25 Das Opfer

»Wie oft muß ich es dir noch sagen – sie schläft.« Shia hatte diesen abscheulichen Menschen und seine endlosen Fragen gründlich satt. »Ja – soweit ich weiß, geht es ihr gut, ja – ich glaube, daß Wolf bei ihr ist, und nein – ich werde sie nicht wecken – was ich im übrigen auch gar nicht könnte.«

»Aber …«

Shia umrundete Forral mit einem zornigen Knurren und stellte zu ihrer Verärgerung fest, daß mehrere der Nachtfahrer, die das Schiff bemannten, diese Gelegenheit zu einem hastigen Rückzug nutzten, so daß sie, Khanu und Forral ganz allein im Bug zurückblieben. »Du elender Mensch! Ich hätte dich nie wissen lassen dürfen, daß du auf diese Weise mit mir sprechen kannst! Und jetzt hör mir mal gut zu.« Sie ging auf den Schwertkämpfer zu und legte die Vorderpfoten auf die Schiffsreling, so daß ihre goldenen Augen direkt in seine blickten. »Zum allerletzten Mal, Aurian ist uns deshalb nicht gefolgt, weil sie Chiamh retten mußte. Sie hat eine solche Torheit begangen, weil das Windauge ihr Freund ist. Sie sind jetzt irgendwo auf hoher See in einem kleinen Boot, und obwohl ich nicht mir ihr reden kann, bevor sie aufwacht, scheinen ihre schlafenden Gedanken nicht unglücklich zu sein. Deshalb glaube ich auch, daß Wolf nichts geschehen ist und daß es Aurian wahrscheinlich gelungen ist, zu tun, was sie sich vorgenommen hat. Ja, ich mache mir auch Sorgen um sie, aber nein – es gibt nichts, was wir noch tun können, um sie zu finden, bevor es hell wird – ALSO LEG DICH ENDLICH SCHLAFEN!«

Wutschnaubend kehrte Forral der großen Katze den Rücken zu und bückte über die Reling hinaus in die Dunkelheit. Mir wäre es auch lieber, wir hätten nicht herausgefunden, daß dieses verfluchte Geschöpf auf diese Art und Weise mit mir Kontakt aufnehmen kann, dachte er, ohne sich darum zu scheren, ob Shia seine Gedanken »belauschte« oder nicht. Dieses übellaunige Vieh! Ich habe doch nur gefragt. Du kannst mir kaum einen Vorwurf daraus machen, daß ich besorgt bin … Dann drängte sich ihm mit jäher Gewalt ein neuer Gedanke auf – ein ungeheuerlicher, schockierender Gedanke, der eine Vielzahl von Gefahren und Möglichkeiten in sich barg:

Wenn ich dank Anvars Maguschblut mit Shia reden kann, kann ich dann auch die anderen Sachen – die richtige Magie?

Ein Schaudern durchlief den Schwertkämpfer, das halb Angst, halb Erregung war. »Immer mit der Ruhe«, sagte er sich. »Laß dich nicht mitreißen. Bevor du irgend etwas ausprobierst, mußt du erst einmal gründlich nachdenken.« Vielleicht sollte er Aurian fragen – aber wenn er allein zurechtkommen konnte, war es dann nicht vielleicht besser, sie zu überraschen?

In Wahrheit sehnte Forral sich verzweifelt danach, die Magusch zu beeindrucken, denn er hatte das Gefühl, daß er ihr bisher kaum von Nutzen war – eine ungewöhnliche Erfahrung für den Schwertkämpfer. Seit er mit diesem fremden Körper zurückgekehrt war, war er ständig im Nachteil gewesen – alle anderen schienen zu wissen, was vorging; neue Freundschaften waren geschlossen worden, seine alten Kameraden und dieses seltsame neue Volk waren einander nähergekommen – Parric und die Xandim konnten ihm da als Beispiel dienen. Obwohl die Leute versuchten, nett zu ihm zu sein, wußte er, daß sie nur schwer damit fertig wurden, daß er jetzt Anvars Körper bewohnte. Sie alle hatten Anvar gekannt und waren seine Freunde und Gefährten gewesen. Forral konnte nicht umhin, sich als Fremder und Eindringling zu fühlen. Er seufzte. Dies entwickelte sich überhaupt nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte – aber vielleicht würde die Magie alles ändern. Gewiß war es einen Versuch wert – und in der Zwischenzeit würde er sich nützlich machen, indem er unter Deck ging und herausfand, um festzustellen, wie es dem armen alten Vannor erging.

Der Schwertkämpfer hatte schon die Hälfte des Weges zurückgelegt, als ihm ein neuer Gedanke kam. Seit er an Bord gegangen war, hatte er vergeblich nach Parric Ausschau gehalten – inzwischen war er davon überzeugt, daß der Kavalleriemeister gar nicht auf dem Schiff war! Was, im Namen aller Götter, mochte aus ihm geworden sein?

»Hast du das gesehen?« Iscalda schauderte. »Gerade als wir aus der Höhle kamen. Diese gräßliche, schwarze Gestalt – sie hat Jagd auf die Soldaten gemacht …«

»Ich wüßte auch gern, was das war«, überlegte Schiannath.

»Ich glaube, es ist besser, wenn wir es nicht wissen.« Iscalda zog sich ihren Umhang um die Schultern. »Das muß ein scheußlicher Tod gewesen sein.«

»Dem zumindest ist Chiamh entkommen«, sagte Schiannath mit belegter Stimme.

»Der arme Chiamh – er hat sich geopfert, um uns das Leben zu retten.« Iscalda lehnte sich an die Reling von Yards’ Schiff, der Nachtfalke, und schaute in die Richtung, aus der sie gekommen waren, obwohl es dort nichts zu sehen gab als dunklen Himmel und noch dunkleren Ozean. »Forral redet Unsinn – ich selbst habe Chiamh fallen sehen, Schiannath! Ich habe gesehen, wie die Soldaten auf ihn einhieben, wieder und wieder. Es ist unmöglich, daß das Windauge oder sonst jemand so etwas hätte überleben können.«

Schiannath legte einen Arm um ihre Schultern. »Er war sehr tapfer«, sagte er leise. »All diese Jahre hat unser Volk ihn mit Mißachtung gestraft und verachtet, weil er nicht die Ausstrahlung seiner Großmutter besaß – aber wer von denen hätte wohl den Mut zu einer solchen Tat aufgebracht?« Er seufzte. »Es ist eine doppelte Tragödie. Chiamh hätte schon vor langer Zeit eine Gefährtin nehmen sollen. Aber der Spott der Leute, die ihn mit Respekt . und Ehrerbietung hätten behandeln sollen, hat ihn in die Einsamkeit getrieben. Er hatte keine Erben, Iscalda – seine Blutlinie hat hier geendet, heute nacht, in einem fremden Land. Die Xandim haben kein Windauge mehr und werden nie wieder eines haben. Es ist, als wären wir ; mit einem Schlag blind und taub gegen die tiefere Welt um uns herum geworden.«

»Versuch mal, das denen zu erklären«, sagte Iscalda verbittert. »Die schert das nicht im mindesten. Die meisten von ihnen haben nichts anderes im Sinn als Hurerei und Völlerei. Eine tiefere Welt brauchen die doch gar nicht. Abgesehen von Chiamh und Leuten seines Schlages, sind wir nicht viel weiter gekommen als die Herdentiere, aus denen man uns geschaffen hat.«

»Aber das gilt nicht für uns alle«, meinte Schiannath tröstend. »Wir haben zumindest gelernt, die Dinge von einer höheren Warte aus zu betrachten. Und zu Chiamhs Gedenken werden wir die anderen mit uns nehmen – und wenn wir sie jeden einzelnen Zoll des Weges an den Haaren hinter uns her zerren müssen.«

Im Lichte der kleinen Laterne, die vom Mast baumelte, sah er Iscaldas Augen aufblitzen. »Willst du denn wieder zurückkehren und abermals um das Amt des Herdenführers kämpfen?« fragte sie verblüfft. »Nachdem du so viele von uns in die Sklaverei durch die Phaerie geführt hast, solltest du unsere Brüder besser um jeden Preis meiden. Wahrhaftig – sie werden uns in Stücke reißen, wenn wir versuchen zurückzukehren!«

»Möchtest du lieber den Rest deines Lebens im Exil verbringen?« fragte Schiannath. »Meinst du nicht, daß wir lange genug Verbannte gewesen sind?«

»Ich …« Ein kalter Windstoß wehte Iscalda die Antwort von den Lippen. Eine große, dunkle Gestalt ragte über Schiannath und Iscalda auf und raubte der Laterne ihr Licht.

Sie hörten Rufe, Schreie und Flüche, während die restliche Mannschaft und die Passagiere davonstoben, um sich irgendwo zu verstecken. Es war nicht mehr genug Zeit, um ein Schwert zu ziehen – die beiden Xandim warfen sich aufs Deck, während das furchteinflößende Wesen über sie hinwegfegte.

Schiannath, der seine Schwester wie immer zu schützen suchte, sprang vor sie – und prallte zurück, als das Geschöpf auf ihn herunterkrachte. Als ihn dann ein knochiger und allzu menschlicher Ellbogen im Gesicht traf, wußte er kaum, ob seine Augen von dem Schlag tränten, oder ob er vor Erleichterung weinte. Er kroch unter einem zuckenden Flügel hervor und half Linnet beim Aufstehen, bevor er Iscalda auf die Füße zog.

Das geflügelte Mädchen brachte vor Entsetzen kaum ein vernünftiges Wort heraus, und Iscalda hatte einige Mühe, sie zu beruhigen, während Schiannath, der sich seine blutende Nase abtupfte, die neugierigen Nachtfahrer zurückhielt. Jetzt, da man ihnen versichert hatte, daß es kein Todesgeist war, der über ihr Schiff herfiel, kamen sie alle wieder aus ihren Löchern gekommen.

Stück um Stück entlockte Iscalda Linnet ihre Geschichte. Als der Kampf begonnen hatte, war das junge Mädchen vernünftig genug gewesen, sich aus der Gefahr herauszuhalten – sie war auf das Dach der Höhle geflogen und dort geblieben. An einen Felsvorsprung geklammert hatte sie wie gelähmt vor Entsetzen und Furcht das Gemetzel beobachtet. Und selbst als die Schiffe schon ausgelaufen waren, hatte sie vor lauter Angst ihr Versteck nicht verlassen.

Erst der Todesgeist hatte schließlich die Macht besessen, das geflügelte Mädchen zum Handeln zu bewegen – ihr Refugium war nicht länger sicher, nicht vor diesem grauenerregenden Monstrum, das genausogut fliegen konnte wie sie selbst. Als der Geist in den Tunneln verschwunden war, um Jagd auf die Soldaten zu machen, hatte Linnet die günstige Gelegenheit genutzt und war aus dem Höhleneingang geflogen, hinaus aufs Meer und weg von den furchtbaren Ereignissen, deren Zeugin sie geworden war. Es dauerte nicht lange, bis sie sich in der Dunkelheit so sehr verirrt hatte, daß sie gewiß umgekommen wäre, hätte sie nicht das schwache, stecknadelkopfgroße Blinken der Laterne der Nachtfalke weit draußen auf den Wellen erblickt. Im Dunkeln hatte sie sich bei ihrer Landung böse verkalkuliert, aber glücklicherweise hatten Schiannath und Iscalda ihren Sturz gedämpft.

Während das geflügelte Mädchen seine Geschichte erzählte, wurde es immer ruhiger. Jetzt konnte Linnet sich voller Sorge nach ihren Freunden umsehen, um Trost aus den vertrauten Gesichtern zu schöpfen. Das einzige Gesicht, das sie jedoch wirklich sehen wollte, fehlte. »Wo ist Zanna?« fragte sie Iscalda mit vor Furcht bebender Stimme. »Geht es ihr gut? Sie ist doch entkommen, oder?«

»Keine Angst«, beschwichtigte Iscalda sie. »Sie ist unten in der Kabine, aber …«

»Ich muß zu ihr«, sagte Linnet und sprang auf.

Forral trat vor und versperrte ihr den Weg. »Nicht jetzt, Mädchen«, sagte er leise und griff nach ihrem Arm. An die versammelten Nachtfahrer gewandt sagte er: »Das ist es, was ich euch allen mitteilen wollte. Ich wünschte nur, es gäbe irgendeine Möglichkeit, den Schlag abzumildern. Valand, Zannas und Tarnais kleiner Junge, ist gerade an seinen Verletzungen gestorben.«

Schreie des Kummers und des Entsetzens wurden laut. Einer nach dem anderen wichen die Nachtfahrer vor dem Schwertkämpfer zurück, als wollten sie einen spürbaren Abstand zwischen sich und solch böse Kunde legen. Valand war nicht nur ein Kind von großem Selbstbewußtsein und Charme gewesen, das sich bei allen Nachtfahrern größter Beliebtheit erfreut hatte – er war auch Yanis’ Erbe, ihr zukünftiger Anführer. Für viele schien dies die endgültige Niederlage zu sein. Die Nachtfahrer waren vollständig geschlagen.

Bussarde flogen nicht bei Nacht. Sie flogen auch selten übers Meer. Aber der Bussard fragte sich nicht, warum er in diesem Augenblick beides tat. Er wußte nur, daß ihm etwas Kostbares genommen wurde – etwas, das so sehr Teil von ihm war, daß sein Fehlen tief in seinem Innern einen scharfen Schmerz hinterließ. Er spürte auch, daß es sich mit jeder Minute weiter von ihm entfernte. Und er wußte, daß er es wiederfinden mußte – oder sterben.

Obwohl er im Dunkeln nicht gut sehen konnte, witterte er, in welche Richtung dieses kostbare Etwas verschwunden war, nach dem er suchte. Er konnte es vor sich spüren – ein warmes Leuchten, wie die Sonne, die mit großer Kraft in sein Gesicht schien. Dieses angenehme Gefühl verflog, wenn er vom Weg abkam. Während der Bussard seinem Ziel näherkam, konnte er es in der Dunkelheit vor sich sehen – ein Licht, das nicht wie eine gewöhnliche Lichtquelle leuchtete, sondern eher wie ein Schimmer, wie ein einzelner, leuchtender Stern in seinen Gedanken.

Mit absoluter Gewißheit schoß der Bussard durch die Dunkelheit herab und landete auf einem schaukelnden Boot. Er konnte es jetzt sehen – dieses Etwas, das ihn gerufen hatte. Die große Frau, die ebenfalls so wichtig für ihn zu sein schien, hatte es sich auf den Rücken gebunden. Mit einem zufriedenen Flügelschlagen ließ der Bussard sich neben der Harfe der Winde nieder und schlief bis zum nächsten Morgen.

Während der Morgen heraufdämmerte und die Wogen immer höher gingen, nahm der Wind weiter zu. Hagelschauer zischten über das Wasser, als die Nachtfahrer auf Deck zusammenkamen. Sie brauchten nicht lange, um ihre Toten der Tiefe zu überantworten. Zuerst kamen die drei Erwachsenen, die alle, seit das Schiff den Anker gelichtet hatte, ihren Verletzungen erlegen waren. Man hatte sie in Laken gewickelt und mit Steinen beschwert und ließ sie nun, einen nach dem anderen, ins Meer gleiten. Zuletzt kam der mitleiderregend kleine Körper von Zannas Kind.

Als Valands Leichnam über das schräggelegte Brett ins Wasser rutschte, schoß Zanna mit einem Wimmern nach vorn und versuchte, die Decke zu packen, in die er eingewickelt war, als wolle sie ihn der hungrigen See entreißen. Tarnal hielt sie fest, und sie kämpfte wie ein Furie gegen ihn, weil sie ihrem Kind folgen wollte. Am Ende blieb ihm nichts anderes übrig, als sie hochzuheben und hinunter in die Kabine zu tragen, von wo ihre Schreie immer noch zu hören waren.

Alle Anführer waren in ihrer Trauer wie gelähmt. Zanna und Tarnal brauchten Zeit, um den Verlust ihres erstgeborenen Sohnes zu betrauern. Vannor war von dem doppelten Verlust Dulsinas und seines Enkels geschlagen, während Yanis seine geliebte Emmie beklagte. Schon bald wurde Forral klar, daß irgend jemand das Kommando übernehmen mußte, und wenn er auch nichts von Schiffen und vom Segeln verstand, so schien es doch, als käme kein anderer in Frage. Er rief die mutlosen Nachtfahrer an Deck zusammen und machte die beruhigende Entdeckung, daß praktisch alle, selbst die alten Großmütter, segeln konnten, und daß viele der jüngeren Schmuggler häufig als Matrosen die Route zu den südlichen Ländern befahren hatten. Forral besprach die Sache mit Schiannath und Iscalda, und nach gründlichem Nachdenken beschlossen sie, trotz aller Risiken nach Süden zu fahren – und das so schnell wie möglich. Forral ließ sich nicht davon abbringen, daß Aurian diesen Weg einschlagen würde – und daher würde auch er nach Süden gehen, und wenn er jeden einzelnen Zoll des Weges hätte schwimmen müssen.

Der Schwertkämpfer brannte darauf, die Magusch zu finden, und sorgte sich auch um den Verbleib des anderen Schiffs; des ersten Schiffs, dem es gelungen war, aus der Höhle zu fliehen – ganz zu schweigen von der Flottille kleiner Boote, die dem Angriff entkommen waren und die sich in allen Himmelsrichtungen über das dunkle Antlitz des Ozeans ausgebreitet hatten. Glücklicherweise kam ihnen Linnet zu Hilfe. Nachdem sie etwas gegessen und sich ein paar Stunden ausgeruht hatte, fühlte sich das geflügelte Mädchen weitgehend wieder hergestellt und flog nun der Nachtfalke voraus um einen großen Teil des Ozeans von oben abzusuchen und festzustellen, ob sie eines der anderen Schiffe aus der Luft erspähen konnte. Wenn ihre Mission erfolgreich war, würde sie jedes Boot einzeln zu dem Leitschiff der Nachtfahrer führen.

Aurian erwachte mit einem Krampf in dem Bein, das sie sich in einem unmöglichen Winkel unter den Körper geschoben hatte. Sie war müde, zu Tode erschöpft, und sie fror; sie schmiegte sich enger an Chiamh und versuchte, der Kälte des immer heftiger werdenden Windes zu entkommen. Einen Augenblick lang wußte sie nicht, wo sie war, bis sie das Schaukeln des Bootes wahrnahm und den Kopf hob, um den grauen Himmel und das graue Meer zu sehen. Plötzlich kehrten die Erinnerungen wieder zurück. Aurian stieß einen leisen Ruch aus und wünschte, wieder einschlafen zu können, um der Hut der Gedanken zu entrinnen.

Gerade als sie sich wieder niederlegte, explodierte eine Reihe schriller, monotoner Schreie in ihrem Ohr, und die Spitze eines Flügels stach ihr ins Auge. Blitzartig setzte Aurian sich auf und weckte Chiamh; mit einer Hand hielt sie sich ihr tränendes Auge. Als sie den Bussard sah, stieß sie einen leisen Freudenschrei aus. »Wie bist du denn hierhergekommen?« rief sie. »Chiamh, sieh nur – er muß uns gefolgt sein! Ist das nicht der Beweis dafür, daß es Anvar sein muß?«

»Du weißt, daß du mich nie davon zu überzeugen brauchtest.« Das Windauge sah den Falken mit ernster Miene an. »Die Schwierigkeit wird sein, ihm seinen rechtmäßigen Körper wiederzugeben.«

Die Schaukelbewegungen des Bootes waren in den letzten Sekunden noch heftiger geworden, und nun spritzte eine Wasserfontäne über den Bug. Wolf und Grince wurden vollkommen durchnäßt, und Wolf, der noch im Halbschlaf gewesen war, sprang mit einem panischen Jaulen auf. Er schüttelte einen Silberschauer winziger Tröpfchen aus seinem dicken, grauen Fell und blickte über den Bootsrand in die Unendlichkeit des auf und ab wogenden Meeres. »Das hier ist viel größer als unser See zu Hause, nicht wahr?« fragte er mit schwankender Stimme.

»Auf diesem verdammten Boot gibt es wohl nicht zufällig etwas zu essen?« Der Dieb meldete sich im Anschluß an die Klage ihres Sohnes zu Wort, und Aurian belächelte die List, mit der er den kleinen Wolf abzulenken versuchte – Grince mochte zwar der Gedankenrede nicht fähig sein, aber die wachsende Angst Wolfs spiegelte sich unverkennbar in dessen Augen. Erst da wurde Aurian klar, daß ihnen an Bord nicht nur die Nahrungsmittel fehlten – sie hatten auch kein Wasser. Und das Wetter gefiel ihr überhaupt nicht. Es war vollkommen unmöglich, daß ein kleines Boot wie das ihre bei schwerer See unversehrt blieb.

Chiamh fing ihren Blick auf – und die Magusch und das Windauge schlossen einen unausgesprochenen Pakt, die beiden jüngeren Mitglieder ihrer Manschaft nicht in Panik zu stürzen. »Ich bin sicher, wir werden schon etwas fi …« begann Aurian, als Grince ihr ins Wort fiel. »Emmie hat mir einmal erzählt, daß in allen kleinen Booten Wasserflaschen für Notfälle untergebracht wären.«

Aurian wurde klar, daß Grince sich ihrer schweigenden Übereinkunft – Wolf nicht zu ängstigen – angeschlossen hatte. Die Magusch sandte ein stummes, aber inbrünstiges Dankgebet zu den Göttern. Laut sagte sie nur: »Gut gemacht, Grince. Warum versucht ihr zwei, du und Wolf, nicht, es zu finden?«

»Also gut. Aber danach sollte ich besser rudern.« Grince musterte die wogende See mit einem finsteren Stirnrunzeln. »Die See geht mittlerweile zu hoch, um sich einfach weitertreiben zu lassen – Emmie hat mir erzählt, daß man, wenn die Wellen größer werden, mit dem Boot auf sie zuhalten muß, sonst läuft es einem voll.«

Aurian nickte und sah den Dieb mit neu erwachtem Respekt an. Der Junge hatte tatsächlich einen klugen Kopf auf den Schultern. Leise flüsterte sie: »Chiamh – sieh zu, daß du Wolf nach Möglichkeit irgendwie beschäftigst. Ich werde versuchen, mit Shia Kontakt aufzunehmen.«

Das Windauge nickte. »Wenn du damit fertig bist, werde ich die Winde reiten und sehen, wie weit wir von den übrigen Booten entfernt sind – oder von irgend etwas anderem.«

Aurian schloß die Augen, konzentrierte sich, und sandte ihre Gedanken vom Bug des Bootes aus kreuz und quer über den Ozean, um nach ihrer Freundin Shia zu suchen. Anfänglich traf ihr suchender Geist nur auf Leere. Dann spürte Aurian plötzlich, wie ein anderes Bewußtsein ihre Gedanken aufgriff.

»Aurian? Bist du das? Geht es dir gut? Na, wurde auch langsam Zeit, daß du aufhörst, faul herumzuliegen – dieser verflixte Mensch von dir hat mir die ganze Zeit das Leben schwergemacht. Du hast so lange geschlafen, daß ich schon dachte, du wolltest einen Winterschlaf halten!«

»Shia – wie tut das gut, dich zu hören! Wir sind in einem kleinen Boot …«

»Ja, das hast du mir gestern nacht schon erzählt. Wer ist bei dir?«

»Wolf ist hier, Grince und sein Hund – und rate mal, wer noch? Chiamh ist bei mir, und es geht ihm bestens. Er hat nicht einen Kratzer abbekommen!«

»Nein, wirklich! Das ist aber mal eine gute Nachricht!« Obwohl Shia ihre Gedankenstimme benutzte, war die Magusch sicher, im Hintergrund ein glückliches Schnurren zu hören. »Warte nur, bis Iscalda davon erfährt«, fuhr die Katze fort. »Sie war sicher, daß der arme Chiamh tot sei. Nach den Worten deines Menschen hier hat sie mitangesehen, wie eine Horde Soldaten ihn durchlöcherte. Ich glaube nicht, daß ich irgend etwas davon erwähnen werde, bevor ihr zu uns stoßt. Überraschen wir sie damit – nach all den Toten brauchen die Leute hier dringend eine gute Nachricht. Zanna hat heute morgen ihren Jüngsten verloren.«

»O, Shia – nein. Die arme Zanna. Was für eine schreckliche Neuigkeit!« Unwillkürlich warf Aurian einen Blick auf Wolf. »Shia, wir haben nichts zu essen an Bord und nur sehr wenig Wasser, und das Boot ist zu klein, um bei diesen Verhältnissen dem Meer noch lange zu trotzen. Glaubst du, die Nachtfahrer können uns finden?«

»Ja, das können sie.« Shia klang äußerst selbstgefällig. »Linnet hat sich auf die Suche gemacht. Wenn sie euch findet, führt sie uns zu euch, oder euch zu uns. Ihr braucht nur abzuwarten.«

Aurian wäre vor Erleichterung beinahe zusammengebrochen. »Das ist die beste Neuigkeit, die ich seit langer Zeit gehört habe, Shia. Dann sehe ich dich ja bald.«

»Ich kann’s kaum erwarten. Dann kannst du endlich selber mit diesem verwünschten Menschen reden.«

Die Magusch überbrachte den anderen die gute Neuigkeit, daß ihre Rettung unmittelbar bevorstand und nahm dann einen Schluck aus Grinces Wasserflasche, bevor sie sich zurücklehnte. »Wirst du, während wir warten, trotzdem nach dem Schiff suchen?« fragte sie Chiamh.

»Du brauchst dir keine Mühe zu machen, Windauge – und du, Kleine, brauchst nicht zu warten. Ich bringe euch hin.«

Das Boot wurde auf einer gigantischen Woge emporgehoben, und ein glatter, grauer Rücken brach ganz in der Nähe durch die Oberfläche des Wassers. »Ithalasa!« rief Aurian. »Du bist es! Aber wie hast du davon erfahren?«

Der Leviathan rollte sich herum, um sie mit einem einzigen dunklen, klugen, kleinen Auge zu betrachten. »Ich bin es tatsächlich – und glücklicherweise habe ich dich gerade noch rechtzeitig erreicht. Ich bin lange und schnell geschwommen, um an diesen Ort zu gelangen. Und was deine Frage betrifft, woher ich es weiß: Als du gestern nacht auf See gegangen bist, habe ich aus der Ferne die Macht der Artefakte gespürt. Seit du diese Welt verlassen hattest, habe ich Ausschau gehalten, habe gewartet und immer gewußt, daß du irgendwann zurückkehren würdest.«

»Aber was tust du denn hier in den nördlichen Gewässern?«

Ithalasa seufzte hörbar und besprühte dabei die Magusch und ihre Gefährten mit einem Nebelschleier winziger Tröpfchen aus seinem Blasloch. »Als ich dir das letzte Mal geholfen habe, Kleine, war mein Volk leider sehr verstimmt, ganz wie ich es befürchtet hatte. Ich bin hierher in die Verbannung gegangen – nein, bekümmere dich nicht unnötig, Magusch. Das war meine Entscheidung, und es war eine gute Entscheidung. Sieh nur – ich bin keineswegs allein. Meine Gefährtin ist mit mir gekommen und ebenso meine Herde, meine Familie der Meere.«

Überall um das Boot herum tauchten weitere glatte, glänzende Gestalten auf. »Ich werde sie nicht bitten, mit dir zu sprechen«, fuhr Ithalasa fort. »Sollen meine Vergehen – obwohl ich sie nicht als Vergehen erachte – doch weiter allein auf mein Haupt gehen.«

Als der Leviathan den Kopf gegen das Heck des Bootes legte und es mühelos durch das Wasser schob, stieß Grince ein erschrockenes Kreischen aus und zog die Ruder hastig wieder an Bord.

»Es ist alles in Ordnung«, erklärte Aurian ihm mit einem Lächeln. »Das ist ein Freund.«

»Ein Freund? Wie kannst du dieses elende Ungeheuer als Freund bezeichnen?« Grince schüttelte den Kopf. »Eines muß man dir lassen, Lady. Mit dir ist das Leben niemals langweilig.«

Obwohl sie die Magusch noch nicht gefunden hatte, hatte Linnet doch mehrere andere kleine Boote entdeckt, die die zu Tode erschrockenen Nachtfahrer zur Flucht benutzt hatten. Den größeren Booten, die über Segel verfügten, wies die Geflügelte den Weg zur Nachtfalke, bevor sie sich schließlich um die kleineren Boote kümmerte, die von der wogenden See umhergeworfen wurden. Diese Boote wurden dann an dem größeren, kräftigeren Schiff festgemacht und von ihm weitergezogen. Es dauerte nicht lange, bis sie die ganze Flottille beisammen hatten und die nassen, durchgefrorenen, kranken und mutlosen Schmuggler an Bord des größeren Schiffs gingen, bis dessen Decks von Leuten in verschiedenen Stadien der Verzweiflung und des Unbehagens überfüllt waren. Forral und die Xandim taten ihr Bestes, Essen und Decken herbeizuschaffen, um es den Leuten ein wenig bequemer zu machen, aber es überstieg bei weitem ihre Möglichkeiten, etwas gegen die Kälte, die Schmerzen und das Herzweh der Flüchtlinge zu unternehmen.

»Es ist hoffnungslos«, brummte der Schwertkämpfer. »Wir haben einfach nicht genug Platz. Wir müssen den Leuten irgendwie ein Dach überm Kopf verschaffen, und wir brauchen einen Heiler. Und was führen diese sogenannten Nachtfahrerführer eigentlich im Schilde? Sie sind nicht die einzigen, die mit ihrer Trauer fertig werden müssen. Sie sollten hier draußen sein und diesen armen Leuten helfen, statt unten in der Behaglichkeit ihrer Kabine vor sich hinzustarren.«

Unten in der Kabine nahm Vannor die traurigen Geräusche, die von den Decks über ihm kamen, kaum wahr. Er saß neben Zanna, die sich endlich in den Schlaf geweint hatte, und hielt ihre Hand. In Gedanken war er weit, weit fort; verloren in Erinnerungen an Dulsina und der bitteren Frage, wie er nur so ein erbärmlicher Esel hatte sein können, sich so viele gute Jahre mit ihr entgehen zu lassen.

»Vater? Vater?« Marteks Stimme drang in Vannors Tagtraum ein. Der Junge stand mit Emmies weißem Hund neben Tarnal, der, den Kopf auf die Hände gestützt, über dem schmalen Tisch der Kabine zusammengesunken war. Der Junge zupfte seinen Vater am Ärmel, aber Tarnal, der tief in Erschöpfung und Trauer verloren war, gab keine Antwort.

Mitleid mit dem Kind riß Vannor aus seinen Gedanken. Der arme Martek – er hatte heute seinen Bruder verloren, und niemand hatte Zeit für ihn gehabt. Er hielt dem Kind die Hand hin. »Was ist los, Martek? Komm und erzähl es deinem Großvater. Hast du Hunger?«

Der Junge schüttelte den Kopf. »Großvater – wann kommt Valand zurück?«

Einen Augenblick lang griff Vannor eisige Kälte ans Herz. Er nahm das Kind auf den Schoß und drückte es an sich. »Valand mußte fortgehen«, erklärte er ihm sanft. »Er ist tot, Martek. Er kann nicht zurückkommen.«

»Aber wohin ist er denn gegangen? Warum? Kann ich nicht auch dorthin gehen?«

Ein Schaudern durchlief Vannor, und er drückte den Jungen fester an sich; in Gedanken betete er inbrünstig, daß die Götter Martek seinen Wunsch nicht erfüllen würden. »Valand mußte weit, weit fort, mein Junge, damit er sich um Großmama Dulsina kümmern kann. Sie sind zusammen gegangen.«

»Und sie kommen nie wieder zurück? Nie wieder?« Marteks Stimme bebte. »Das ist nicht gerecht, Großpapa! Ich vermisse Valand! Warum mußten sie weggehen?«

»Wir alle müssen irgendwann gehen«, erklärte ihm Vannor. »Früher oder später treten wir alle diese Reise an – aber nicht bevor wir an der Reihe sind. Du hattest Glück, Martek. Du darfst hier bei deiner Mutter und deinem Vater und mir bleiben. Ich weiß, du vermißt deinen Bruder, aber du wirst ihn eines Tages wiedersehen, Junge – ganz gewiß.«

»Aber wann?«

»Das weiß ich nicht.«

»Vermißt Valand mich auch?«

»Natürlich tut er das. Ihr müßt beide sehr tapfer sein. Meinst du, du kannst das?«

»Tapfer sein wie Vater?«

Ein kleines Geräusch am Tisch Heß Vannor aufblicken. Tarnal hatte sich aufrecht hingesetzt und wischte sich mit dem Ärmel das Gesicht ab. »Tapferer als ich, hoffe ich«, sagte er leise und hielt dem Jungen die Arme hin.

»Niemand ist so tapfer wie du.« Martek kletterte auf den Schoß seines Vaters. Tarnal zog seinen Sohn fest an sich und sah Vannor an. »Ich danke dir«, flüsterte er. Weil niemand ihn beachtete, stieß der weiße Hund ein Jaulen aus. Irgendwie jagte dieses trostlose Geräusch Vannor eine Gänsehaut über den Leib. »Martek«, sagte er. »Warum ist Schneesilber hier unten? Sie wird deine Mutter wecken.«

Der Junge blickte auf den Hund hinab. »Oh«, sagte er. »Das hab’ ich ganz vergessen. Onkel Yanis sagte, ich könne sie haben. Darf ich sie behalten, Vater? Darf ich?«

Was? Yanis gab den geliebten Hund seiner Frau weg? Vannors Unbehagen verstärkte sich. »Martek«, sagte er vorsichtig. »Was genau hat Onkel Yanis gesagt? Und wo war das?«

Der Junge runzelte die Stirn und versuchte, sich zu erinnern. »Er saß im Frachtraum. Er weinte. Er sagte, ob ich mich um Schneesilber kümmern wolle, weil er es nicht mehr könnte. Er sagte, er wolle Tante Emmie suchen gehen …«

»Sieben verfluchte Dämonen!« Tarnal stieß den erstaunten Jungen von seinem Schoß und rannte, dicht gefolgt von Vannor, zur Tür.

Als sie die Luke erreichten, hatte Vannor gerade noch genug Verstand, Tarnal mit der Laterne vorangehen zu lassen. Mit nur einer Hand konnte er nicht schnell genug klettern. Also reckte er den Hals und blickte an dem Schmuggler vorbei in die Dunkelheit des Frachtraums. Das Licht der Laterne fiel auf einen dunklen, feuchten Schlick, der den Boden bedeckte. Von der untersten Sprosse der Leiter aus machte Tarnal einen Schritt zur Seite, um den leuchtenden Bereich des Bodens zu meiden. Dann wandte er sich ab; sein Mund zuckte vor Schmerz und Trauer. Eine Sekunde später holte er tief Luft. »Komm nicht runter, Vannor. Es ist zu spät.«

Tarnal blickte zu seinem Schwiegervater auf, und Vannor sah, wie sich auf seinem Gesicht ein Ausdruck von Entschlossenheit breit machte. »Es sieht so aus, als wäre ich jetzt der Anführer der Nachtfahrer – also sollte ich wohl langsam die Zügel in die Hand nehmen.« Ohne Zögern griff er nach der Leiter und kletterte hinauf.

»Lebe wohl, Ithalasa. Ich hoffe, ich werde dich eines Tages wiedersehen.«

»Lebe wohl, Windauge. Wenn die Zeit reif ist, werden wir einander abermals begegnen. Bis dahin fasse Mut. Denk dran – all jene, die über die Mächte der Magie gebieten, können lange genug leben, um die Lösung vieler Probleme sich selbst zu überlassen. Wer weiß? Eines Tages wird dir vielleicht dein Wunsch erfüllt.«

»Das glaube ich nicht.«

»Nun, die Zeit wird es erweisen. Möge das Glück dir hold sein, mein Freund.«

Also ich wüßte doch gerne, worum es bei diesem Gespräch ging, überlegte Aurian, als Chiamh sich abwandte, um die Strickleiter zum Schiff hinaufzuklettern.

»Bezwinge deine Maguschneugier, Kleine – diese Sache geht dich nichts an.« Ithalasa kicherte. »Zumindest jetzt noch nicht«, fügte er geheimnisvoll hinzu.

Aurian seufzte. »Ich wünschte, ich könnte mehr Zeit mit dir verbringen. Wir scheinen uns immer nur Lebewohl zu sage«, beklagte sie sich.

»Ah – aber welche Freude bringt uns jedes Wiedersehen! Ich danke dir, daß du mich in deinen Plan eingeweiht hast, den Kessel des Todes zurückzugeben, solltest du ihn gewinnen. Du gibst mir Hoffnung. Wenn mein Volk erfährt, daß du zu dieser verantwortungsbewußten und selbstlosen Tat mit dem Artefakt fähig warst, werden sie einsehen, wie recht ich hatte, dir zu vertrauen, und meine Verbannung wird ein Ende finden.«

»Das hoffe ich. Mit dem Erdenstab habe ich mich nicht als besonders verantwortungsbewußt erwiesen«, erwiderte Aurian wahrheitsgemäß. »Und die Sache mit dem Schwert habe ich gründlich verpfuscht.« Unterwegs hatte sie dem Leviathan ihre Fehler gebeichtet.

»Das mag sein. Aber du hast deine Irrtümer eingesehen und hast die Dinge nicht noch schlimmer gemacht. Und sei versichert, selbst in diesem Augenblick tust du Buße. Laß dich von diesem Rückschlag nicht am letzten Hindernis zu Fall bringen. Deine Instinkte sind gut und richtig, Tochter. Vertraue ihnen nur, und alles wird gut sein.«

Der Leviathan berührte zum Abschied noch einmal sanft Aurians Geist und schwamm davon. Seine letzten Worte hallten noch lange, nachdem er verschwunden war, in den Gedanken der Magusch wider.

Als Aurian an Deck der Nachtfalke ging, fand sie Tarnal damit beschäftigt, seinen Leuten beizustehen. Bevor sie auch nur die Zeit hatte, ein Wort des Trostes über die Lippen zu bringen, hatte er sie am Arm gefaßt und ein Stück von den anderen weggeführt, um ungestört mit ihr reden zu können. »Bitte, Magusch – kannst du Zanna helfen? Ich weiß, wie sehr sie dich respektiert, und ich dachte …« Er brach ab und sein Gesicht verzog sich vor Gram. »Sie sitzt einfach nur da. Manchmal weint sie, aber sie sagt kein Wort. Es ist nicht so, als wäre sie nicht tapfer, aber erst ist Dulsina gestorben und dann Valand und heute morgen auch noch Yanis … Als junges Mädchen wollte sie ihn heiraten, mußt du wissen – bevor sie mich kennenlernte. Das waren zu viele furchtbare Erlebnisse auf einmal …«

»Schon gut, Tarnal.« Aurian legte dem jungen Mann tröstend eine Hand auf den Arm. Sie spürte, daß seine Sorge um Zanna mehr war, als er im Augenblick selbst verkraften konnte. »Keine Angst – Zanna ist eine starke Frau. Ich werde zu ihr gehen und mit ihr reden.«

Die Kabine lag im Dunkeln, und das eine Bullauge, über das sie verfügte, war mit einem Tuch verhangen, um das Tageslicht auszusperren. Mit ihrer Maguschsicht konnte Aurian Zanna erkennen, die mit um die Knie geschlungenen Händen in der Koje saß und ins Leere starrte. Die Magusch sagte nichts. Sie zog sich lediglich einen Stuhl heran und wartete.

»Wie kannst du das ertragen?« brach es schließlich aus Zanna heraus. »Aurian, du mußt doch wissen, wie das ist. Du hast Forral verloren und dann Anvar. In gewisser Weise hast du deinen Sohn an Miathans Fluch verloren. Wie schaffst du es nur, weiterzuleben?«

»Als ich ein junges Mädchen war«, sagte Aurian leise, »hat Forral mir den besten Rat meines Lebens gegeben. Wenn ein Problem zu groß erscheint, tue einfach das Nächstliegende. Mach diesen einen, ersten Schritt auf deinem Weg, und du wirst feststellen, daß die nächsten Schritte von selbst kommen.«

»Aber ich kann diesen ersten Schritt einfach nicht sehen. Die Straße, die jetzt vor mir liegt, ist dunkel.«

Die Magusch streckte eine Hand aus, und ein bernsteinfarbenes Maguschlicht erblühte über ihrer Handfläche und ließ die Schatten vor der trauernden Frau flüchten. »Da oben an Deck«, sagte sie ruhig, »kauern sich deine Leute in Wind und Hagel zusammen. Einige sind verletzt, und viele trauern genau wie du …«

»Bitte mich nicht, ihnen Trost zu spenden! Ich habe nichts zu geben!«

»Du hast deine Kabine, Zanna. Du könntest andere für eine Weile in Ruhe trauern lassen und den Verwundeten Wärme und ein Dach überm Kopf geben. Du könntest helfen.«

»Und meinen Kummer in guten Taten ertränken?« Zannas Stimme klang verbittert. »Ist das alles, was du mir an Rat zu bieten hast?«

Aurian zuckte die Achseln. »Du hast mich gefragt. Aber eines möchte ich dir noch aus eigener Erfahrung sagen – es ist unmöglich, deinen Kummer in guten Taten, gutem Wein oder sonst irgend etwas zu ertränken. Es ist einfach nur leichter, mit ihm zu leben, wenn du dich beschäftigst, statt im Dunkeln zu hocken und deinen Kummer mit jedem ›wenn doch nur‹ zu nähren, auf das du dich besinnen kannst. Es ist ein Fehler, den ich mehr als einmal gemacht habe, und ich habe ihn zu bedauern gelernt, glaube mir. Und denk dran – Vannor und Tarnal und vor allem der kleine Martek brauchen dich jetzt, genauso wie du sie brauchst. Ihr könnt einander helfen – nicht nur denen, die ihr hebt, sondern der ganzen Nachtfahrerfamilie. Der erste Schritt ist der härteste, Zanna – aber er führt dich direkt durch diese Tür da.«

Zanna blickte zuerst die Magusch an, dann die Tür. »Na gut«, sagte sie nach einem Augenblick. »Ich glaube, so weit werde ich es gerade noch schaffen.«

»Wo sind wir bloß, verflucht noch mal?« brüllte Parric den Schiffskapitän an. »Das kann doch nicht die Xandimküste sein – wir können unmöglich schon angekommen sein. Du verfluchter Idiot! Du bist in die falsche Richtung gefahren!«

Jeskin riß sich aus Parrics wütender Umklammerung los und spuckte aus. »Ich habe nie ein Wort davon gesagt, daß ich nach Süden fahren wolle«, erwiderte er aufsässig. »Diese Leute haben schon genug Probleme, ohne daß ich sie zu einer drei- oder viertägigen Reise in fremde Gefilde zerre. Das da drüben ist Osthafen, Kamerad – und genau da fahre ich hin. Viele Leute haben Familie und Freunde im Dorf – ich selbst habe eine Nichte dort –, und die werden uns aufnehmen. Wir werden uns an ihre Gepflogenheiten anpassen und Handwerker und Fischer werden – und wer will behaupten, daß wir jemals Nachtfahrer waren? Jedenfalls nicht die Leute aus Osthafen. Sie haben mit allem, was jemals aus Nexis kam, nichts am Hut – und für mich sieht es so aus, als hätten sie da mehr Verstand als einige Leute, auf die ich mit dem Finger zeigen könnte.« Er spuckte abermals aus und funkelte den wie vom Donner gerührten Kavalleriehauptmann trotzig an. »Wenn du nach Süden willst, Kamerad, mußt du dir jemand anderes suchen, der dich hinbringt – und ich wünsche dir viel Glück.«

Plötzlich hielt Parric ein Messer in der Hand und richtete es auf Jeskins üppigen Bauch. »Wende dieses verfluchte Boot – sofort!« brüllte er.

Jeskin blickte mit unveränderter Miene auf das Messer hinab. »Nein«, sagte er ruhig. »Und wenn du dieses Ding zwischen meine Rippen bohrst, wird es genug andere hier geben, die uns nach Osthafen bringen – natürlich erst nachdem sie dich gehängt und deinen Körper ins Meer geworfen haben.« Dann wandte er den Kopf um und spuckte ein drittes Mal aus, diesmal direkt vor Parrics Stiefel. »Und das hier ist ein Schiff«, fügte er hinzu, »kein Boot.«

Mit einem üblen Fluch steckte Parric das Messer weg. Er war geschlagen, und er wußte es. Es war ein dummer Zufall gewesen, daß er während des Kampfes von den anderen getrennt wurde und auf dem falschen Schiff landetet, und jetzt ließ sich daran absolut nichts mehr ändern – er konnte lediglich nach Nexis zurückkehren und diesen Bastard Pendral, die Ursache für all diese Schwierigkeiten, ein für allemal aus dem Weg schaffen. Für Aurian würde das vielleicht nicht viel ändern, aber zumindest für die Nexianer würde sich die Situation erheblich bessern, was wiederum zu seinem, Parrics, Wohlbehagen beitragen mochte.

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