, war von kleinen Schürfwunden bedeckt. Auf ihren Füßen ruhte ein beachtliches Gewicht – Shia hatte sich ans Fußende des Bettes gelegt, und Aurian wußte, daß Khanu nicht weit sein konnte. Als sie den Kopf umwandte, sah sie Forral in dem Bett zu ihrer Linken, während auf der anderen Seite Grince lag. Dann sind wir also in einer Art Krankenstube, dachte sie benommen. Na schön. Die Magusch bückte nach oben und sah den Bussard, für dessen Rettung sie ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatte, auf dem Geländer am Kopfende des Bettes kauern. Mit einemmal fiel eine Spannung, von deren Existenz sie bis dahin gar nichts gemerkt hatte, von der Magusch ab. Sie legte sich behaglich in ihre Kissen zurück und überließ sich abermals dem Schlaf.

Als Aurian das nächste Mal erwachte, saß Zanna an ihrem Bett. »Endlich!« rief sie lächelnd. »Ich habe schon befürchtet, du würdest die nächsten ein oder zwei Jahrhunderte verschlafen. Selbst deine treuen Katzen sind auf die Jagd gegangen, um sich etwas zu essen zu beschaffen.«

Zanna machte es sich in ihrem Sessel bequemer. Obwohl sie eine erwachsene Frau war, erkannte die Magusch eine grimmige Entschlossenheit in ihren Augen, die sie an das junge Mädchen von einst erinnerte, das sie, Aurian, wie eine Heldin verehrt hatte. »Also«, sagte die Nachtfahrerin kategorisch, »ich will wissen, was du mir verschweigst. Nach allem, was seit deiner Ankunft passiert ist, hatten wir natürlich keine Zeit für Erklärungen, aber selbst in Anbetracht der Umstände warst du nicht gerade mitteilsam. Und als nächstes bist du dann zu dem Stein auf und davon. Ich habe dir vertraut, als du sagtest, du müssest gehen, aber jetzt will ich mehr wissen. Warum ist Finbarr so schweigsam? Was ist mit Anvar los – er ist ja gar nicht er selbst. Und irgend etwas stimmt zwischen euch beiden nicht, soviel steht fest.« Sie legte die Stirn in Falten. »Was ist dort oben auf dem Hügel passiert, Aurian? Soweit wir wissen, hat dieser Stein seit der Verheerung dort gestanden – dann kommst du daher und binnen weniger Stunden verschwindet nicht nur der Stein, sondern der ganze Hügel.« Sie verfiel in Schweigen und wartete mit gespannter Miene auf Aurians Antwort.

Aurian seufzte. »Bei den Göttern, Zanna, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll …«

Es dauerte eine gute Stunde, bis sie der Nachtfahrerfrau die ganze Geschichte erzählt hatte. Zanna hörte zu und sagte nichts, obwohl Aurian sehen konnte, daß sie gelegentlich geradezu darauf brannte, ihre Erzählung zu unterbrechen. Als Aurian endlich fertig war stieß sie einen langgezogenene Pfiff aus. »Bei allen Göttern – das ist ja unglaublich! Aurian …« Sie beugte sich vor und legte der Magusch eine Hand auf den Arm. »Was du über Forral und Anvar gesagt hast und über den Kessel der Wiedergeburt – glaubst du, das könnte auch meinem Vater widerfahren sein?«

»Warum fragst du?«

»Nun …« Zanna erzählte Aurian von Vannors Vergiftung und von der alten Frau, die zu ihnen gekommen und ihn auf wundersame Art und Weise geheilt hatte. »Und danach war er irgendwie verändert«, sagte sie traurig. »Es ist schwer zu erklären, aber er war nie wieder derselbe.« Sie zögerte. »Aurian – glaubst du, diese alte Frau könnte Eliseth gewesen sein? Und wenn ja, was hat sie dann meinem Vater angetan?«

Aurian runzelte die Stirn. »Wer kann das sagen, Zanna? Aber mir erscheint diese Lösung des Rätsels sehr wahrscheinlich. Was deine Frage betrifft, wie sie es geschafft hat, ihn zu verwandeln – nun, da habe ich keine Ahnung. Nach allem, was du sagst, scheint es jedoch nicht wie bei Forral und Anvar zu einem Austausch gekommen zu sein. Aber irgend etwas ist trotzdem geschehen – und was es auch war, du kannst sicher sein, daß nichts Gutes daraus entstanden ist.«

»Wenn er noch lebt«, murmelte Zanna, »würde ich jedes Risiko eingehen, glaub mir.«

Hinsichtlich des Bussards mußte sie sich geirrt haben. Als Aurian das dritte Mal erwachte und der Vogel fort war, fiel es ihr schwer, ihre Enttäuschung zu verbergen.

Sie war sich so sicher gewesen … Nun, ich weiß selbst nicht, warum ich so töricht war, schalt sich die Magusch. Na schön, es war also das einzige Geschöpf in der Nähe, als du wieder zu dir kamst. Und du warst dir sicher, daß Anvar dich begleitet hätte. Nun gut, das Geschöpf schien tot zu sein – und dann hat es sich bewegt … Aber ein Bussard! Du Närrin! Ist es für einen menschlichen Geist überhaupt denkbar, die Gestalt eines Vogels anzunehmen? Dann dachte sie an Chiamh, Wolf und an Maya, in Gestalt eines unsichtbaren Einhorns. Wenn all diese Dinge möglich waren, warum nicht auch ein Vogel?

Grince und Forral waren bereits aufgestanden, und die Nachtfahrerheilerin Emmie meinte, Aurian könne nun dasselbe tun. »Weißt du, was mit dem Bussard geschehen ist, der hier war?« fragte Aurian die Nachtfahrerin; dann kletterte sie mit steifen Gliedern aus dem Bett und begann sich unbeholfen anzukleiden.

Die Frau machte ein trauriges Gesicht. »Lady, es tut mir leid«, sagte sie. »Das arme Geschöpf sah so krank aus, daß ich es mit hinunter in die Küche genommen habe, um es zu füttern. Als ich die Hafenhöhle durchquerte, hat es einfach die Flügel ausgebreitet und ist hinaus aufs Meer geflogen.«

Aurians Herz schmerzte vor Enttäuschung. Sie wandte sich von Emmie ab, damit die Frau ihr Gesicht nicht sehen konnte. Diese Sache war also erledigt. Es konnte nicht Anvar gewesen sein – warum hätte er sie sonst verlassen? Aurian, die sich unglaublich töricht vorkam, zwang sich zu einem strahlenden Lächeln und wandte sich wieder an die Heilerin. »Ach, egal. Wahrscheinlich geht es ihm da, wo er jetzt ist, besser.«

Als die Magusch in ihr Quartier zurückkehrte, wartete Forral bereits auf sie. Sie warf nur einen einzigen Blick auf sein Gesicht, und in Anvars blauen Augen flammte kalter Zorn auf; plötzlich wünschte sie, sie wäre in der Krankenstube geblieben.

»Ich will endlich wissen, was du dir dabei gedacht hast!« Forral ging, unfähig seines Ärgers Herr zu werden, in dem Raum auf und ab. »Du hättest uns beinahe alle umgebracht!«

»Es ist nicht nötig, das Offensichtliche festzustellen«, gab Aurian mit blitzenden Augen zurück. »Es ist deine eigene Schuld, daß du überhaupt da warst. Ich habe dich nicht gebeten, mir zu folgen. Und falls es dich überhaupt etwas angeht, ich wollte herausfinden, was Eliseth im Schilde führt.«

»Indem du dich in Trance fallen läßt und wie eine Tote dagelegen hast? Konntest du sie nicht einfach mit deiner Hellseherkugel suchen, oder was immer ihr Magusch für solche Zwecke benutzt?«

»Es gibt gute Gründe dafür, warum das nicht möglich war«, schrie Aurian ihn an. »Du bist kein Magusch – du hast nicht die leiseste Ahnung, wovon du redest! Anvar hätte sofort begriffen …«

Ihre Worte lagen zwischen ihnen wie ein blankes Schwert.

»Ah, darum geht es also – schon wieder dieser verfluchte Anvar!« fauchte Forral. »Vielleicht hast du ja einfach versucht, dich umzubringen, damit du ihm folgen konntest …«

»Und vielleicht hast du recht«, sagte Aurian tonlos. »Genau das ist nämlich passiert, als ich dich verlor.«

»Was?« Forral hielt in seinem wilden Marsch kreuz und quer durchs Zimmer inne und starrte sie an.

»Es stimmt«, stieß Aurian zornig hervor. »Ich hätte mich in der Nacht, als du getötet wurdest, beinahe ertränkt, und in den Tagen – oder genauer gesagt den Monaten –, nachdem ich dich verloren hatte, bin ich die größten Risiken eingegangen. Es war Anvar, der mich schließlich davon abgehalten hat – er hat mich beschützt und auf mich achtgegeben, bis ich wieder klar denken konnte.«

»Nun, ich hoffe, du warst nicht genauso wütend auf ihn wie jetzt auf mich, weil ich dasselbe tun will.«

Aurian starrte ihn mit offenem Mund lange an. Ganz langsam fiel der Zorn von ihr ab. »Verflucht«, sagte sie trocken. »Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen. Du hast wirklich recht – ich habe ihm das Leben damals furchtbar schwergemacht.«

»Gut«, sagte der Schwertkämpfer entschlossen. Dann wandte er sich von ihr ab, damit sie sein Gesicht nicht sehen konnte. »Das ist jedenfalls ein Trost«, murmelte er.

»Was?« Aurian war sich nicht sicher, ob sie richtig gehört hatte. »Warum, um alles in der Welt, sagst du so etwas?«

Forral fuhr zu ihr herum und funkelte sie zornig an. »Weil ich eifersüchtig auf ihn bin, darum«, brüllte er. »Irrsinnig, mörderisch eifersüchtig … Dieser Bastard hat dein Lager geteilt – du hast ihn geliebt …« Mit drei schnellen Schritten kam er auf sie zu. Dann packte er die Magusch bei den Schultern, daß sie vor Schmerz aufkeuchte, bedeckte ihren Mund mit seinem eigenen und küßte sie, bis sie nach Luft rang.

Einen Augenblick lang wehrte Aurian sich gegen ihn – und dann war es nicht mehr wichtig. Sie hatte es satt, gegen diese verrückte Situation anzukämpfen. Er war Forral, er war Anvar – die beiden Männer, die sie geliebt und die sie betrauert hatte. Und sie wollte ihn, wollte beide – was auch immer. Wild erwiderte sie seine Küsse, und einen Augenblick später zerrten sie an ihren Kleidern. Forral nahm sie in die Arme und warf sie mit einem triumphierenden Lachen aufs Bett, und Aurian zog ihn zu sich herab. Dieses erste Mal liebten sie sich mit grimmiger Wildheit und sprengten all die Mauern weg, die sich zwischen ihnen aufgetürmt hatten. Noch bevor das Echo jener ersten wilden Leidenschaft erstorben war, liebten sie sich erneut, diesmal sanfter und mit unendlicher Zärtlichkeit.

Als es vorüber war, lagen sie sich erschöpft in den Armen; Forral sah sie fragend an, und die Magusch war gerührt, als sie Tränen in Anvars leuchtend blauen Augen entdeckte. »Ich bedeute dir also immer noch etwas«, wisperte er.

Aurian seufzte. »Du verdammter Narr«, sagte sie leise. »Natürlich tust du das.«

Irgend jemand hämmerte an die Tür. Aurian drehte sich um und stieß ein unwilliges Geräusch aus, denn sie hatte nicht die Absicht, sich schon jetzt aus ihren glücklichen Träumen reißen zu lassen. »Geh weg«, rief sie.

»Wach auf!« Es war Zannas Stimme. »Schnell! Du mußt kommen – warte nur, bist du siehst, wer hier ist! D’arvan und Parric und Chiamh und …« Ihre Stimme brach. »Oh, Aurian, sie haben Vater bei sich!«

Aurian sprang aus dem Bett und rannte zur Tür. Forral war fast noch schneller als sie. Als sie sie öffneten, bot Zannas Gesicht einen bemerkenswerten Anblick. Sie schaute von einem zum anderen. »Ich weiß, ich habe gesagt, es wäre eilig«, meinte sie schwach, »aber ich glaube, so viel Zeit hättet ihr doch, daß ihr euch vorher noch etwas anziehen könnt.«

Als sie durch die Tür zum Gemeinschaftsraum trat, machte Aurians Herz beim Anblick Chiamhs einen Satz. Auch sein Gesicht leuchtete auf, als er sie sah. Ihr Wiedersehen ging ohne Tränen oder Gelächter vonstatten; sie fielen einander einfach mit stiller Freude und wahrer, tiefer Dankbarkeit in die Arme. »Ich bin so glücklich, dich zu sehen«, sagte Aurian leise. »Ich hätte nie gedacht, dich noch einmal in Menschengestalt zu erblicken – und es war alles meine Schuld, weil es mir nicht gelungen ist, das Schwert der Rammen zu erobern und die Phaerie zu beherrschen.«

»Nein«, widersprach ihr das Windauge. »Du darfst dir keine Vorwürfe deswegen machen. Es war der Waldfürst, der uns in unserer Pferdegestalt gefangengehalten hat – er hat uns weder gebeten zu wählen, noch ihm zu helfen – er hat uns in unserer Menschengestalt nicht einmal eines einzigen Blickes gewürdigt. Hellorins Sohn ist weit klüger als sein Vater«, fügte er hinzu. »Er war es, der mit einem Handel unsere Freiheit erwirkt hat.«

Chiamh warf einen Blick über die Schulter der Magusch und betrachtete die unauffällige, graue Gestalt, die sich scheu in einer dunklen Ecke hielt. »Komm mit«, sagte er zu Aurian. »Ich habe hier jemanden, der dich unbedingt kennenlernen möchte.«

Einen Augenblick lang hörte ihr Herz auf zu schlagen. »Wolf?« flüsterte sie. »Wolf?«

Dann drangen die Gedanken des großen, grauen Tieres in der Ecke klar und deutlich zu ihr durch. »Mutter?«

Die Magusch wäre am liebsten auf ihren Sohn zugerannt, um ihn an sich zu pressen, aber irgend etwas – eine Spur von Zurückhaltung oder Zweifel in seiner Gedankenstimme Heß sie zögern. Sie war froh, daß ihnen diese Möglichkeit der Gedankenrede zumindest ein gewisses Maß an Ungestörtheit in dem überfüllten Raum gab. »Wolf, ich kann nicht glauben, daß du endlich hier bist«, sagte sie zu ihm. »Ich habe so lange auf diesen Augenblick gewartet. Es gibt so viel …«

»Ich erinnere mich nicht an dich.« Der Wolf sah sie kalt an. »Und ich will nicht hier sein. Meine Großmutter hat gesagt, ich muß kommen.«

Übelkeiterregendes Entsetzen umklammerte Aurians Magen wie eine eiserne Faust. Alle anderen im Raum nahmen von dem Gespräch zwischen Mutter und Sohn nichts wahr, und Aurian hatte alle Mühe, ihren Schmerz zu verbergen.

»Gib ihm Zeit, Aurian.« Es war Chiamhs Stimme. »Das alles ist sehr befremdend für ihn. Ihr beide werdet einander noch einmal ganz von vorne kennenlernen müssen.«

Gedankt sei den Göttern für die Weisheit und Freundlichkeit Chiamhs – er war ein wahrer Freund. Und er hatte natürlich recht.

»Es tut mir leid, daß du so empfindest«, sagte die Magusch ernst zu Wolf. »Es ist immer schlimm, von zu Hause fortzugehen – vor allem beim ersten Mal.«

»Du scheinst dich ja gut darauf zu verstehen. Du bist von mir fortgegangen.«

Mit diesen Worten floh der Wolf aus dem Zimmer. Aber bevor er durch die Tür schoß, prallte er mit einem zornigen Fauchen gegen Forral und warf ihn mit seinem Schwung zu Boden. »Was, zum Kuckuck, war das?« fragte der Schwertkämpfer, als er sich wieder hochrappelte.

»Dieses ungebärdige Geschöpf«, sagte Aurian mit einer schiefen Grimasse, »war dein Sohn.«

Forral sah sie mit maßlosem Erstaunen an. Dann hob er die Augen himmelwärts. »Großer Chathak, steh uns bei«, murmelte er. »Wie legt man einen Wolf übers Knie?«

Chiamh betrachtete die vertraute Gestalt von Aurians Gefährten. Er hatte irgend etwas an sich … Schnell wechselte das Windauge zu seiner Andersicht – und bemerkte, daß die strahlende Aura der Lebenskraft des Mannes sich vollkommen von der unterschied, die er in Erinnerung hatte. Das Windauge war zu schockiert, um taktvoll zu sein. »Das ist nicht Anvar«, stieß er hervor.

Schiannath sah ihn seltsam an. »Wovon redest du, Chiamh? Kaum hast du deine Menschengestalt wiedergefunden, und schon fängst du wieder mit diesem schauerlichen Windaugen-Unfug an. Natürlich ist das Anvar! Das sieht man doch!«

Der Schwertkämpfer sah Schiannath direkt in die Augen. »Nein, er hat recht«, sagte er kühn. »Ich bin nicht Anvar. Mein Name ist Forral.«

Oh, vielen Dank, Forral. Vielen Dank, daß du es ihnen schonend beigebracht hast – du Idiot! Aurian barg das Gesicht in den Händen und ließ den Sturm über ihr zusammenschlagen.

Gevan, der die ganze Nacht hindurch gesegelt war, war noch immer müde, aber die Gezeiten und die Strömungen waren auf seiner Seite gewesen, und ein starker, stetiger Wind hatte ihn schneller als erwartet von Osthafen weggeweht. Als er in den Hafen einlief, rieb sich der Schmuggler die heißen, müden Augen und lächelte grimmig. Es schien, als wären die Götter selbst seinem Plan geneigt gewesen. Er würde es ihnen zeigen – dieser schlangenzüngigen, maguschhörigen, kleinen Hexe, die sich als die wahre Nachtfahrerführerin sah und ihrem Mann, der ihn einmal zu oft herumgestoßen hatte – mit der Unterstützung dieses törichten Schwächlings Yanis, der ihm so etwas einfach durchgehen ließ. Er war nun mal kein Anführer – niemals würde er das Format seines Vaters haben!

Der Schmuggler machte sein kleines Schiff zwischen den Fischerbooten fest, von denen gerade der nächtliche Fang abgeladen wurde, und kletterte auf den belebten Kai. Während er hastigen Schritts seinem Ziel entgegenstrebte, ließ er die Münzen in seiner Tasche klimpern. Das sollte ihm genügen, sich eine gute Mahlzeit und ein schnelles Pferd zu kaufen – und wenn er erst nach Nexis kam und mit Lord Pendral sprach, würde es ihm nie wieder an Wohlstand mangeln.

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