Als D’arvan die Phaeriestadt zum ersten Mal sah, glaubte er, noch nie in seinem Leben etwas Schöneres erblickt zu haben. Abgesehen von einer einzigen Nacht in Eilins Tal und den gelegentlichen Pausen, um sich und den Pferden ein wenig Ruhe zu gönnen, war er seit jenem grauenvollen Angriff auf den Unterschlupf der Nachtfahrer ständig unterwegs gewesen. D’arvan konnte gar nicht schnell genug wieder nach Hause kommen. Seit jener furchtbaren Nacht hatte das Gemetzel den Magusch im Wachen wie im Schlafen verfolgt. Nach den Greueln, deren Zeuge er geworden war, nach all den entsetzlichen Dingen, die Menschen Menschen angetan hatten, konnte er seinen Vater und die Phaerie nicht mehr mit derselben Schärfe verurteilen wie früher. Jetzt war jeder Tag, an dem es Pendral gestattet war, zu leben und sich an der Autorität seines Amtes zu erfreuen, ein Dorn im Fleisch des Magusch. D’arvan hätte nie geglaubt, daß er zu solchem Haß fähig wäre – aber jetzt, da er ihn in sich entdeckt hatte, war er ihm durchaus willkommen. Maya und ihre Freunde in der Garnison hatten von Anfang an recht gehabt. Es gab einige Dinge auf dieser Welt, die man nur mit Gewalt in Ordnung bringen konnte.
D’arvan musterte Hargorn mit einem verstohlenen Blick. Trotz der Trauer um seine alte Freundin Dulsina oder seiner Sorge um seine verschwundenen Gefährten schien der alte Soldat den zermürbenden Ritt überraschend gut überstanden zu haben. Er hatte auch die Idee gehabt, einige der kräftigen, flinken Ponys der Nachtfahrer zusammenzutreiben – sonst wären sie wohl noch wochenlang zu Fuß unterwegs gewesen.
Hargorn betrachtete die Phaeriestadt auf ihrem Hügel, und sein Gesicht zeigte denselben Ausdruck, den D’arvan seit ihrem Abschied von Wyvernesse dort gesehen hatte – ein verdrossener, verkniffener Mund und ein finsteres Stirnrunzeln. »Verdammt blöde Idee«, murmelte er. »Wenn du mich fragst, es ist ein Verbrechen.«
D’arvan lächelte. Während ihrer schier endlosen Reise hatte der alte Soldat keinen Zweifel an seinen Gefühlen gelassen; D’arvans Idee, die Phaerie für einen Angriff auf Nexis zu benutzen, um die Stadt im Namen seines Vaters zu übernehmen, fand Hargorn schlicht und einfach blödsinnig. Seine Bemerkungen zu diesem Thema fingen alle gleich an: Das ist die lächerlichste Idee, die mir je zu Ohren gekommen ist, gingen dann weiter mit: Was für eine jämmerliche Entschuldigung soll das, bitteschön, sein? und: Erwarte ja nicht, daß die Nexianer dir dafür danken werden, bevor sie mit der düsteren Feststellung endeten: Nun, ich hoffe nur, daß Maya ein bißchen Vernunft in deinen Dickschädel hineinkriegt.
D’arvan hatte ihn einfach reden lassen: Hargorns Gezeter war das Normalste, was ihm widerfuhr, seit – er konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, seit wann. Wahrscheinlich seit er damals zusammen mit Maya Nexis verlassen hatte. Damals war Forral gerade ermordet worden, und dieses ganze wahnsinnige Abenteuer hatte seinen Anfang genommen. Plötzlich wandte sich die Aufmerksamkeit des Magusch wieder der Gegenwart zu. Die gewohnte Litanei der Klagen des alten Soldaten war jäh verstummt. »Bei Tharas Titten!« entfuhr es dem alten Kämpen. »Was soll das denn sein?«
»Du weißt ganz genau, was das ist, Hargorn«, sagte der Magusch. »Du hast in Wyvernesse doch gesehen, wie Aurian mit den Xandim geflogen ist. Mein Vater hat meine Ankunft bemerkt, das ist alles. Er schickt uns eine Eskorte. Jetzt kannst du mit geziemender Würde in die Stadt einreiten.«
»Vielen Dank! Da lasse ich meine Füße Heber über den Boden schleifen«, murmelte Hargorn verdrossen. »Aber ich fürchte, deine elenden Phaerie werden mir keine Wahl lassen.«
D’arvan zuckte die Achseln. »Du kannst den ganzen Weg den Hügel hinauf auf deinem dicken Nachtfahrerpony reiten, wenn du willst – ich glaube kaum, daß irgend jemand dich davon abhalten wird.«
»Nein, wirklich nicht«, sagte Hargorn hastig. »Ich möchte deinen Plänen zur Eroberung von uns Sterblichen keinesfalls im Wege stehen.«
D’arvan sah mit Genugtuung, wie Hargorns Gesicht aufleuchtete, als die Phaerierosse landeten und Maya, die hinter dem Waldfürsten gesessen hatte, zu Boden sprang.
Er kann unmöglich so glücklich darüber sein, sie wiederzusehen, wie ich es bin, dachte D’arvan. Der Anblick seiner geliebten Maya hatte noch in derselben Sekunde einen großen Teil des Schmerzes gelindert, den er seit Pendrals Angriff im Herzen trug. D’arvan konnte es kaum erwarten, endlich wieder mit ihr allein zu sein – wenn nur die Neuigkeiten, die er ihr überbringen mußte, nicht so tragisch gewesen wären.
Maya bedachte ihn mit einem grimmigen Blick. »Was machst du denn schon wieder hier? Ich dachte, du wolltest Aurian helfen!«
D’arvan konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Oh, wie sehr er sich doch darauf gefreut hatte, sie zu überraschen! »Hellorin und ich haben vor meinem Aufbruch einen Plan geschmiedet«, erklärte er ihr. »Er hat eine Möglichkeit gefunden, Aurian mit der Alten Magie zu betrauen, so daß sie die Xandim auch ohne meine Hilfe fliegen kann. Es hat wunderbar funktioniert – also bin ich zu dir zurückgekehrt.«
Maya blickte ihn mit unverändert finsterer Miene an. »Aber was ist, wenn sie dich braucht? Was ist, wenn sie die Hilfe eines anderen Magusch braucht?«
»Sie hat Chiamh«, entgegnete D’arvan mit fester Stimme. »Maya, ich hatte niemals auch nur die geringste Absicht, dich hier zurückzulassen und zu riskieren, daß du unser Kind allein zur Welt bringst. Jetzt habe ich alles in meiner Macht Stehende für Aurian getan, und sie ist überglücklich darüber, daß ich zu dir zurückgekehrt bin – um genau zu sein, sie hat darauf bestanden.« Er hielt ihr die Hände hin. »Und wenn du mich in den Palast läßt, habe ich dir noch allerhand auszurichten …«
»Und was ist mit mir?« fragte Hargorn aufsässig. »Ich habe das verflixte Weibsbild seit zehn Jahren nicht mehr gesehen und bekomme nicht mal ein Hallo von ihr.«
Maya quittierte seine Bemerkung mit einer obszönen Geste. »Ich sehe jedenfalls, daß du dich in den vergangenen zehn Jahren nicht sehr verändert hast – du bist noch genauso brummig und verkniffen wie früher.« Mit einem Lachen Heß sie D’arvan los und rannte ihrem alten Freund entgegen.
Hellorin sah nachsichtig zu, wie Hargorn und Maya einander in die Arme fielen. »Sterbliche«, sagte er kopfschüttelnd.
D’arvan musterte seinen Vater mit einem kalten Blick. »Wo wir gerade von Sterblichen sprechen«, sagte er, »wie bald werden wir für den Angriff auf Nexis gerüstet sein?«
Hellorin zuckte die Achseln. »Wann immer du willst. Ich habe in deiner Abwesenheit alle nötigen Vorkehrungen getroffen.«
»Gut«, sagte D’arvan. »Dann laß uns morgen nacht angreifen.«
Trotz seines gestohlenen Pferdes hatte Parric mehrere kalte, hungrige, elende Tage gebraucht, um von dem Küstendorf Osthafen aus nach Nexis zu gelangen. Er hatte sich unterwegs mit dem Gedanken an die Schänke des Unsichtbaren Einhorns bei Laune gehalten und sich genau ausgemalt, was er alles essen und trinken würde, wenn er endlich dort ankam. Er hoffte nur, daß die alte Henne Hebba sich noch an ihn erinnerte – denn er hatte nicht die Absicht, seine Zeche zu bezahlen.
Da die alte Flußstraße von Osten her unpassierbar war, mußte Parric zuerst nach Norden und um die Hügel herum reiten, bevor er in die Stadt gelangte. Es dämmerte bereits, als er endlich auf die nördliche Hauptstraße bog und von dem Felsvorsprung dort auf die rauchenden Schornsteine von Nexis herabblicken konnte.
Beim Anblick der schwarz livrierten Wachen am Tor wünschte er beinahe, überhaupt nicht zurückgekehrt zu sein. Die Männer waren mürrisch, argwöhnisch – und hatten es eindeutig auf eine Bestechung abgesehen. Nun, da hatten sie Pech gehabt.
Parric setzte ihnen klipp und klar auseinander, daß sie einem traurigen Irrtum erlegen waren, wenn sie glaubten, er hätte Geld. Außerdem informierte er sie darüber, daß er, wenn sie ihn nicht einließen, direkt vor den Toren der Stadt sein Lager aufschlagen und sein Pferd kochen und verspeisen würde. An dieser Stelle ihrer Unterredung hatte er sich dermaßen in seine schlechte Laune hineingesteigert, daß er jedes Wort ernst meinte. Die Wachen warfen einen Blick auf seine grimmige Miene und ließen ihn passieren.
Im Schankraum des Einhorns brannte ein gewaltiges Feuer, und Hebba und Sallana, die Dienstmagd, hatten alle Hände voll zu tun. Die Gaststube war gerammelt voll, und die Hitze und der Lärm waren schier atemberaubend. Für den Kavalleriehauptmann aber war es die Herrlichkeit auf Erden. Aber zunächst einmal mußte Parric sich mit den Ellbogen durch das Gedränge der frühabendlichen Trinker kämpfen. Meistenteils waren es Arbeiter, die hier für gewöhnlich vor dem Abendessen daheim ein oder zwei Gläser Bier tranken. »Hebba!« rief er, als er sich endlich bis zu der Wirtin vorgekämpft hatte. »Ich bin’s!«
Hebbas Miene wurde gletscherkalt. »Ich erinnere mich an dich«, sagte sie. »Du warst der Vulgäre.«
Als freudiges Willkommen ließen diese Worte eine Menge zu wünschen übrig, aber Parric war fest entschlossen, sich diesen Abend durch nichts verderben zu lassen. Es war viele Jahre her, seit er das letzte Mal in einer richtigen Taverne einen anständigen Humpen Bier getrunken hatte, und er hatte ihn sich wahrhaftig verdient. Was hatte er nicht alles durchgemacht – zunächst die Jahre der Sklaverei in Hellorins Stadt, dann das schreckliche Massaker der Nachtfahrer …
Erst in diesem Augenblick wurde Parric klar, daß er keine Ahnung hatte, ob der Geschäftspartner dieser Frau lebte oder tot war. Er wollte gerade mit einem Bericht über das Blutbad herausplatzen, als sein gesunder Menschenverstand ihn im letzten Moment zurückhielt. Die Nachtfahrer galten bei den Behörden hier als Verbrecher. Wenn bekannt wurde, daß er von den Vorfällen in Wyvernesse wußte, würde es zumindest peinliche Fragen geben – wenn nicht Schlimmeres. Die wahrscheinlichste aller Möglichkeiten war eine stille Verhaftung und eine inoffizielle Hinrichtung. Nein – so schwer es ihm auch fiel, er mußte den Mund halten – zumindest bis Pendral tot war. In diesem Augenblick hatte der Kavalleriehauptmann keine Ahnung, wie er den Tod des Hohen Herrn zuwege bringen sollte, aber er beschloß, auf jeden Fall bis zum Morgen zu warten. Dann würde er sich einen Plan zurechtlegen – sobald er sich von den Kopfschmerzen erholt hatte, die er sich heute nacht redlich zu verdienen beabsichtigte.
Der Abend verlief ziemlich genauso, wie der Kavalleriehauptmann es sich ausgemalt hatte. Die Stunden verflogen in einem Rausch guten Essens und guten Bieres. Später dann, als ein paar Humpen ihn zugänglicher gemacht hatten, brauchte er auch nicht mehr allein zu trinken. Tatsächlich schienen im Handumdrehen schon alle nach Hause gehen zu wollen. »Geh noch nicht«, sagte Parric und hielt einen stämmigen Zimmermann am Ärmel fest. »Ihr könnt doch nicht schon alle gehen. Es ist noch so früh! Genug Zeit für noch einen …«
»Du kriegst ganz bestimmt keinen mehr.« Parrics neuer Freund hatte sich irgendwie in Hebba verwandelt, die nun mit einem Besen in der Hand vor ihm stand. Ihr rundes, gerötetes Gesicht hatte einen rebellischen Ausdruck angenommen.
»Aber ich bin doch ein alter Freund vom alten Hargorn«, protestierte der Kavalleriehauptmann. »Alter, alter Freund …«
»Hargorn würde sich mit jedem menschlichen Auswurf anfreunden, der ihm eine traurige Lebensgeschichte auftischt – und außerdem ist er nicht hier. Du hast es jetzt mit mir zu tun. Na los, du – verschwinde endlich. Hast du kein Heim, das auf dich wartet?«
Parric machte einen vergeblichen Versuch, sich zu erheben. »Um genau zu sein«, sagte er, »ich habe keins …« – und fiel der Länge nach aufs Gesicht.
Als der Kavalleriehauptmann erwachte, klebte ihm die Zunge am Gaumen, und eine Herde wilder Pferde galoppierte durch seinen Kopf. Obwohl es stockdunkel war, räumte er nach ein oder zwei Sekunden ein, daß die Sache mit den Pferden zumindest den Tatsachen entsprechen konnte. Wenn man nach dem Geruch urteilte und seinem Bett aus stachligem Stroh, mußte er sich irgendwo in einem Stall befinden.
Wie bin ich bloß hierhergekommen, fragte Parric sich. Große Teile der letzten Stunden des Abends waren aus seinem Gedächtnis einfach verschwunden. Er fühlte sich noch immer benommen von dem Bier, daher mußte es wohl fast Morgen sein. Getrieben von zwei unaufschiebbaren Bedürfnissen, erhob er sich mühsam auf die Füße. Das erste Bedürfnis ließ sich recht leicht stillen – er erleichterte sich einfach in der gegenüberliegenden Ecke des Stalls. Mit dem zweiten verhielt es sich ein wenig schwieriger, aber wenn er nicht bald etwas Wasser zu trinken bekam, würde er zweifellos verdursten.
Schritt um Schritt tastete Parric sich an der rauhen, mit Spinnweben überzogenen Wand entlang aus dem Gebäude heraus. Ihm wurde sofort klar, daß Hebba nicht so hart war, wie sie zu sein vorgab – obwohl sie ihn in die Gosse hätte werfen können, hatte sie ihm im Stall der Gaststube zu einem trockenen Lager verholfen. Als er vor dem Gebäude stand, konnte er seine Umgebung deutlich sehen – der Mond stand hoch und beinahe voll am Himmel und hüllte die Stadt in ein kaltes, blaues Licht.
Der Kavalleriemeister war dankbar für das Licht, sonst wäre ihm womöglich die widerwärtige, dunkle Schleimschicht entgangen, mit der die Innenseite des Pferdetrogs überzogen war. Glücklicherweise befand sich ganz in der Nähe eine Pumpe, so daß er frisches, klares Wasser zu trinken bekam.
Parric zog sich an der Pumpe hoch und wischte sich die kaltgewordenen Hände an seinem Gewand und das tropfnasse Gesicht an seinem Ärmel ab. Bei allen Göttern, was für ein wunderbares Gefühl, wieder in Nexis zu sein! Als Gefangener der Phaerie hatte er ehrlich geglaubt, diesen Ort nie wiederzusehen. Sein Atem gefror in der frostigen Mitternachtsluft, und nun drehte er sich vollends um, um einen Blick auf die Stadt zu werfen. Und was er sah, war der Mühe wahrhaftig wert. Das Einhorn lag auf demselben Plateau wie die Garnison, hoch oben auf der Nordseite des Tals. Von hier aus konnte er hinabblicken und praktisch ganz Nexis unter sich sehen, einschließlich der herrlichen Säulengänge der Großen Arkade, der klobigen Rotunde der Gildehalle und dem hohen Felsvorsprung, der einst das Heim der Magusch gewesen war. Die Akademie und der Felsen, auf dem sie ruhte, warfen einen langen Schatten, der wie eine in ein dunkles Leichentuch gehüllte Gestalt über die ganze Stadt fiel.
Zuerst glaubte Parric, dies sei ein Ergebnis von zuviel Bier. Andere Leute sehen Sterne, ich sehe dunkle Flecken, dachte er und rieb sich die Augen. Dann sah er noch einmal hin und betrachtete die kreiselnde Masse dunkler Punkte, die sich wie ein Bienenschwarm über der Akademie erhoben. Das Bild hatte etwas Vertrautes … Dann fiel es Parric wieder ein, und das Blut gefror in seinen Adern. Irgend jemand hatte den Zeitzauber von den in diesen schwarzen Gewölben gefangenen Greueln genommen, und die Nihilim schwärmten über Nexis aus!
Parric war nicht der einzige, der voller Entsetzen den Zug der Todesgeister beobachtete. Hoch über den nördlichen Mooren, ungefähr eine Meile von Nexis entfernt, stockte die glitzernde Schar von Phaeriekriegern mitten im Flug und zügelte entgeistert ihre Pferde, um mit magisch verstärkter Weitsicht zuzusehen, wie die Nihilim in ihrem wahnsinnigen Totentanz über der Stadt kreisten und dann auf die ungeschützten Straßen hinunterstürzten, um sich ihre Beute zu suchen.
Hellorin brachte sein Reittier neben D’arvans Roß zum Stehen. »Weißt du irgend etwas von diesen Vorgängen?« fragte er. »Du warst der letzte, der mit dieser Magusch geredet hat, der Tochter der Lady Eilin – und sie war die letzte, die sich unterhalb der Akademie aufgehalten hat, wo die Todesgeister gefangen waren. Was hat dieses verwünschte Weibsbild da auf uns losgelassen?«
D’arvan krallte die Fäuste in der Mähne des Xandimrosses fest. »Mir ist vollkommen unklar, wie das passiert sein kann. Aurian hat nur diesen einen Todesgeist befreit – denjenigen, der den Körper des armen Finbarrs geteilt hat. Aber vergiß nicht, der Todesgeist ist aus Wyvernesse geflohen, als ich dort wegging. Vielleicht hat er eine Möglichkeit gefunden, die anderen ebenfalls zu befreien.«
»Wahnsinn. Absoluter Wahnsinn«, schnaubte Hellorin. »Wo hatte sie bloß ihr Gehirn, als sie einen Todesgeist freiließ, um Tod und Entsetzen über die Welt zu bringen? So etwas Lächerliches ist mir überhaupt noch nie untergekommen. Typisch Magusch! Sich in alles einmischen und Schwierigkeiten machen, wo es nur geht!«
»Sie hatte ihre Gründe«, sagte D’arvan, »obwohl ich deiner Meinung bin – im Lichte dieser neuen Entwicklung mag es durchaus ein Fehler gewesen sein. Aber wie dem auch sei, unsere Hauptsorge ist jetzt die Frage, wie sich das auf unsere Pläne niederschlagen wird. Ich glaube wirklich nicht, daß Nexis heute nacht ein sehr gesunder Ort ist.«
»Ich glaube, wir sollten eine Weile hierbleiben und abwarten, was sie tun«, meldete sich Maya, die hinter D’arvan saß, zu Wort. »Schließlich sind wir weit genug weg, um sie kommen zu sehen und sofort die Flucht anzutreten, wenn sie diese Richtung einschlagen.«
»Wer hat dich gefragt, Sterbliche?«
»Scheint mir eine gute Idee zu sein.« Hellorin und D’arvan hatten gleichzeitig gesprochen und sahen sich nun mit finsterem Blick an.
»Du vergißt, mein Herr«, sagte Maya mit kalter Stimme zu Hellorin, »daß ich keine von deinen beschränkten, kleinen Zuchtstuten bin, die zu nichts anderem taugen, als den kostbaren Samen der Phaerie zu empfangen. Ich bin eine Kriegerin, und ich war früher stellvertretende Kommandantin der Garnison von Nexis. Ich weiß, wovon ich rede.«
»Maya hat recht«, sagte D’arvan. »Es wäre eine große Torheit, ihren Rat zurückzuweisen, nur weil sie eine Sterbliche ist.«
»Na schön«, antwortete der Waldfürst leichthin. »Schaden wird es wohl nichts.«
Die Zeit verstrich, und der Mond neigte sich dem Horizont zu. Selbst aus dieser Entfernung konnten sie die Schreie aus der belagerten Stadt hören. Maya drehte sich zu D’arvan um. »Ich bin mir jetzt nicht mehr ganz so sicher, ob das wirklich eine gute Idee war«, sagte sie leise. »Es ist schrecklich, hierbleiben zu müssen und zu hören, wie diese armen Menschen …«
»Sieh nur! Maya – sieh dir das an!«
Die Todesgeister verließen Nexis. Wie ein Wirbelwind von Herbstblättern erhob sich der große, schwarze Schwarm über die Stadt und verdüsterte den untergehenden Mond. Dann zog sich der Schwarm über der Akademie zu einer engen Traube zusammen und schoß mit gewaltiger Geschwindigkeit nach Süden davon.
»Sieben verfluchte Dämonen!« hauchte Maya. »Glaubst du, das waren alle? Und wo wollen sie nur hin?«
»Ja, ich glaube, das waren alle«, sagte D’arvan. »Sie sahen so entschlossen aus … Irgendwie habe ich das Gefühl, daß wir sie in Nexis nicht wiedersehen werden …«
»Mir schien es, als hätten sie nur in der Stadt haltgemacht, um zu fressen«, warf Hellorin ein.
»Das habe ich mir auch überlegt«, erwiderte D’arvan. »Und sie sind nach Süden gezogen … Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, sie haben sich auf die Suche nach Aurian gemacht.«
»Wenn das stimmt, dann mögen ihr die Götter beistehen, falls diese Kreaturen sie finden«, sagte Maya ernst.
Als Hebba erwachte, stand das Fenster offen, und am Fußende ihres Bettes erblickte sie eine dunkle Gestalt. Bevor sie schreien konnte, war die schwarze Silhouette über ihr. »Halt den Mund! Schrei nicht!« Eine Hand legte sich fest über ihren Mund, und ihr Angreifer redete in einem angespannt zischenden Flüsterton auf sie ein. »Ich bin es, Parric. Die Todesgeister sind wieder da – wir sind in furchtbarer Gefahr. Gib keinen Laut von dir. Nimm diese Decken, und komm sofort mit mir in den Keller. Versuch, ruhig zu bleiben, um unser beider willen. Ich werde jetzt meine Hand wegnehmen – in Ordnung?«
Hebba nickte. Als Parric die Hand wegzog, holte sie tief Luft, um zu schreien – und augenblicklich preßte Parric ihr die Hand abermals auf den Mund, fester als zuvor. »Hör mal zu, du hirnlose, alte Krähe – ich tue das nicht zum Spaß. Ich hätte schon lange weg sein können, wäre ich nicht den ganzen Weg hier raufgeklettert, um deinen Hals zu retten. Wenn du noch mal schreist, verschwinde ich, bevor du das nächste Mal Atem holen kannst – und dann kannst du dich allein gegen die Todesgeister wehren.« Als der kleine Mann das nächste Mal die Hand wegzog, biß Hebba die Zähne zusammen, um mit Gewalt den Schrei zu ersticken, der in ihr aufsteigen wollte. Mit zitternden Händen griff sie nach den Decken und folgte Parric die Treppe hinunter. Er hatte sein Schwert in der Hand, aber offen gesagt, sah sie keinen besonderen Sinn darin. Sie hatte die Todesgeister während ihres letzten Anschlags auf Nexis bei ihrem tödlichen Werk erlebt, und es gab kaum etwas, was Schwerter – oder irgend etwas anderes – gegen solche Geschöpfe auszurichten vermochten.
Es war ein Alptraum, ohne Licht die steile, unebenmäßige Kellertreppe hinunterzusteigen, aber Hebba war klar, daß sie nicht einmal den leisesten Funken entzünden durften. Parric zog die Falltür über ihnen zu und versperrte sie von der Innenseite. »Vielleicht denken sie nicht daran, hier zu suchen«, flüsterte er. »Sie werden draußen jede Menge andere Beute finden.«
Hebba schauderte.
»Glaubst du, du könntest mir eine von diesen Decken abgeben?« erkundigte sich der Kavalleriehauptmann klagend. »Wir können es uns genausogut ein wenig bequem machen – sieht so aus, als würden wir die ganze Nacht hier festsitzen.«
»Schnell«, rief D’arvan und drängte sein Xandimroß in die Luft. »Reiten wir jetzt, solange die Nihilim noch abziehen! Vorwärts!« Die Phaerie hinter ihm folgten seiner Geste und seinem Beispiel und erhoben sich in die Lüfte, zogen hinter ihm her wie ein glitzernder Kometenschweif. Nachdem sie sich in der Luft zusammengeballt hatten, jagten sie auf die Stadt herab.
Hellorin brauchte nur einen Augenblick, um sein Reittier neben das seines Sohnes zu bringen. »Verflucht! Was denkst du dir bloß dabei?« schrie er. »Ich weiß, ich habe gesagt, dies sei dein Feldzug, aber sollten wir nicht besser warten, bis die Nihilim fort sind?«
D’arvan schüttelte den Kopf. »Die interessieren sich nicht für uns. Was sie auch wollen, es Hegt im Süden. Wenn wir jedoch schnell genug sind, werden die Nexianer denken, wir hätten sie vertrieben!«
Der Magusch tauschte einen Blick mit Maya. Ihr langes, schwarzes Haar hatte sich aus dem Zopf gelöst und wehte im Wind hinter ihr her, und ihre Augen blitzten, so sehr genoß sie diesen wilden Ritt. Sie sah aus wie eine der Schlachtmaiden aus den uralten Legenden. Als er jedoch ihren Blick auffing, las er die Zweifel in ihren Augen. »Es wird schon gutgehen, Liebste«, rief er ihr zu. »Wir werden uns diese Sache so leicht machen wie nur möglich, und am Ende werden die Nexianer begreifen, daß wir immer noch besser sind als …« Er sah seinen Vater von der Seite an.
»Da hast du wohl recht«, erwiderte Maya. »Hm, ich werde die meistgehaßte Frau in Nexis sein, und ich sehe keinen Sinn darin, das länger hinauszuschieben.«
»So schlimm wird es schon nicht sein«, versuchte D’arvan sie zu beruhigen. Dann waren sie über der Stadt, und seine Worte gingen in dem silbrigen Lärmen der Phaeriehörner unter.
Selbst in den Tiefen des Kellers konnte Parric das Entsetzen und die Panik in den Straßen draußen hören. Er schauderte und versuchte, nicht darüber nachzudenken, was da draußen vorging. Hebba stieß einen zittrigen Schrei aus und zog sich die Decken über den Kopf, um möglichst wenig zu hören. Eine Weile lauschte der Kavalleriehauptmann mit ausdruckslosem Gesicht dem mißtönenden, hohen Sirren, mit dem die Nihilim sich auf ihre Beute stürzten; den Geräuschen laufender Füße und den entsetzlichen Schreien jener, die nicht schnell genug liefen. Dann brachen die qualvollen Geräusche abrupt ab – und das war auf seine eigene Art und Weise noch schlimmer. Was geschah da oben? Konnten sie es riskieren, ihr Versteck zu verlassen? Oder hatten die Todesgeister jeden draußen in der Stadt abgeschlachtet und warteten jetzt nur darauf, die Überlebenden, die aus ihren Schlupflöchern hervorkrochen, einen nach dem anderen ebenfalls zu töten? Vielleicht war es sicherer, noch eine Weile hier unten zu bleiben …
Dann hörte Parric ein anderes Geräusch – das hohe, klare, vibrierende Tönen der Phaeriehörner; das Geräusch kam schnell näher. Parrics Flüche waren laut und einfallsreich genug, um Hebba voller Entrüstung unter ihren Decken hervorzulocken. In all der Aufregung und den Tragödien seit seiner Rückkehr von Wyvernesse hatte er D’arvans Drohung, die Stadt anzugreifen, vollkommen vergessen. Der Magusch jedoch hatte es nicht vergessen – und tatsächlich! Der Bastard war bereits hier!
»Bleib, wo du bist«, befahl Parric der erstaunten Hebba. »Wenn ich fort bin, mußt du die Falltür wieder hinter mir verriegeln – und mach ja nicht auf, es sei denn, es ist jemand, den du ganz sicher kennst und von dem du weißt, daß du ihm deine Tugend, dein Geld und dein Leben anvertrauen könntest.«
Und dann war er fort, jagte die Kellertreppe hinauf und ließ Hebba – die ausnahmsweise einmal vor Entrüstung sprachlos war – hinter sich zurück.
Lord Pendral wurde von einem furchtsamen Diener aus seinem weindurchtränkten Schlummer gerissen. »Lord! Lord Pendral, wach auf! Die Todesgeister sind zurück!«
»Was? Wie?« Pendral wuchtete sich über das magere, junge Mädchen, dessen Brüste kaum zu Knospen herangereift waren und das in dieser Nacht sein Bett geteilt hatte. Seine Füße hatten seit Jahren nicht mehr so schnell den Boden berührt. Grob schob er den Diener beiseite. »Aus dem Weg. Ich muß mich verstecken!« Er warf sich einen pelzgefütterten Umhang über sein Nachtgewand und huschte mit einer Geschwindigkeit, die seinen gewaltigen Leib Lügen strafte, in seine Schatzkammer. Die Tür aus dickem Holz, die mit Eisenriegeln verstärkt war, schlug hinter ihm zu. Der Diener und das Mädchen sahen einander nur wortlos an, während von der anderen Seite der Tür mehrfaches Kücken und Knarren ertönte – das Geräusch von Schlüsseln, die sich in Schlössern drehten und von Riegeln, die in ihre Sockel krachten.
Plötzlich gellte das Geplärr von Hörnern über den nächtlichen Himmel. Der Diener zuckte zusammen, preßte sich vor Entsetzen eine Hand auf den Mund und stürmte ans Fenster, um hinauszuspähen. Das verwahrloste Mädchen zwängte sich so hastig es nur konnte in seine Kleider; sein Gesicht spiegelte eine erstaunliche Ruhe wider. Der Diener vermutete, daß die Phaerie dem Mädchen, das eine Nacht lang dem für seine perversen Gelüste bekannten Pendral ausgeliefert war, kaum noch angst machten. Dann warf der Mann einen Blick auf die massive, versperrte Tür von Pendrals Schatzkammer. Er wird da drin absolut nichts mitbekommen, dachte er – und warf noch einmal einen Blick auf das Mädchen. »Meinst du, wir sollten es ihm sagen?«
Sie zog sich eine dünne Bluse über die blauen Flecken, die ihre Brüste und ihre Kehle bedeckten. »Nein.« Einen Augenblick lang sah sie aus, als wolle sie ausspucken. »Soll der Bastard das doch selber rausfinden.«
Die Phaerie jagten auf eine scheinbare leere Stadt hinab. »Und vergeßt nicht«, gab D’arvan seinen Streitmächten mit Hilfe der Gedankenrede Anweisung, »diesmal wollen wir so wenig Gewalt und Blutvergießen wie nur möglich.« Er hatte das unangenehme Gefühl, mit sich selbst zu reden.
D’arvan wählte für seine Ansprache an die Nexianer die seiner Meinung nach zentralste Stelle der Stadt, das Dach der Großen Arkade. Dann verstärkte er durch magische Kraft seine Stimme, so daß jeder ihn hören konnte. »Bürger von Nexis – ihr könnt jetzt eure Häuser verlassen. Euch droht keine Gefahr mehr. Die Phaerie haben die Todesgeister vertrieben, und solange wir hier sind, werden sie euch nicht mehr heimsuchen. Dies ist kein Überfall wie die vorherigen – wir nehmen lediglich dem korrupten Hohen Herrn die Herrschaft aus der Hand. Wir hoffen, daß Sterbliche und Phaerie in Zukunft zu ihrem gemeinsamen Nutzen zusammenarbeiten werden, und solange ihr euch unserer Herrschaft nicht widersetzt, wird niemandem ein Leid geschehen. Mit eurer Hilfe können wir den Schaden beheben, den der Erzmagusch Nexis zugefügt hat, und diese Stadt zu neuer Größe führen.«
Als D’arvan seine Rede beendete, herrschte tödliche Stille. Dann brach Hargorn, der neben Maya stand, in verächtliches Gelächter aus. »Du erwartest doch nicht, daß sie das glauben?« höhnte er. Es sah so aus, als hätte er recht. Die Straßen blieben dunkel und still. Niemand kam aus seinem Haus, um zu jubilieren und D’arvan zum Retter der Stadt auszurufen.
»So«, sagte Hellorin. »Du hast dich geirrt – das ist der Beweis. Wir haben es auf deine Weise versucht – jetzt zeigen wir den Sterblichen die feste Hand, die sie brauchen.« Er wandte sich an seine versammelten Streitmächte. »Na schön – ihr alle kennt den Plan. Sichert die Garnison und die Akademie, stellt Patrouillen auf, legt sämtlichen Unruhestiftern einen Kragen um den Hals und bringt sie anschließend nach Norden. Jeglicher Widerstand ist mit Gewalt zu brechen. Und jetzt los!«
»Nein!« schrie D’arvan entsetzt. Niemand hörte ihm zu. Oben auf dem Dach, auf dem sie standen, vergossen Maya und er heiße Tränen, während sie tatenlos die Unterwerfung ihrer Stadt mit Flamme und Schwert mitansehen mußten.
Schließlich stieg die rote Sonne durch den schweren Rauch am Himmel auf und beleuchtete die verwüsteten Überreste der Stadt. Die Phaerie hoben in Gruppen die letzten Nester der Unbeugsamen aus, indem sie einfach jedes Gebäude, in dem sie sich versteckten, in Brand setzten.
»So, das wär’s.« Hellorin stieg auf sein Roß und wandte sich mit wölfischem Lächeln an seinen Sohn. »Lebewohl, mein Sohn – ich gebe dir deine Stadt. Jetzt, da sie erobert ist, liegt es an dir, mit ihr zu verfahren, wie es dir beliebt.« Ohne auf eine Antwort zu warten, trieb er sein Pferd himmelwärts und machte sich auf den Weg zurück nach Norden.
»Dieser elende Mistkerl«, murmelte Maya mit belegter Stimme. »Er hat das die ganze Zeit so geplant.«
»Und jetzt müssen wir uns mit den Trümmern und den Ruinen abplagen, die er hinterlassen hat«, sagte D’arvan verbittert. »Ich hätte gute Lust, einfach wegzugehen – nach Süden zu ziehen, Aurian zu suchen.«
»Nein. Nein, D’arvan, das können wir nicht tun. Noch nicht.« Mayas Gesicht zeigte grimmige Entschlossenheit. »Wenn wir jetzt weglaufen, werden die Nexianer Hellorin als Herrscher bekommen. Das können wir ihnen nicht antun. Nein, irgendwie werden wir wohl hierbleiben und uns nach Kräften bemühen müssen, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen – vorzugsweise ohne dabei von eben den Leuten, die wir schützen wollen, in Stücke gerissen zu werden.«
Während die Flammen mit unersättlicher Gier an den Mauern und dem Dach von Vannors altem Herrenhaus züngelten, kehrte Parric dem Brand den Rücken zu und ging pfeifend davon. Er folgte dem flüchtenden Diener hügelabwärts zur alten Flußstraße. Mit einer Geste, als wäre ihm der Gedanke erst plötzlich gekommen, warf er den brennenden Stumpen einer Fackel ins Gebüsch. »Nun, Pendral«, sagte er fröhlich, »ich hätte Heber deinen Kopf auf einen Pfahl gespießt, aber da du ja nicht rauskommen wolltest …« Er zuckte mit den Schultern. »Ah, gut – am Ende macht es wohl doch keinen großen Unterschied – und wenigstens habe ich dich vor den Phaerie erwischt.«
Die Straßen von Nexis waren dann aber doch zuviel für seinen grimmigen Frohsinn. Parric huschte von einer Deckung zur anderen, mied sorgfältig die Patrouillen der stahläugigen Phaerie und versuchte so gut es ging, den Blick von den ausgebrannten Ruinen und den Leichen, die die Straßen übersäten, abzuwenden. D’arvans Versprechen waren wirklich nicht viel wert, dachte er verbittert.
Endlich erreichte er sein Ziel – das Einhorn. Besser, er ging gleich hinunter in den Keller und rettete Hebba aus ihrem Versteck, sonst saß die furchtsame Frau womöglich dort unten fest, bis die Sonne wieder kalt wurde. Aber er hatte sich offensichtlich geirrt – zu seiner großen Überraschung stellte er fest, daß das Haus nicht nur unversehrt geblieben war, sondern daß Hebba auch bereits an einem der Tische saß und sich ein großes Glas Brandy zu Gemüte führte.
Parric, der diesen weiten Weg nur deshalb auf sich genommen hatte, um sie zu retten, war außer sich vor Empörung. »He!« sagte er. »Ich dachte, ich hätte dir extra eingeschärft, du sollst nicht rauskommen, ehe du …«
»Ehe ich jemanden fand, dem ich trauen konnte, ja«, warf Hebba ein. »Und da ist er.«
Aus dem Hinterzimmer kam, mit einer weiteren Hasche Schnaps ausgerüstet, Hargorn. Parric stieß einen Freudenschrei aus. »Ich dachte, du wärest tot!« rief er.
»Ich doch nicht«, sagte Hargorn. Sein Lächeln wirkte jedoch ein wenig dünn und angespannt. »Obwohl der Tod, nach allem, was ich gerade mit angesehen habe, wahrscheinlich erheblich geruhsamer wäre.«
»Keine Sorge«, antwortete Parric. »Wir werden ihnen das nicht einfach durchgehen lassen. Wir haben schon früher gegen Tyrannen rebelliert, du und ich. Wahrhaftig! Wir können …«
»Nein, können wir nicht«, sagte Hargorn tonlos. »Die Stadt steht jetzt unter der Herrschaft der Phaerie, Parric – und wir können nichts, aber auch gar nichts, daran ändern. Wir haben nur eine einzige Wahl – wir können uns zwischen D’arvans Angebot einer friedlichen Zusammenarbeit und der Brutalität Hellorins entscheiden. Die meisten Nexianer begreifen das noch nicht – und ich fürchte, wir werden mithelfen müssen, sie zu überzeugen.«
Parric starrte ihn entgeistert an. »Was? Diesmal unterstützen wir den Tyrannen?«
»Na, komm schon, Parric. D’arvan hat das Gemetzel nicht befohlen – das müßtest du eigentlich wissen. Es war Hellorin. D’arvan ist im Grunde kein Tyrann – und vergiß nicht, daß unsere Maya demnächst … hm, ich weiß nicht – Königin sein wird, oder so etwas in der Art …« Hargorn zuckte die Achseln. »Vielleicht fühlst du dich besser, wenn du D’arvan einfach als Eroberer bezeichnest. Aber wie du ihn auch nennst, es spielt keine Rolle – wir haben keine Wahl mehr.«