18 Der Bussard

Irgendwann gab Forral die Hoffnung auf, in dieser Nacht überhaupt noch Schlaf zu finden. Mit einem verbitterten Seufzer stieg er aus seinem einsamen Bett, entzündete die Lampe und schenkte sich einen Becher Wein ein. Es war eine furchtbar lange Nacht gewesen. Obwohl diese unterirdischen Höhlen sein instinktives Zeitgefühl oft trogen, war er sich sicher, daß der Sonnenaufgang kurz bevorstand. Der Schwertkämpfer legte sich eine Decke um die Schultern, zog seinen Stuhl dicht an den Kamin in der Ecke und legte einen Holzscheit in die Feuerstelle. Dann kauerte er sich über die Kohlen, bis das neue Holz Feuer gefangen hatte. Den Becher hielt er mit beiden Händen umklammert, nippte geistesabwesend an dem Wein und kämpfte gegen seine Enttäuschung. Wieder und wieder sagte er sich, daß er ein absoluter Narr gewesen war, sich darauf zu verlassen, daß Aurian heute nacht zu ihm kommen würde.

Seufzend schenkte Forral sich noch einen Becher Wein ein. Obwohl Aurian ihm erzählt hatte, warum es ihr widerstrebte, ihn an sich heranzulassen, konnte es der Schwertkämpfer doch nur schwer verstehen. Sie hatte gesagt, sie könne sich einfach nicht daran gewöhnen, daß der Geist und die Persönlichkeit des einen Geliebten in der äußeren Gestalt des anderen steckten – aber wenn man bedachte, was sie einander einst bedeutet hatten, hätte sie ihn doch gewiß mit offenen Armen willkommen heißen müssen? Forral, dem es immer leichter fiel zu vergessen, daß er nicht in seiner eigenen wahren Gestalt zurückgekehrt war, fühlte sich von ihrem Verhalten zutiefst verletzt.

»Du bist erst seit ein paar Tagen wieder da«, sagte er sich. »Gib dem armen Mädchen doch Zeit – sie wird schon zu dir kommen …« Aber würde sie das wirklich tun? Wie gut er sich noch aus früheren Zeiten an Aurians Sturheit erinnerte! Nein, auch wenn es jetzt mitten in der Nacht war, so würde es für sie beide doch wahrscheinlich besser sein, die ganze Sache gleich hier und jetzt zu klären, solange sie noch in Sicherheit waren und ungestört beisammen sein konnten. Mit plötzlicher Entschlossenheit trank er den Becher leer und machte sich auf die Suche nach der Magusch.

Ihr Zimmer war leer, abgesehen von einer der großen Katzen, die sich im Schlaf zusammengerollt hatte und das ganze, ordentlich gemachte Bett für sich beanspruchte.

Das Tier hob den Kopf, als Forral in die Tür trat, öffnete träge ein Auge und entblößte mit seinem Gähnen eine wirklich furchterregende Ansammlung scharfer, funkelnder Fangzähne. Obwohl Forral sich ziemlich sicher war, daß die Katze ihm nichts zuleide tun würde, machte er trotzdem hastig einen Schritt rückwärts. Aurian war eine Närrin, diesen wilden, gefährlichen Tieren solches Vertrauen zu schenken, und der Schwertkämpfer war zu klug, um ihrem Beispiel zu folgen und bei Tieren von so gewaltiger Kraft und Größe irgendwelche Risiken einzugehen.

Eine schnelle Durchsuchung der Küche und der Gemeinschaftshöhlen zeigte Forral alles, was er wissen mußte. Er stürmte zu der Tür von Zannas Quartier und hämmerte laut dagegen. Nach wenigen Augenblicken stand Tarnal barfüßig und nur mit seiner Hose bekleidet vor ihm. Seine braunen Augen glitzerten zornig. »Was geht hier vor, Mann? Bist du betrunken? Du hast die Kinder geweckt!«

»Wo ist Aurian?« fragte der Schwertkämpfer scharf. »Wohin ist sie gegangen?«

»Woher soll ich das wissen?« fragte der Schmuggler gereizt zurück. »Sie wird wohl im Bett sein, wenn sie klug ist – genau da, wo wir alle zu dieser Stunde hingehören …«

Aber hinter Tarnal erblickte Forral Zanna in ihrem Nachtgewand. Sie hatte sich einen Schal um die Schultern gelegt und lugte zaghaft hinter dem Vorhang hervor, der zu den Schlafquartieren führte. Mit einem Fluch zwängte Forral sich an dem jungen Schmuggler vorbei und riß den Vorhang beiseite, um die Nachtfahrerfrau zur Rede zu stellen. »Wo ist sie, Zanna? Verflucht, Weib, rede!«

Selbst in seinem neuen Körper war Forral viel größer und stärker als die beiden, aber Zanna ließ sich nicht einschüchtern. »Aurian hat mich gebeten, sie an den Wachen vorbeizuführen. Sie hat mir aufgetragen, niemandem zu sagen, wohin sie gegangen ist – und ich habe es ihr versprochen«, sagte Zanna fest.

»Also, hör mal, Anvar oder Forral oder wer auch immer du bist«, mischte Tarnal sich in das Gespräch ein. Dann schob er sich zwischen die beiden, und als er weitersprach, klang seine Stimme heiser vor Zorn. »Wie kannst du es wagen, hier mitten in der Nacht reinzustürmen und meine Frau zu bedrohen? Verschwinde, und zwar sofort, oder ich werfe dich eigenhändig hinaus.«

Der alte, rauflustige Forral hätte über eine solche Drohung nur gelacht, aber Tarnal war, wenn auch von schlanker Gestalt, doch stark und durchtrainiert; er war es gewöhnt, mit Seil und Ruder umzugehen, und der Schwertkämpfer war sich nicht ganz sicher, wie er mit seinem neuen Körper in einem Kampf abschneiden würde. Außerdem ließ ihn seine Besorgnis um die Magusch, wenn man das Ganze aus den Augen der beiden Schmuggler betrachtete, wie einen ungehobelten Klotz dastehen … Forral trat einen Schritt zurück und streckte entschuldigend die Hand aus. »Es tut mir leid, Zanna, Tarnal. Aber Aurian hat heute nacht nicht in ihrem Bett geschlafen, und wenn sie die ganze Zeit fort war, kann sie sich in alle möglichen Schwierigkeiten gebracht haben. Ich möchte mich nur versichern, daß sie nicht in Gefahr ist.«

Mit etwas Mühe brachte er sogar ein Lächeln zustande. »Na, komm schon, Zanna«, sagte er mit sanftem Drängen. »Überleg doch, wie du dich fühlen würdest, wenn Tarnal wer weiß wohin verschwunden wäre. Würdest du dir nicht auch Sorgen machen? Und wenn sie die ganze Nacht fort war, dann bin ich doch gewiß zu spät dran, um mich einzumischen – ganz gleich, was sie vorhatte? Es kann doch jetzt nichts mehr schaden, wenn du es mir erzählst, oder?«

»Ich muß zugeben, Zanna, daß Forral da nicht ganz unrecht hat«, warf Tarnal ein. »Aurian ist jetzt schon seit Stunden weg. Wenn sie es geschafft hat, sich in Gefahr zu bringen, glaube ich nicht, daß wir einfach tatenlos zusehen sollten.«

Zanna runzelte nachdenklich die Stirn. »Na schön«, sagte sie schließlich. »Ihr habt recht – ich kann mir auch nicht vorstellen, daß wir ihre Pläne jetzt noch irgendwie durchkreuzen können. Aurian ist zum heiligen Hügel gegangen.«

»Was?« schrie Tarnal. »Und du hast das zugelassen?«

»Zu dem stehenden Stein?« fragte Forral verwirrt. »Was hat das zu bedeuten?«

»Aurian sagte, es sei von allergrößter Wichtigkeit. Sie weiß schon, was sie tut«, beharrte Zanna, an ihren Mann gewandt. »Sie kann auf sich selbst aufpassen – und außerdem ist Shia mit ihr gegangen, um sie zu bewachen.«

»Was hat es mit diesem Stein auf sich, verflucht noch mal?« brüllte Forral. »Kann mir bitte irgend jemand mal verraten, was hier eigentlich los ist?«

»Es ist ein magischer Stein. Er ist gefährlich. Wir wagen uns nicht in seine Nähe«, sagte Tarnal angespannt. Gleichzeitig zwängte er sich in seinen Rock und legte seinen Schwertgürtel um. »Zanna, du mußt den Verstand verloren haben, sie allein da raufgehen zu lassen. Komm, Forral – wir machen uns besser auf die Suche nach ihr.«

»Ich gehe auch mit.«

Forral und Tarnal fuhren herum und sahen Grince in der Tür stehen. »Wie lange hast du dort gelauscht?« fragte der Schwertkämpfer verärgert.

»Ihr habt mich mit eurem Gebrüll aufgeweckt.« Der Dieb sah Forral ernst an. »Die Lady Aurian war gut zu mir. Wenn sie irgendwie in Gefahr ist, dann möchte ich helfen.«

Forral zuckte die Achseln. »Wie du willst.« Dann ging er mit langen Schritten durch den Korridor, ohne abzuwarten, ob die anderen ihm nun folgten oder nicht.

Obwohl Forral sich nicht für einen Feigling hielt konnte er doch ein ehrfurchtsvolles Schaudern nicht unterdrücken, als er zum ersten Mal einen Fuß auf den Rasen des heiligen Hügels setzte. Der Wind der vergangenen Nacht hatte sich gelegt, und der bleiche Himmel zeigte bereits das kalte Licht, das der Dämmerung vorausging. Der spiegelglatte Ozean unter ihm hatte die Farbe von Eisen und verlorenen Träumen. Auf dem Hügel konnte Forral schließlich den hohen Stein erkennen, der schwarz und finster in den trostlosen Himmel ragte. Von Aurian keine Spur.

»Sie muß auf dem Gipfel sein«, murmelte Tarnal, als hätte er die Gedanken des Schwertkämpfers gelesen. »Von hier unten können wir sie nicht sehen.«

»Nein, aber sie müßte uns sehen«, erwiderte Forral zweifelnd. »Was bedeutet, daß sie sich entweder vor uns versteckt oder irgendwie verletzt ist und uns nicht rufen kann.« Ohne ein weiteres Wort machte er sich mit schnellem Schritt auf den Weg den Hügel hinauf.

Ein Finger blutroten Lichtes berührte die Oberfläche des Steins, als die Sonne am Horizont erschien. Ein Bussard flog tief über den Kopf des Schwertkämpfers hinweg und schwebte auf der Jagd nach den kleinen Geschöpfen der Dünen dicht über die Spitze des Steins. Forral interessierte sich nicht für solche Einzelheiten. Als er den Gipfel erreichte, bot sich ihm ein Anblick, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Aurians Körper lag neben dem Stein auf dem Boden – die Hände um den Erdenstab auf ihrer Brust gefaltet und wie zu einem Begräbnis hergerichtet. Die große Katze stand über ihr und bewachte ihre scheinbar leblose Gestalt.

Der Schwertkämpfer handelte, ohne nachzudenken. Da er nur Augen für die Magusch hatte und keinen Gedanken an ihre Wächterin verschwendete, rannte er auf Aurian zu und rief ihren Namen. Shia riß den Kopf hoch. Sie verließ die Magusch und stolzierte mit steifen Beinen und drohendem Knurren auf ihn zu. Fluchend verlangsamte Forral seinen Schritt und zog sein Schwert. Die Katze umkreiste ihn wachsam, und ihr flammender, haßerfüllter Bück wich keine Sekunde lang von seinem Gesicht. Tarnal versuchte, sich an ihr vorbeizuschleichen, solange ihre Aufmerksamkeit dem Schwertkämpfer galt, aber die Katze sprang mit einem Knurren auf ihn zu und zwang ihn zu einem hastigen Rückzug. Der Dieb war plötzlich verschwunden – die kleine Ratte war wahrscheinlich weggelaufen, dachte Forral. Während Shia abgelenkt war, hatte Forral es geschafft, etwas näher an die Magusch heranzukommen. Aber nun sprang die Katze abermals auf ihn zu und versuchte, beide Männer gleichzeitig im Auge zu behalten.

»Halte dich von ihr fern!«

»Was?« Forral schüttelte den Kopf. Woher war diese Stimme gekommen? Sie hatte nicht nach Tarnal geklungen. Hatte er sich diese Sache nur eingebildet?

»Zurück, Mensch! Wenn du ihren Körper anrührst, während sie Zwischen den Welten wandelt, könnte Aurian sterben!«

Forral, der an der bedrohlichen Katze vorbei blickte, sah, wie der Dieb sich hinter dem großen Stein hervorschlich. Während die anderen mit sich selbst beschäftigt waren, war er um den Hügel herumgegangen und hatte sich schließlich von hinten an Shia angeschlichen. Nun hatte er Aurian erreicht und kniete über ihrer stillen Gestalt, um nach ihrer Hand zu greifen. Seine Stimme drang klar durch die Stille des frühen Morgens:

»Komm zurück, Lady! Du darfst uns jetzt nicht verlassen – komm zurück, bitte.«

Dann schien alles gleichzeitig zu geschehen. Mit einem wilden Fauchen stürzte Shia sich auf den Dieb und schlug ihn mit der Pfote von der Magusch weg, so daß er der Länge nach ins Gras fiel. Ein eisiger Wind von Norden trieb dunkle Wolken über den Himmel und ballte sie direkt über dem Stein zu einer dunklen, wogenden Masse zusammen. Die Luft war plötzlich schneidend kalt, und scharfe Hagelkörner schossen über den ungeschützten Gipfel. Mit einem bedrohlichen Rumoren regte sich der Monolith und schaukelte auf seinem Sockel hin und her. Der Körper der Magusch zuckte krampfartig, und mit einem schauerlich schrillen Geräusch schoß ein gewaltiger Atemzug in ihre Lungen. Aurians von Panik geweitete Augen flogen auf, und ihr Stab rollte weg, als sich vom Boden aufraffte; verzweifelt griff sie mit leeren Händen ins Nichts. Der Bussard, der über dem Hügel gekreist hatte, stürzte, wie tödlich getroffen vom Himmel herab und fiel mit einem dumpfen Aufprall dicht vor Aurians ausgestreckter Hand auf den Rasen.

Die Magusch kroch auf allen vieren durchs Gras und riß den Stab an sich. »Lauft!« schrie sie mit aller Kraft. Grince rappelte sich hoch, warf einen einzigen Blick auf ihr Gesicht und gehorchte. Forral, der ihre Panik spürte und nicht länger durch die Katze behindert wurde, packte ihren Arm, riß sie auf die Beine, und gemeinsam flohen sie neben Shia den Hügel hinunter. Tarnal und Grince, die immer wieder auf dem nassen, gefrorenen Gras auszurutschen drohten, rannten voraus. plötzlich drehte Aurian sich um, als antworte sie auf einen Ruf, den nur sie hören konnte. Mit einem unterdrückten Aufschrei riß sie sich aus Forrals Umklammerung los und rannte den Hügel wieder hinauf.

»Was zum … Komm zurück, du Närrin!« Der Schwertkämpfer fuhr auf dem Absatz herum und setzte ihr nach. Aurian rannte zu dem betäubten Vogel, riß ihn an sich und lief dann denselben Weg, über den sie gekommen war, wieder zurück.

Plötzlich schoß aus der Krone finsterer Wolken ein Blitz hervor und traf mit tödlicher Genauigkeit den Monolithen. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen, das wie ein Donnerschlag klang, brach der große Stein in zwei Hälften, und eine ungeheure Explosion erschütterte den Gipfel des Hügels.

Die ferne Totenklage der Phaerie war wie das Sirren einer Schwertklinge, die die Luft durchschnitt. Die wilden Schreie ihrer silbernen Hörner waren wie der unbarmherzige Atem des Winters auf dem Wind. Vannor wälzte sich im Schlaf rastlos von einer Seite auf die andere und träumte vom Tal und der Lady Eilin, die ein glühendes Schwert in der Hand hielt. Dann erwachte er und setzte sich mit einem heiseren Entsetzensschrei jäh auf. Die Hörner und das Heulen waren jetzt lauter. Dies war kein Traum – der Angriff auf Hellorins Stadt mußte gescheitert sein, und die Phaerie waren nach Nexis gekommen, um Rache zu nehmen.

Vannor streifte sich über, was ihm gerade in die Hände fiel, und rannte zum Fenster. Schon jetzt konnte man die Wilde Jagd sehen; Streifen glitzernden Lichts wölbten sich über den Himmel wie Sternschnuppen. In der Stadt riefen die blechernen Hörner zum Kampf, und in der Garnison läutete die große Warnglocke, um den Nexianern die Gefahr kundzutun, so wie es seit der Verheerung Sitte war.

Viel näher als diese Geräusche war der Tumult von Stimmen im Erdgeschoß, wo Vannors Hauspersonal in Panik geriet. Durchs Fenster konnte der Kaufmann die Lakaien und Dienstmädchen in den Garten rennen sehen, wo bereits die verängstigten Gärtner und Stallburschen zusammengelaufen waren. Vannor riß das Fenster auf. »Hinein mit euch«, brüllte er. »Zurück ins Haus, ihr Narren – und bleibt dort.« Dann packte er sein Schwert und lief die Treppe hinunter. Zum ersten Mal, seit sie im Zorn Abschied genommen hatte, war er froh, daß Dulsina nicht mehr bei ihm war. In den geheimen Höhlen der Nachtfahrer würde sie wenigstens in Sicherheit sein.

Während Vannor von seinem Herrenhaus hoch oben auf dem Hügel zusah, fielen die Phaerie wie ein Feuersturm über die Stadt her; von ihren schimmernden Roben, die hinter ihnen her wehten, ging ein Funkenregen auf Nexis nieder. Die jubilierenden Hörner hatten jetzt einen tieferen, bedrohlicheren Klang angenommen. Vom Dach des Maguschturms flammten Lichtspeere auf, als die Unsterblichen auf ihren gewaltigen Pferden vorüberritten. Das Leuchten breitete sich schnell über die gewölbten Seiten des Gebäudes aus und umfaßte schließlich den ganzen Komplex der Akademie. Selbst die geborstene Hülle der Wetterkuppel und die üppigen Verzierungen der großen Bibliothek wurden von gleißendem Sternenlicht nachgezeichnet. Wo auch immer die Phaerie auftauchten, sprangen ähnliche Lichtflecken auf, die sich mit beängstigender Geschwindigkeit durch die ganze Stadt verbreiteten.

Für die Dauer einiger Herzschläge war es ein Anblick atemberaubender Schönheit. Dann zerstörte ein hartes, zorniges Licht das träumerische Schimmern, und überall schossen hungrige Rammen auf, bis das Schrillen der Hörner von Schreien übertönt wurde.

Dann rannte Vannor los, hetzte durch die brennenden Straßen, sah einen Mann, der von einem Phaerieschwert in zwei Hälften gespalten worden war … Seine Gedärme ergossen sich über die Pflastersteine … Ein kleines Mädchen umklammerte eine Stoffpuppe und weinte über der Leiche seiner toten Mutter … Ein junger Bursche kam, eingehüllt in einen Feuerball, aus einem brennenden Haus gerannt. Eine Nexianerin kreischte laut, als eine Phaeriefrau mit brennenden Saphiraugen ihr ihre Kinder wegriß und hoch in die Luft trug … » Und alle Opfer hatten den Blick auf den Hohen Herrn von Nexis gerichtet; anklagend, verfluchend … Wieder und wieder wiederholten sich die Szenen von Folter, Qual und Gemetzel vor Vannors Augen, während die Phaerie grauenerregend und mit kalten Augen in jeden Winkel drangen, umschleiert von der schillernden Pracht ihrer Magie …«

»Vannor ist in seinem eigenen Geist gefangen«, murmelte D’arvan. »Er ist ein Sklave seiner Schuld, außerstande, sich dem Blutvergießen, das er verschuldet hat, zu stellen.« Als D’arvan seinen Vater ansah, blitzten seine Augen vor Zorn. »Nach einigen der Freveltaten, die ich in seiner Erinnerung gefunden habe, sollte er die Schuld besser denen geben, die wirklich die Verantwortung dafür tragen. Wie konntest du an solchen Grausamkeiten auch noch Vergnügen finden?«

»Es sind doch nur Sterbliche«, entgegnete Hellorin freundlich. »Wer würde meinem Volk nach dem endlosen Elend seiner langen Gefangenschaft ein wenig Spaß mißgönnen?«

D’arvan seufzte und behielt seine Gedanken für sich. Im Augenblick war das Wohlwollen seines Vaters alles, was zählte. Es würde sie nicht weiterbringen, mit ihm zu streiten. Hellorin, soviel wußte sein Sohn immerhin, würde sich niemals ändern – er war zu sehr daran gewöhnt, die Sterblichen als niedere, primitive Geschöpfe zu betrachten, die nur als Sklaven taugten – oder als Beutetiere.

»Es wird nicht einfach sein, Vannor zu befreien«, sagte er statt dessen. »Sein Geist ist in einem Kreislauf gefangen, in dem er das Entsetzen jener Nacht wieder und wieder durchleben muß. Es tut mir leid, aber ich habe keine Ahnung, warum er dich angegriffen hat – seine Taten scheinen ihn genauso ehrlich zu verwirren wie uns andere.« D’arvan wandte sich von Hellorin ab, damit sein Vater nicht sah, wie tief sein Erschrecken ging. In Vannors Erinnerungen hatte er unendliches Entsetzen gefunden, und dieses Erlebnis hatte ihn zutiefst erschüttert. Er wollte um jeden Preis vermeiden, noch einmal in den Geist des gequälten Mannes zurückkehren zu müssen und das alles abermals zu durchleben. »Ich wünschte, Aurian wäre hier. Sie wüßte genau, was zu tun wäre – sie hat eine ordentliche Ausbildung als Heilerin hinter sich.«

»Es gibt keinen Grund, warum du nicht auch Erfolg haben solltest«, sagte Hellorin mit einer Spur Ungeduld in der Stimme. »Und wenn nicht – nun, die Welt wird sich weiter drehen. Ein Sterblicher mehr oder weniger, das interessiert doch niemanden.«

»Außer Vannor«, entgegnete D’arvan mit fester Stimme. »O Fürst der Phaerie, es ist doch sicher nicht notwendig, diese Sache weiter zu verfolgen? Ich habe jeden Winkel von Vannors Geist erforscht, der mir zugänglich war – wie sehr du es dir auch wünschen magst, ich finde keinen Grund für seinen Angriff auf die Stadt. Laß ihn frei, ich bitte dich. Er ist dir hier ohnehin nicht mehr von Nutzen. Gestatte mir, ihn zu Aurian zu bringen – sie kann ihm helfen, wo ich versagt habe.«

»Nein. Versuch es noch einmal, D’arvan.« Der Waldfürst ließ nicht locker.

Vannor lag in dem Turmzimmer, das man D’arvan zugewiesen hatte, und zwar auf demselben niedrigen Sofa, auf dem Maya vor drei Tagen ihre kühnen Pläne entworfen hatte. Der Magusch seufzte. Unglücklicherweise hatte Hellorin sich nur allzuleicht für ihre Idee erwärmen lassen – er brannte darauf, seine Dynastie fortzusetzen, und wollte sich gleichzeitig der Hilfe seines Sohnes bei der Herrschaft über die Rasse der Sterblichen versichern. Zu diesem Zweck war er sogar bereit, auf ein oder zwei Sklaven zu verzichten – oder gar ein noch größeres Opfer zu bringen, nämlich zwei Xandim freizulassen.

D’arvan, der den schlimmen Augenblick, da er noch einmal in Vannors Geist eindringen mußte, hinauszögerte, wandte sich von dem gequälten Sterblichen ab und trat an sein Fenster. Unter ihm lag auf den niedrigeren Hängen des Hügels die atemberaubende Phaeriestadt, eine sinnverwirrende Vermischung von Phaeriemagie und Sklavenarbeit. Während der vergangenen Tage hatten sich die Ereignisse überstürzt. Im Laufe der langen Jahre ihres Exils waren die Phaerieheiler wahre Meister in der Manipulation der Fruchtbarkeit Sterblicher geworden, denn das Waldvolk war außerstande gewesen, sich innerhalb seiner eigenen Rasse zu vermehren, dank einer grausamen Bestimmung des Maguschzaubers, der sie in seinem Bann gehalten hatte. Schon jetzt trug Maya den winzigen Funken des Lebens in sich, der eines Tages ihrer beider Kind sein würde. Auf sein Beharren hatte man sie in D’arvans behagliche Gemächer verlegt, fern der Sklavenquartiere und ihrer unbarmherzigen Wachen. Parric, der dem Magusch immer noch mit flammender Feindseligkeit gegenübertrat, war notgedrungen in den Höhlen geblieben, bis es Zeit zum Aufbruch war, und nun blieb nur noch eine Aufgabe zu erfüllen – die Wiederherstellung von Vannors Geist –, bevor Hellorin ihnen die Erlaubnis gab, die Phaeriestadt zu verlassen.

D’arvan fühlte sich von der grausamen Wendung der Ereignisse entzweigerissen. Auf der einen Seite brannte er darauf, die Freilassung Parrics, Vannors und der beiden Xandim zu erwirken und Aurian zu Hilfe zu eilen, die seinen Beistand mit Recht erwartete. Auf der anderen Seite wünschte er sich verzweifelt, bei Maya zu bleiben, vor allem jetzt, da sie sein Kind erwartete. Sie war diejenige, die schließlich den notwendigen Mut aufbrachte. Sie bestand darauf, daß Aurian ihn brauchte, daß sie selbst in seiner Abwesenheit gut zurechtkommen würde – aber er hatte Angst, sie zurückzulassen, denn sie konnte mit Hellorins Zauberkette um den Hals nicht entfliehen und war den sprunghaften Launen seines Vaters hilflos ausgesetzt. Was würde aus ihr werden, weniger im Kampf mit Eliseth umkam? Und wenn er zurückkehrte – was dann? Er hatte seinem Vater sein Wort gegeben, daß er Nexis erobern und beherrschen würde, so wie Hellorin es wünschte.

»Willst du vielleicht die ganze Nacht hier rumstehen?« fragte Hellorin und machte damit D’arvans angstvollem Tagtraum ein jähes Ende. »Ich dachte, du könntest es kaum erwarten, uns im Stich zu lassen und zu deiner Maguschfreundin zurückzukehren.«

D’arvan runzelte die Stirn; der Groll in der Stimme seines Vaters war ihm nicht entgangen. »Ich bin ebenfalls ein Magusch – oder möchtest du das Heber vergessen? Und bin ich nicht der lebende Beweis dafür, daß du nicht alle Magusch verachtest? Ich verstehe nicht, warum ausgerechnet du auf der Fortführung dieser uralten Feindschaft bestehst. Keiner der jetzt lebenden Magusch hatte auch nur das geringste mit der Gefangennahme der Phaerie zu tun.« Er sah seinem Vater direkt in die Augen; er war dankbar, sich ein klein wenig an dem Waldfürsten rächen zu können. »Oder kann es sein, o Fürst der Phaerie daß dein Zorn nicht allen Magusch gilt, sondern nur der Lady Eilin, Aurians Mutter?«

»Wage es nicht, noch einmal in meiner Anwesenheit den Namen dieser Frau auszusprechen!«

»Nach allem, was ich von Parric gehört habe, scheint sie ja auch nicht besonders viel von dir zu halten«, gab D’arvan trocken zurück. »Nun, mein Vater«, fuhr er mit einem boshaften Lächeln fort. »Wollen wir unsere Arbeit mit dem Sterblichen wieder aufnehmen?«

»Tu, was du willst. Du kannst mir Bericht erstatten, wenn – falls – du Erfolg hast.« Mit einem mörderischen Blick stolzierte Hellorin aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.

D’arvan verweilte noch einen Augenblick und kostete seinen kleinen Sieg aus. Er triumphierte so selten über seinen mächtigen Vater, daß diese raren Augenblicke wirklich genossen werden wollten. Maya tauchte aus dem Schlafgemach auf, reckte sich und rieb sich die verschlafenen Augen. Die Veränderungen, die die Phaerieheiler an ihrem Körper vorgenommen hatten, würden sich im Laufe ihrer Schwangerschaft wieder ausgleichen, aber für den Augenblick hatte der magische Eingriff sie furchtbar ermüdet, und sie war ein wenig zerbrechlicher als gewohnt.

»Was war denn mit Hellorin los?« fragte sie. »Habe ich da gerade die letzten Ausläufer eines königlichen Wutanfalls mitbekommen?«

Der Magusch zuckte die Achseln. »Ich habe das gräßliche Sakrileg begangen, die Lady Eilin zu erwähnen. Bei diesem speziellen Thema ist sein Geduldsfaden so kurz, daß man ihn kaum wahrnehmen kann.«

»Das Zerwürfnis mit ihr ist seine eigene Schuld, soweit ich gehört habe.« Maya hockte sich auf die Tischkante und ließ die Beine baumeln. Sie war jetzt in üppige, seidene Phaerieroben gewandet, die eine Näherin der Sterblichen so umgearbeitet hatte, daß sie für ihre kleinere Gestalt paßten. Die strahlenden, juwelengleichen Farben hoben sich angenehm von ihrer dunklen, zierlichen Schönheit ab, aber auch sie vermochten nicht, das Glitzern der abscheulichen Sklavenkette um ihren Hals zu überdecken. In diesem Augenblick wurde D’arvan die Tiefe seiner Liebe zu dieser Frau mit einer geradezu erschreckenden Wucht bewußt. Er zog sie an sich und legte seine Wange auf ihr seidiges, duftendes Haar. »Ich werde dich für all das entschädigen«, versprach er. »Wenn ich dich hier rausgeholt habe und wir nach Nexis zurückkehren, wird diese verfluchte Kette abgenommen werden, und du wirst eine Königin sein.«

»Wenn wir nach Nexis zurückkehren«, antwortete Maya nüchtern, »werde ich eine Verräterin sein.«

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