20. Kapitel

Dem Gefühl äußerster Dringlichkeit aller Beteiligten zum Trotz schien der Beschützer keine besondere Eile zu haben, seinen Nachwuchs zur Welt zu bringen. Insgeheim war Conway darüber erleichtert. Es verschaffte ihm nämlich mehr Zeit nachzudenken, um alternative Maßnahmen zu erwägen und, wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war, mehr Zeit, um zwischen allen möglichen Entscheidungen unschlüssig hin und her zu schwanken.

Der normalerweise phlegmatische Thornnastor, der drei Augen auf den Patienten und eins auf die Scannerprojektion geheftet hatte, stapfte langsam auf, während er gleichzeitig den Mangel an Tätigkeit im Bereich der Gebärmutter beobachtete. Murchison achtete sowohl auf den Bildschirm als auch auf die kelgianische Schwester, die für die Mittel zur Ruhigstellung des Patienten verantwortlich war, und der mit dem OP-Team über Kommunikator in Verbindung stehende Prilicla war ein weit entfernter, verschwommener Klecks, der am anderen Ende der Station an der Decke klebte, wo die emotionale Ausstrahlung des Beschützers wenn auch nicht gerade angenehm, so doch zumindest erträglich war.

Er sei lediglich aus medizinischer Neugier anwesend, hatte der kleine Empath nachdrücklich beteuert. Doch in Wirklichkeit nahm er wahrscheinlich Conways Besorgnis aufgrund des bevorstehenden Eingriffs wahr und wollte seinem alten Freund helfen.

„Von den Alternativmaßnahmen, die Sie erwähnt haben, ist die erste ein wenig wünschenswerter als die anderen“, sagte Thornnastor plötzlich. „Aber die Geburtsöffnung vor der Geburt zu weiten und das Ungeborene herauszuziehen und gleichzeitig die Drüsenkanäle abzuklemmen. das ist eine ganz schön heikle Geschichte, Conway. Sie könnten es nämlich auf einmal mit einem wachen und höchst lebhaften jungen Beschützer zu tun bekommen, der sich reißend und fressend einen Weg aus dem Elternteil bahnt. Oder haben Sie sich jetzt doch dazu entschieden, daß das Elternteil entbehrlich ist?“

Wieder ging Conway die Erinnerung an den telepathischen Kontakt mit einem Ungeborenen durch den Kopf, einem Ungeborenen, das als geistloser Beschützer geboren worden war — als dieser Beschützer. Ihm war klar, daß er nicht logisch dachte, aber er wollte kein Lebewesen aufgeben, dessen Gedankenwelt er so genau kennengelernt hatte, bloß weil es aus Gründen der Evolution eine Art Gehirntod erlitten hatte.

„Nein“, antwortete er bestimmt.

„Die übrigen Möglichkeiten sind noch schlechter“, sagte der Tralthaner.

„Daß Sie das so sehen würden, hatte ich gehofft“, entgegnete Conway.

„Ich verstehe“, sagte Thornnastor. „Aber mit Ihrem ursprünglichen Vorschlag bin ich auch nicht besonders einverstanden. Die Maßnahme ist — gelinde gesagt — äußerst drastisch und bei einer panzerbewehrten Spezies beispiellos. Ein derart komplizierter Eingriff stellt bei einem Patienten mit vollem Bewußtsein und uneingeschränkter Bewegungsfähigkeit einen.“

„Der Patient wird bewußtlos und ruhiggestellt sein“, fiel ihm Conway ins Wort.

„In Ihrem Kopf scheint mir zur Zeit ein zu großes Durcheinander zu herrschen, das vielleicht auf die vielen verschiedenen Bänder zurückzuführen ist, die Sie darin gespeichert haben, Conway“, sagte Thornnastor in einem für tralthanische Verhältnisse leisen Ton. „Außerdem möchte ich Sie daran erinnern, daß der Patient nicht ruhiggestellt werden kann, egal, für wie lange, weder durch Haltegurte noch durch Betäubungsmittel, ohne daß es zu irreversiblen Stoffwechseländerungen kommt, die rasch zur Bewußtlosigkeit und zum Tod führen. Der FSOJ befindet sich ständig in Bewegung und ist fortwährenden Angriffen ausgesetzt, und das innere Sekretionssystem reagiert in einer Weise, die. Aber das wissen Sie ja genausogut wie ich, Conway! Fühlen Sie sich wohl? Haben Sie vielleicht. vorübergehende psychologische Probleme? Möchten Sie, daß ich für eine Weile die Verantwortung übernehme?“

Murchison hatte gerade ein Gespräch über Kommunikator geführt und deshalb den Anfang von Thornnastors Ausführungen nicht mitbekommen.

Besorgt musterte sie Conway und fragte sich offenbar, was mit ihm nicht stimmte oder vielmehr was nach der Ansicht ihres Chefs nicht mit ihm in Ordnung war. Dann sagte sie: „Eben hat mich Prilicla angerufen. Er wollte seine Vorgesetzten nicht in einer womöglich wichtigen medizinischen Erörterung unterbrechen, hat aber von einer ständigen Zunahme und qualitativen Veränderung der emotionalen Ausstrahlung sowohl des Beschützers als auch des Ungeborenen berichtet. Den Anzeichen nach bereitet sich der Beschützer auf große Anstrengungen vor, und das hat wiederum zu einer Zunahme der Geistestätigkeit beim Ungeborenen geführt. Prilicla möchte wissen, ob du irgendwelche Anzeichen für den Versuch eines telepathischen Kontakts wahrgenommen hast. Er sagt, das Ungeborene gibt sich alle Mühe.“

Conway schüttelte den Kopf und sagte zu Thornnastor: „Bei allem Respekt, diese Informationen standen schließlich in meinem ursprünglichen Bericht über die FSOJ-Lebensform, den ich Ihnen gegeben habe, und mein Gedächtnis hat keineswegs gelitten. Für das Angebot, die Verantwortung zu übernehmen, danke ich Ihnen, und Ihren Rat und Ihre Hilfe nehme ich gerne an, aber ich habe keine psychologischen Probleme, und das eben von Ihnen erwähnte Durcheinander in meinem Kopf ist nicht größer als sonst.“

„Ihre Bemerkungen über die Ruhigstellung des Patienten haben auf etwas anderes schließen lassen“, erwiderte Thornnastor nach einer kurzen Pause. „Ich bin froh, daß Sie sich wohl fühlen, aber was Ihre chirurgischen Absichten betrifft, so bin ich darüber nicht ganz so glücklich.“

„Ich bin mir ja selbst nicht einmal vollkommen sicher, ob ich richtig liege“, räumte Conway ein. „Aber zumindest ist meine Unentschlossenheit weg, und das von mir beabsichtigte Verfahren beruht auf der Annahme, daß wir zu stark von dem Lebenserhaltungsmechanismus des FSOJs und dem Beharren auf körperlicher Beweglichkeit beeinflußt sind.“

Aus den Augenwinkeln heraus sah er, wie Priliclas Gestalt noch verschwommener wurde, als der Empath heftig zu zittern anfing. Conway brach den Satz ab und sagte in seinen Kommunikator: „Ziehen Sie sich zurück, mein kleiner Freund. Bleiben Sie mit uns in Verbindung, aber begeben Sie sich nach draußen auf den Korridor. Die emotionale Ausstrahlung wird hier ziemlich wilde Ausmaße erreichen, also verschwinden Sie lieber schnell.“

„Das hatte ich gerade vor, mein Freund“, erwiderte der Cinrussker. „Aber auch Ihre eigene emotionale Ausstrahlung ist für keinen von uns beiden angenehm. Ich spüre Entschlossenheit und Besorgnis und habe das Gefühl, daß Sie sich zu etwas zwingen, das Sie normalerweise nicht tun würden. Entschuldigung. In meiner Sorge um einen Freund habe ich Dinge angesprochen, die eigentlich als vertraulich gelten sollten. Ich gehe jetzt. Viel Glück, mein Freund.“

Bevor Conway etwas erwidern konnte, berichtete eine der Kelgianerinnen mit sich nachdrücklich kräuselndem Fell, der Geburtskanal beginne sich zu weiten.

„Immer mit der Ruhe“, besänftigte Conway die Schwester, während er die Scannerbilder betrachtete. „Bis jetzt passiert im Innern noch nichts. Legen Sie den Patienten doch bitte so auf die linke Seite, daß sich der rechte Teil des Rückenpanzers oben befindet. Das Operationsfeld wird sich in der Mitte der markierten Stelle achtunddreißig Zentimeter rechts von der Medianlinie des Panzers befinden. Fahren Sie mit den momentanen Lebenserhaltungsmaßnahmen fort, bis ich Ihnen Anweisung gebe aufzuhören, aber mit ein bißchen mehr Begeisterung, falls Sie das fertigbringen. Auf mein Zeichen hin wird das Ruhigstellungsteam die Gliedmaßen des Patienten bewegungsunfähig machen, wobei besonders darauf zu achten ist, die Tentakel zu voller Länge auszustrecken und mit Klammern und Pressorstrahlen festzuhalten. Ich bin gerade zu dem Schluß gekommen, daß diese Aufgabe auch ohne einen während der Operation auf dem Tisch zappelnden und sich windenden Patienten schwierig genug sein wird. Bei der Operation möchte ich nur die unbedingt notwendige Minimalbesetzung des OP- und Hilfspersonals im Raum haben, und diejenigen, die anwesend sind, haben ihre Gedankengänge nach meinen Anordnungen unter Kontrolle zu halten. Haben Sie Ihre Anweisungen verstanden?“

„Ja, Doktor“, bestätigte die Kelgianerin, aber ihr Fell zeigte Zweifel und Mißbilligung. Eine Folge von Erschütterungen, die sich vom Boden durch seine Schuhe fortpflanzten, verrieten Conway, daß Thornnastor erneut mit den Füßen aufstampfte.

„Entschuldigen Sie die Unterbrechungen“, sagte er zum Tralthaner. „Ich wollte gerade darauf hinweisen, daß eine vollständige Ruhigstellung ohne ernsthafte Schäden für den Patienten für die zum Abschluß der Operation erforderliche Zeitspanne durchaus möglich sein könnte. Bevor wir uns dieser Argumentation anschließen, müssen wir uns erst überlegen, was vor, während und nach einer umfangreicheren Operation an einer der Lebensformen geschieht, die im Gegensatz zum FSOJ regelmäßig und häufig in dem uns als Schlaf bekannten Zustand das Bewußtsein verlieren. In derartigen Fällen.“

„Die bekommen Beruhigungsmittel, um die Unruhe vor der Operation auf das Mindestmaß herabzusetzen, werden während des Eingriffs narkotisiert und danach unter Beobachtung gestellt, bis sich der Stoffwechsel und die Lebenszeichen stabilisiert haben“, unterbrach ihn Thornnastor, dessen Füße nach wie vor seine Ungeduld verrieten. „Das ist doch ganz einfach!“

„Das ist mir klar. Ich hoffe nur, die Lösung für unser Problem ist genauso einfach“, gab Conway zu bedenken. Er schwieg einen Moment lang, um seine Gedanken zu ordnen, und fuhr dann fort: „Sie werden mir zustimmen, daß ein Patient trotz Vollnarkose negativ auf den gerade stattfindenden chirurgischen Eingriff reagiert. Wäre er bei Bewußtsein, würde er mit unserem OP-Personal das machen wollen, worum sich der Beschützer bemüht, das heißt versuchen, es zu töten und oder vor der Bedrohung zu fliehen, die es für ihn darstellt. Selbst unter Narkose reagiert ein normaler Patient unterbewußt auf einen Zustand höchster Belastung. Sein Organismus ist mit der jeweiligen Entsprechung von Adrenalin vollgepumpt, die Blut-, Zucker- und Sauerstoffvorräte sind erhöht, und er ist zum Kampf oder zur Flucht bereit. Das ist ein Zustand, an dem sich unser Beschützer ständig erfreut, falls das überhaupt das richtige Wort dafür ist. Er kämpft oder flieht unaufhörlich, weil er permanenten Angriffen ausgesetzt ist.“

Thornnastor und Murchison sahen ihn aufmerksam an, sagten aber beide nichts.

„Da wir ihm dreidimensionale und erschreckend detaillierte Bilder seiner natürlichen Umgebung zeigen und ihn — chirurgisch gesehen — mit einer Heftigkeit angreifen werden, die er bestimmt noch nie erlebt hat, hoffe ich, ihm und seinem endokrinen Drüsensystem weiszumachen, seine Gliedmaßen würden immer noch den Angriff abwehren oder davor zu ffiehen versuchen“, fuhr Conway fort. „Schließlich wehren sich die Glieder gegen die Mittel zur Ruhigstellung, und die dafür erforderliche Muskelanstrengung ist vergleichbar.

Wir werden ihn mit einem großen Kaiserschnitt attackieren, den wir — ohne Narkose — nicht im Unterleibsbereich anlegen, sondern durch den Rückenpanzer führen werden, und ich rechne fest damit, daß der Beschützer genügend Schmerzen haben und im Kopf ausreichend verwirrt sein wird, um zu vergessen, daß sich der Körper nicht in Bewegung befindet, zumindest für die relativ kurze Zeit, die für die Vollendung der Operation nötig ist.“

Murchison starrte ihn mit ausdruckslosem Gesicht an, das jedoch so bleich wie ihre weiße Uniform war. Jetzt erst ging Conway die volle Bedeutung dessen, was er gerade gesagt hatte, auf, und ihm wurde regelrecht schlecht. Er schämte sich. Die Äußerung stand im direkten Widerspruch zu allem, was man ihm als Arzt und Wohltäter beigebracht hatte.

Um Güte zu beweisen, muß man grausam sein, hatte ihm zwar irgend jemand mal gesagt, aber zweifellos war damit nicht eine derartige Grausamkeit gemeint gewesen.

„Der terrestrische Teil meines Gehirns ist über ein solch beispielloses Benehmen erschüttert und empört“, bemerkte Thornnastor schwerfällig.

„Dieser DBDG“, entgegnete Conway und tippte sich dabei selbst ärgerlich auf die Brust, „empfindet dasselbe. Aber Ihr DBDG vom Band mußte auch keinen Beschützer entbinden.“

„Das mußte auch sonst noch niemand“, stellte Thornnastor fest.

Murchison wollte gerade etwas sagen, als es gleich eine doppelte Unterbrechung gab.

„Die Geburtsöffnung beginnt sich zu weiten“, berichtete die kelgianische Schwester, „und die Lage des Fötus hat sich ein klein wenig verändert.“

„Die emotionale Ausstrahlung beider Lebewesen erreicht einen Höchststand“, meldete Prilicla über den Kommunikator. „Sie werden nicht mehr lange warten müssen, Freund Conway. Machen Sie sich keine Sorgen, schließlich kann man sich normalerweise stets auf Ihre medizinischen Überlegungen verlassen.“

Der Cinrussker findet doch immer das passende Wort, dachte Conway dankbar, als ihm Thornnastor zum Operationsgestell folgte.

Zuerst untersuchten sie die Körperunterseite und gingen dabei so dicht wie möglich an den Beschützer heran, wichen jedoch gleichzeitig den wild um sich schlagenden Beinen und dem Hudlarer aus, der mit einer Metallstange auf die Bestie einschlug, um die Angriffe des kleinen Raubtiers mit den scharfen Zähnen vom Heimatplaneten des Beschützers zu simulieren. Die mit den Beinen verbundenen Muskeln befanden sich in ständiger zuckender Bewegung, und im mittleren Bereich des Körpers wurde die Geburtsöffnung langsam länger und breiter.

Für die Aufnahmegeräte berichtete Conway: „Aus dieser Öffnung wird das Junge nicht herauskommen. Normalerweise ist für einen Kaiserschnitt ein langer Schnitt im Unterleib erforderlich, durch den der Fötus entnommen wird. Doch in diesem Fall erscheint ein solches Verfahren aus zwei Gründen als schädlich. Erstens müßten dafür mehrere Beinmuskeln durchtrennt werden, und da dieses Wesen nicht in der Lage ist, ein verletztes Glied während des Heilungsprozesses zu schonen, würde die klinische Verletzung nie heilen, und die betroffenen Gliedmaßen trügen bleibende Schäden davon. Zweitens kämen wir mit dem Schnitt sehr nah an die beiden Drüsen heran, die, wie wir praktisch mit Sicherheit wissen, die Sekrete zur Umkehr der Lähmung vor der Geburt und der Auslöschung des Verstands enthalten. Beide Drüsen sind, wie Sie auf dem Scanner sehen können, mit der Nabelschnur verbunden und entleeren ihren Inhalt im Verlauf der späteren Stadien des Geburtsvorgangs in den Fötus. Bei dieser physiologischen Klassifikation würde ein traditioneller Kaiserschnitt die Drüsen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorzeitig zusammendrücken, und der Zweck der Operation, die Entbindung eines intelligenten Ungeborenen, wäre vereitelt. Deshalb müssen wir es auf die harte Tour machen, indem wir einen Schnitt in einem Winkel durch den Rückenpanzer führen, der die darunterliegenden lebenswichtigen Organe so wenig wie möglich beeinträchtigt.“

Während die Schwester den Beschützer für die Operation in die richtige Lage gebracht hatte, waren die Bewegungen des Ungeborenen nicht wahrnehmbar gewesen, doch jetzt zeigte der Scanner ein langsames, stetes Vorrücken in Richtung des Geburtskanals. Conway mußte sich zwingen, auf die andere Seite des Operationsgestells zu gehen, da er plötzlich den Instinkt verspürte, lieber einfach davonzulaufen; dann vergewisserte er sich, daß sich Thornnastor und Murchison in Position befanden, und sagte leise: „Stellen Sie den Patienten ruhig.“

Die vier Rückententakel waren zu voller Länge ausgestreckt und fast reglos, bis auf ein ganz leichtes Zittern, das von der Anstrengung herrührte, die Mittel zur Ruhigstellung zu überwinden. Conway versuchte, nicht an die Verwüstung zu denken, die schon eins dieser Glieder unter dem OP-Personal anrichten könnte, falls es ihm gelänge, sich zu befreien, und auch nicht daran, daß er am nächsten stand und das erste Opfer wäre.

„Es ist wünschenswert — genaugenommen vielleicht sogar lebensnotwendig —, vor dem Abschluß der Operation telepathischen Kontakt mit dem Ungeborenen herzustellen“, sagte Conway über das Surren seiner Operationssäge hinweg. „Beim ersten Zustandekommen eines derartigen Kontakts waren nur Lebewesen einer physiologischen Klassifikation zugegen, die terrestrischen DBDGs Pathologin Murchison,

Captain Fletcher von der Rhabwar und ich. Möglicherweise erschwert die Vielfalt physiologischer Typen und der Gedankenstrukturen die Herstellung einer Verbindung, oder vielleicht ist es ein wenig einfacher, mit DBDGs in telepathischen Kontakt zu treten. Deshalb müssen.“

„Soll ich gehen?“ fragte Thornnastor.

„Nein“, antwortete Conway entschieden. „Ich brauche Ihre Hilfe, sowohl als Arzt als auch als Endokrinologe. Aber es wäre nützlich, wenn Sie versuchen würden, den terrestrischen Teil Ihres Gehirn in den Vordergrund zu rücken und sich auf dessen Gedankengänge zu konzentrieren.“

„Ich verstehe“, willigte der Tralthaner ein.

Thornnastor und Conway arbeiteten rasch und schnitten ein großes dreieckiges Stück aus dem Panzer heraus. Dann legten sie eine Pause ein, um eine geringfügige Blutung der darunterliegenden Blutgefäße zu stillen. Murchison assistierte zwar nicht direkt, konzentrierte sich jedoch voll und ganz auf den Scanner, damit sie die beiden Operateure warnen konnte, falls es Anzeichen dafür geben sollte, daß das Operationstrauma eine Frühgeburt auslöste. Conway und Thornnastor drangen tiefer ein, indem sie die dicke, beinahe durchsichtige Membrane rings um die Lunge durchschnitten und nach hinten festklemmten.

„Prilicla?“ fragte Conway.

„Der Patient wird immer zorniger und ängstlicher und hat zunehmend stärkere Schmerzen. Anscheinend ist ihm nichts anderes bewußt, als daß er brutal angegriffen wird und sich verteidigt. Daß er sich nicht bewegt, ist ihm offenbar nicht klar, und für eine Funktionsstörung der inneren Sekretion gibt es keine emotionalen Anzeichen.

Auf das Ungeborene wirkt sich der Angriff durch ein merklich gesteigertes Empfindungsvermögen und eine erhöhte Gehirntätigkeit aus“, fuhr der Empath fort. „Das Bewußtsein ist geschärft, und die Anstrengungen sind enorm. Es strengt sich wirklich nach allen Kräften an, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen, mein Freund.“

„Das beruht auf Gegenseitigkeit“, entgegnete Conway. Aber wie er wußte, beschäftigte er sich in Gedanken zu sehr mit dem chirurgischen Aspekt und zu wenig mit der Verständigung, als daß irgendeine Hoffnung auf Erfolg bestanden hätte.

Beim FSOJ befand sich das Herz nicht zwischen den Lungenflügeln, doch dafür durchzogen diesen Bereich mehrere große Blutgefäße, die zusammen mit den mit ihnen verbundenen Verdauungsorganen ohne Schnitt aus dem Weg befördert werden mußten — wenn der Patient bereits Minuten nach dem Abschluß der Operation wieder auf den Beinen war, hatten chirurgische Eingriffe auf das absolute Minimum beschränkt zu werden. Als Conway die Gefäße vorsichtig auseinanderdrückte und die Dehnsonden in Position brachte und fixierte, war ihm klar, daß die Blutversorgung mehrerer dieser Gefäße schwer beeinträchtigt wurde, zumal er einen der Lungenflügel zusammenschnüren mußte, wodurch dessen Leistungsvermögen auf sechzig Prozent herabgesetzt wurde.

„Das ist nur für kurze Zeit“, verteidigte er sich und kam so einer Bemerkung von Thornnastor zuvor. „Außerdem atmet der Patient ja reinen Sauerstoff, was ein voller Ausgleich für den Mangel an.“

Als seine tastenden Finger tiefer drangen und auf einen langen, flachen Knochen stießen, der dort nichts zu suchen hatte, verstummte er. Schnell sah er sich die Stelle, an der sich seine Hand befand, auf dem Scanner an und stellte fest, daß er in Wirklichkeit keinen Knochen, sondern einen der Muskeln einer Rückententakel berührte. Als der Patient versucht hatte, die festgehaltene Gliedmaße freizubekommen, hatte sich dieser Muskel krampfartig versteift. Aber vielleicht war das Ganze auch nur eine Reaktion auf die unerträglichen Schmerzen — wie bei den Mitgliedern anderer Spezies, die zum Beispiel die Zähne zusammenbissen oder die Fäuste ballten.

Als all seine medizinisch ausgebildeten und mitfühlenden Alter ego auf diesen Gedanken reagierten, zitterten Conways Hände plötzlich.

„Freund Conway!“ rief Prilicla, dessen Stimme nicht nur durch den Kommunikator verzerrt war. „Sie beunruhigen mich. Konzentrieren Sie sich auf Ihre Arbeit und nicht auf Ihre Gefühle!“

„Tyrannisieren Sie mich gefälligst nicht, Prilicla!“ schnauzte Conway zurück. Dann lachte er, als ihm klar wurde, wie albern seine Äußerung gewesen war, und machte sich wieder an die Arbeit. Wenige Minuten später tastete er die Formen des oberen Panzerteils und der kraftlosen Rückententakel des Ungeborenen ab. Er packte einen der Tentakel und begann, sanft zu ziehen.

„Dieses Wesen soll eigentlich kämpfend aus der Gebärmutter herauskommen und mit diesen Gliedmaßen in der Lage sein, schwere Schäden anzurichten“, knurrte ihn Thornnastor an. „Ich glaube nicht, daß die Tentakel abreißen, wenn Sie ein bißchen fester ziehen, Conway.“

Er zog ein wenig fester, und das Ungeborene bewegte sich, allerdings nur ein paar Zentimeter. Bei dem jungen FSOJ handelte es sich um kein Leichtgewicht, und Conway schwitzte bereits vor Anstrengung. Er schob auch die andere Hand in die Öffnung und fand einen zweiten Rückententakel; dann stemmte er sich mit einem Knie gegen das Operationsgestell und zog mit beiden Händen.

Zwar hatte er in seinem Leben schon weit heiklere Meisterleistungen mit Skalpell und Händen vollbracht, aber selbst bei diesem groben Vorgehen weigerte sich das kleine Biest, sich zu rühren.

„Die Öffnung ist zu eng“, stellte er keuchend fest. „Und zwar so eng, daß das Junge meiner Meinung nach durch den Unterdruck festgehalten wird. Können Sie eine lange Sonde zwischen der Innenseite der Dehnsonde und der Innenfläche des Panzers hineinschieben, genau da, damit wir.“

„Der Beschützer kommt allmählich zu sich“, berichtete Prilicla, wobei die bloße Tatsache, daß er unhöflich genug war, seine Vorgesetzten zu unterbrechen, die Dringlichkeit seiner Meldung unterstrich.

Doch bevor der Empath den Satz beendete, hatte Thornnastor schon statt der Sonde das dünne, spitz zulaufende Ende eines Greiftentakels in die Öffnung gesteckt. Als der Unterdruck ausgeglichen wurde, zischte es kurz.

Der Tentakel des Tralthaners drang tiefer ein, ringelte sich um die Hinterbeine des Ungeborenen und half Conway, es herauszuheben und — zuziehen. Binnen weniger Sekunden war es befreit, aber immer noch durch die Nabelschnur mit dem Elternteil verbunden.

„Schön“, sagte Conway, während er das Neugeborene auf die von Murchison schon für diesen Zweck bereitgestellte Schale legte. „Das war der einfache Teil. Wenn wir jemals einen Patienten gebraucht haben, der bei Bewußtsein und zur Mitarbeit bereit ist, dann jetzt.“

„Das Neugeborene ist so niedergeschlagen, daß es schon an Verzweiflung grenzt, Freund Conway“, berichtete Prilicla. „Es dürfte sich immer noch bemühen, mit Ihnen in Verbindung zu treten. Die emotionale Ausstrahlung des Beschützers hingegen wird schwächer, und die Struktur verändert sich, was darauf hindeutet, daß er sich allmählich seiner Reglosigkeit bewußt wird.“

„Wenn wir die jetzt nach der Geburt unnötige Erweiterung durch die Dehnsonden verringern, kann der zusammengeschnürte Lungenflügel wieder effektiver arbeiten“, stellte Conway fest. „Wieviel Platz brauchen wir für die Arbeit im Operationsfeld?“

Thornnastor gab einen Laut von sich, der nicht übersetzt wurde, und antwortete: „Erstens benötige ich für die Arbeit nur eine ziemlich kleine Öffnung, und zweitens bin ich hier der Endokrinologe. Die albernen Fingerknöchel und Handgelenke von euch DBDGs sind für eine solche Spezialaufgabe vollkommen ungeeignet. Bei allem Respekt, ich schlage vor, daß Sie sich auf das Neugeborene konzentrieren.“

„In Ordnung“, willigte Conway ein. Er wußte es zu schätzen, daß der Tralthaner die Tatsache anerkannte, daß er, Conway, die Verantwortung trug, obwohl er bestenfalls für kurze Zeit ein Diagnostiker war, dessen jüngstes Verhalten bei der Operation mit ziemlicher Sicherheit für die vorübergehende Natur des Dienstgrads sorgen würde. Ohne aufzusehen fuhr er fort: „Alle Mitglieder des OP-Personals und des Hilfsteams, die nicht zur Klassifikation DBDG gehören, ziehen sich bitte zum Stationseingang zurück. Sprechen Sie nicht und versuchen Sie, an so wenig wie möglich zu denken, indem Sie eine freie Stelle an der Wand oder Decke anstarren und sich ausschließlich darauf konzentrieren. Auf diese Weise wird es für den Telepathen einfacher, sich auf uns drei hier einzustellen. Machen Sie bitte schnell.“

Auf dem Scannerdisplay war bereits zu erkennen, wie sich zwei der dünnen Tentakel des Tralthaners zu beiden Seiten der Nabelschnur in die Gebärmutter schoben.

Über zwei ovalen Schwellungen, die im Laufe der vergangenen Tage das Ausmaß und die Farbe großer roter Pflaumen angenommen hatten, kamen sie zum Stillstand. In der mittlerweile leeren Gebärmutter war genügend Platz, um verschiedene chirurgische Verfahren durchzuführen, aber Thornnastor unternahm notgedrungen nichts.

„Die beiden Drüsen sind vollkommen identisch, Conway, und es gibt keinen schnellen Weg zu sagen, welche den Wirkstoff zur Aufhebung der Lähmung und welche das Mittel zur Auslöschung des Verstands absondert“, sagte der Tralthaner. „Die Chancen stehen fünfzig zu fünfzig. Soll ich vorsichtig auf eine der beiden Drüsen drücken, und wenn ja, auf welche?“

„Nein, warten Sie!“ widersprach Conway energisch. „Ich habe noch einmal darüber nachgedacht. Wäre die Geburt normal verlaufen, wären beide Drüsen beim Herauskommen des Ungeborenen zusammengedrückt und die Sekrete direkt durch die Kanäle in die Nabelschnur geleitet worden. Angesichts des Ausmaßes der momentanen Schwellung und der offenbar straff gespannten Haut der Drüsen würde möglicherweise selbst der sanfteste Druck eher zu einem plötzlichen als zu einem allmählichen Ausströmen der Sekrete führen. Meine ursprüngliche Idee, die Absonderung durch leichtes Drücken und durch die Beobachtung der Wirkung auf den Patienten zu dosieren, war nicht gut. Zudem besteht die Möglichkeit, daß beide Drüsen den gleichen Wirkstoff enthalten und dieser beide Funktionen erfüllt.“

„Äußerst unwahrscheinlich“, widersprach Thornnastor. „Dazu sind die Wirkungen zu unterschiedlich. Leider hat die Substanz eine komplexe und unstabile biochemische Struktur, die sich sehr schnell aufspaltet; sonst hätte der Leichnam Ihres ersten Beschützers für uns genügend Rückstände zum Synthetisieren enthalten. Dies ist das erstemal, daß Proben von einem lebenden Beschützer zur Verfügung stehen, aber die Analyse wäre ein langwieriger Prozeß, und in der gegenwärtigen Verfassung leben die Patienten möglicherweise nicht mehr lange.“

„Ich bin voll und ganz Ihrer Meinung“, mischte sich Prilicla ungewöhnlich leidenschaftlich ein. „Der Beschützer gerät in Panik. Er wird sich allmählich des anomalen Zustands vollkommener Bewegungslosigkeit bewußt und weist Anzeichen einer sich rasch und allgemein verschlechternden Verfassung auf. Sie müssen sich aus der Wunde zurückziehen und den Schnitt schließen, mein Freund, und zwar schnell!“

„Ich weiß“, erwiderte Conway und fuhr dann heftig fort: „Denken Sie! Denken Sie an den neugeborenen Beschützer, an die Umstände, in denen er sich befindet, an unsere Schwierigkeiten, an das, was wir für ihn zu tun versuchen. Ich brauche den telepathischen Kontakt, bevor ich es riskieren kann.“

„Ich spüre unregelmäßige, krampfartige Kontraktionen, die immer heftiger werden“, fiel ihm Thornnastor ins Wort. „Dabei handelt es sich wahrscheinlich um anomale, mit der Panik zusammenhängende Bewegungen, aber es besteht die Gefahr, daß sie die Drüsen vorzeitig zusammendrücken. Außerdem glaube ich nicht, daß der telepathische Kontakt mit dem Neugeborenen bei der Identifizierung der richtigen Drüse helfen wird. Schließlich besitzt ein Neugeborenes in der Regel keine detaillierten anatomischen Kenntnisse seines Elternteils.“

„Der Beschützer wehrt sich nicht mehr gegen die Mittel zur Ruhigstellung“, meldete Murchison von der anderen Seite des Operationsgestells.

„Freund Conway!“ rief Prilicla. „Der Patient verliert das Bewußtsein.“

„Also schön!“ fluchte Conway. Verzweifelt versuchte er, allein an das Neugeborene zu denken, doch all seine Alter ego bemühten sich ebenso angestrengt zu denken und verwirrten ihn. Einige der Lösungsvorschläge, die sie vorbrachten, ließen sich nicht anwenden, andere waren albern, und einer — Conway hatte keine Ahnung, von wem er stammte — war so lachhaft simpel, daß er einfach ausprobiert werden mußte.

„Klemmen Sie die Nabelschnur so dicht wie möglich an den Drüsen ab, um einer unbeabsichtigten Absonderung der Sekrete vorzubeugen“, sagte Conway schnell. „Dann trennen Sie die Schnur auf der anderen Seite der Klammer durch, um Elternteil und Neugeborenes zu trennen. Ich werde den Rest der Nabelschnur herausziehen, und Sie stechen bitte zwei Nadeln in die Drüsen. Saugen Sie den jeweiligen Inhalt ab und füllen Sie die Sekrete zum späteren Gebrauch in getrennte Behälter. Vielleicht müssen Sie das Absaugen durch gleichzeitiges Zusammendrücken der Drüsen beschleunigen. Ich würde Ihnen gerne helfen, aber da drinnen ist nicht viel Platz.“

Thornnastor antwortete nicht. Er nahm bereits eine der Absaugnadeln von seinem Instrumententablett, während Murchison probeweise die Pumpe einschaltete und mit zwei kleinen sterilen Behältern verband. Innerhalb weniger Minuten waren die Absaugnadeln eingeführt, und beide aufgeblähten Drüsen schrumpften sichtbar zusammen.

Als der Scanner sie als abgeflachte rote Flecken auf gegenüberliegenden Seiten des Gebärgangs zeigte, sagte Conway: „Das reicht. Ziehen Sie die Nadeln raus. Ich helfe Ihnen beim Vernähen. Und falls Sie noch eine Gehirnwindung frei haben, benutzen Sie die bitte, um an das Neugeborene zu denken.“

„Meine Gehirnwindungen sind zwar alle von anderen Leuten belegt, aber ich werde es versuchen“, entgegnete Thornnastor.

Das Verlassen des Operationsfelds war viel einfacher als das vorherige Eindringen, weil der Beschützer bewußtlos war, die Muskeln sich gelockert hatten und es keine inneren Spannungen mehr gab, die die Nähte beim Anlegen auseinanderzuziehen versuchten. Den Einschnitt, der an der Gebärmutter vorgenommen worden war, schloß Thornnastor wieder; dann drückten sie gemeinsam die vorübergehend verschobenen Organe vorsichtig in ihre Lage zurück und vernähten die dicke Membran rings um die Lungenflügel. Alles, was nun noch zu tun blieb, war das Wiedereinsetzen des dreieckigen Panzerstücks mit Hilfe der Edelmetallklammern, die für die harte und biegsame Haut der hudlarischen FROBs benutzt wurden.

Conway hatte das Gefühl, daß die Operationen an den Hudlarern Jahre zurückzuliegen schien, als Thornnastor plötzlich aufgeregt mit den Füßen aufzustampfen begann.

„Ich habe starke Beschwerden im Schädelbereich“, sagte der Diagnostiker. Während er sprach, steckte sich Murchison einen Finger ins Ohr und bewegte ihn wild hin und her, als würde sie versuchen, einen tief sitzenden Juckreiz zu lindern. Dann spürte es auch Conway, der mit den Zähnen knirschte, da seine Hände anderweitig beschäftigt waren.

Die Empfindungen waren genau dieselben wie diejenigen, die er erlebt hatte, als der Beschützer, zu jener Zeit noch ein Ungeborenes, bei der damaligen Schiffsbergung telepathischen Kontakt hergestellt hatte. Es handelte sich um eine Mischung aus Schmerzen, starker Verärgerung und einer Art mißtönender, unhörbarer Stimme, die immer lauter wurde. Nach diesem ersten Erlebnis hatte Conway einige Theorien darüber aufgestellt und war zu dem Schluß gekommen, daß man eine Fähigkeit, die entweder schlummerte oder verkümmert war, zwingen mußte, sich zu entfalten. Wie bei einem lange nicht benutzten Muskel kam es zu Schmerzen, Steifheit und zu einer Art Protest gegen die Veränderung der alten bequemen Ordnung der Dinge.

Damals, beim erstenmal, hatten sich die Beschwerden bis zu einem Höhepunkt gesteigert, und dann.

Schon seit ein paar Augenblicken vor meiner Entbindung bin ich mir der Gedanken der Wesen Thornnastor, Murchison und Conway bewußt, sagte eine deutliche, leise und eindringliche Stimme in ihren Köpfen, aus denen der unerträgliche geistige Juckreiz plötzlich verschwunden war. Auch Ihr Vorhaben, ein telepathisches Ungeborenes zur Welt zu bringen, das ohne Verlust der Fähigkeiten zum jungen Beschützer wird, ist mir klar, und für Ihre Bemühungen bin ich Ihnen äußerst dankbar, egal, wie das Ergebnis schließlich aussehen wird. Weiterhin kenne ich die gegenwärtigen Absichten des Wesens Conway, und ich möchte Sie dringend bitten, schnell zu handeln. Das wird meine einzige Chance sein. Meine Geisteskräfte lassen nach.

„Vergessen Sie den Patienten erst einmal, und bereiten Sie eine Infusion für das Junge vor“, ordnete Conway in bestimmtem Ton an.

Er gab ihnen nicht die Anweisung, sich zu beeilen, weil sowohl Murchison als auch Thornnastor dieselbe telepathische Mitteilung erhalten hatten. Mit etwas Glück würde es nach Conways Ansicht zu keiner bleibenden Beeinträchtigung der Fähigkeiten des Neugeborenen kommen, da das Nachlassen der Geisteskräfte daran liegen konnte, daß das neugeborene FSOJ genauso reglos wie sein Elternteil war. Während Murchison und Thornnastor arbeiteten, entfernte Conway das überschüssige Ende der Nabelschnur und brachte den Transportkäfig für das Junge an eine geeignetere Stelle, damit er, sollte das beabsichtigte Vorgehen gelingen, für einen plötzlich aktiven und gefährlichen Beschützer bereitstand. Als Conway damit fertig war, hatten Thornnastor und Murchison die Infusionsnadel, die über einen dünnen Schlauch mit einem der sterilen Behälter mit den abgesaugten Drüsensekreten verbunden war, bereits in das abgeschnittene Ende der Nabelschnur des Ungeborenen gesteckt.

Vielleicht ist das hier das falsche, dachte Conway grimmig, während er vorsichtig das Ablaßventil öffnete und zusah, wie das ölige, gelbliche Sekret langsam durch den Schlauch kroch, aber jetzt stehen die Chancen viel besser als fünfzig zu fünfzig.

„Prilicla“, wandte er sich über den Kommunikator an den Empathen, „ich stehe mit dem Neugeborenen in telepathischem Kontakt und hoffe, es wird in der Lage sein, mir alle durch die Infusion hervorgerufenen physischen oder psychologischen Veränderungen mitzuteilen. Das Sekret wird wegen der endgültigen Wirkung in winzigen Dosen verabreicht, bis ich genau weiß, daß ich das richtige erwischt habe. Aber ich brauche Sie, mein kleiner Freund. Sie müssen mich über Veränderungen der emotionalen Ausstrahlung des Neugeborenen auf dem laufenden halten, über Veränderungen, die ihm selbst womöglich nicht bewußt sind. Falls das Neugeborene den Kontakt abbricht oder das Bewußtsein verliert, sind Sie womöglich seine einzige Hoffnung.“

„Ich verstehe, mein Freund“, entgegnete Prilicla, wobei er an der Decke entlang auf sie zukam, um den Abstand zu verringern. „Von hier aus kann ich auch ganz feine Veränderungen der Ausstrahlung wahrnehmen, jetzt, wo sie nicht mehr von den Gefühlen des Beschützers verdrängt wird.“

Thornnastor hatte sich wieder an das Verschließen des Panzers des Elternteils gemacht, dabei jedoch ein Auge auf den Scanner und ein zweites auf Conway geheftet, als sich dieser über die Inlüsionsapparatur beugte und die erste winzige Dosis verabreichte.

Außer einer zunehmenden Schwierigkeit — der Schwierigkeit, mit Ihnen in Kontakt zu bleiben — bin ich mir keiner Veränderungen in meinem Denken bewußt, berichtete die leise Stimme in Conways Kopf. Genausowenig weiß ich von irgendeiner Muskeltätigkeit.

Conway versuchte es mit einer zweiten winzigen Dosis und ließ dann voller Verzweiflung eine weitere folgen, die nicht mehr so winzig war.

Keine Änderung, gab das Neugeborene zu verstehen.

Die Gedanken besaßen keine Tiefe mehr, und die Bedeutung der Worte war durch einen plötzlichen Ausbruch telepathischer Nebengeräusche kaum noch wahrzunehmen. Allmählich stellte sich wieder der Juckreiz irgendwo zwischen den Ohren ein, der dem Kontakt sonst immer vorausging.

„Ich kann Angst wahrnehmen.“, begann Prilicla.

„Ich weiß, daß er Angst hat“, fiel ihm Conway ins Wort. „Schließlich stehe ich mit ihm in telepathischem Kontakt, verdammt noch mal.“

„…und zwar sowohl auf bewußter als auch auf unterbewußter Ebene, mein Freund“, fuhr der Cinrussker fort. „Bewußt macht dem Neugeborenen die körperliche Schwächung und der Verlust des Empfindungsvermögens durch die anhaltende Reglosigkeit angst. Aber auf einer tieferen Ebene nehme ich. vielleicht kann sich ein Gehirn selbst nur aus einem subjektiven Blickwinkel betrachten, Freund Conway, und möglicherweise ist ein den Dienst versagender oder gelähmter Verstand nicht imstande, dieses Versagen wahrzunehmen.“

„Mein kleiner Freund, Sie sind ein Genie!“ lobte Conway den Cinrussker, während er den Schlauch vom eben benutzten Behälter löste und nun mit dem anderen verband.

Diesmal war die Dosis ganz und gar nicht klein, denn die Zeit wurde rasch für beide Patienten knapp. Conway richtete sich auf, um die Wirkung auf das Neugeborene besser beobachten zu können, und duckte sich dann blitzschnell, um einer der Tentakel auszuweichen, die auf seinen Kopf zuraste.

„Halten Sie ihn fest, bevor er von der Schale fällt!“ rief Conway. „Vergessen Sie den Transportkäfig. Der junge FSOJ ist immer noch teilweise gelähmt, halten Sie ihn also an den Tentakeln fest, und tragen Sie ihn in den Kraftraum. Ich würde Ihnen gerne helfen, aber ich muß auf diesen Behälter aufpassen.“

Ich bin mir eines ständig zunehmenden körperlichen Wohlbehagens bewußt, meldete sich das Neugeborene.

Der von Murchison an einem Tentakel und von Thornnastor an den übrigen dreien getragene junge Beschützer schwang aufgrund seiner Bemühungen, sich zu befreien, zwischen der Terrestrierin und dem Tralthaner abwechselnd nach oben und unten. Conway folgte den dreien zur Tür des kleineren FSOJ-Lebenserhaltungskomplexes.

Mit Hilfe tralthanischer Tentakel, weiblicher DBDG-Hände und einem von Conways großen Füßen waren sie in der Lage, das Neugeborene ruhigzustellen, während der Diagnostiker auf Probe den Rest des Sekrets verabreichte, das die Lähmung aufhob. Danach schoben sie den Patienten in den Raum und verschlossen die Tür.

Sofort raste der junge Beschützer, der vor kurzem noch ein Ungeborenes gewesen war, durch den hohlen Zylinder und ging auf die Stangen, Keulen und Spieße los, die nach ihm schlugen und stießen.

„Wie geht's?“ fragte oder vielmehr dachte Conway besorgt.

Gut. Wirklich blendend. Das ist äußerst anregend, lautete die Antwort. Aber ich mache mir Sorgen um mein Elternteil.

„Das geht uns genauso“, erwiderte Conway und ging, gefolgt von Murchison und Thornnastor, zum Operationsgestell zurück, wo Prilicla direkt über dem Beschützer an der Decke klebte. Der minimale Abstand, in dem sich der Empath befand, war sowohl ein Zeichen für seine Besorgnis aufgrund des Zustands des Patienten als auch wegen der schwachen emotionalen Ausstrahlung des FSOJ.

„Lebenserhaltungsteam!“ rief Conway den Wesen zu, die am anderen Ende der Station warteten. „Kommen Sie sofort wieder hierher! Lockern Sie die Fesseln der Gliedmaßen. Lassen Sie ihnen ein wenig Bewegungsfreiheit, aber nicht so viel, daß das Operationsteam gefährdet wird.“

Die Naht des Panzers mußte immer noch fertiggestellt werden, und da Thornnastor und Conway zusammen daran arbeiteten, dauerte die ganze Arbeit nur knapp eine Viertelstunde. In dieser Zeit rührte der Beschützer keinen Muskel, nur hin und wieder durchlief ihn ein leichtes Zittern, das von den Schlägen und Stößen herrührte, die ihm der Lebenserhaltungsmechanismus versetzte. Aus Rücksicht auf den stark geschwächten postoperativen Zustand des Patienten hatte Conway angeordnet, die Anlage auf halber Kraft laufen zu lassen und der Lunge des FSOJ durch Druck reinen Sauerstoff zuzuführen. Doch auch nachdem alle noch fehlenden Nähte angelegt waren und man mit dem Scanner eine eingehende Untersuchung des vorherigen Eingriffs im Körperinnern durchgeführt hatte, erfolgte immer noch keine körperliche Reaktion.

Irgendwie mußte er den Beschützer wachbekommen und zu dem in tiefer Bewußtlosigkeit befindlichen Gehirn durchdringen. Für dieses Vorhaben stand nur ein Weg zur Verständigung offen, nämlich Schmerz.

„Schalten Sie den Lebenserhaltungsmechanismus auf volle Kraft“,

ordnete Conway an, wobei er seine Verzweiflung hinter einer zuversichtlichen Miene verbarg. „Gibt es schon eine Veränderung, Prilicla?“

„Keinerlei Anzeichen für eine Veränderung“, antwortete der Empath und zitterte aufgrund eines Gefühlsausbruchs, der nur von dem Diagnostiker auf Probe stammen konnte.

Plötzlich verlor Conway die Geduld.

„Beweg dich, verdammt noch mal!“ brüllte er und schlug mit der Handkante nach unten auf die Innenseite des Ansatzes des nächsten Tentakels, der immer noch schlaff zu voller Länge ausgestreckt dalag. Die Stelle, die er getroffen hatte, war rosa und relativ weich, weil es nur wenigen der natürlichen Feinde des Beschützers gelungen wäre, so nah heranzukommen, und die Haut dort dünn war. Aber auch so schmerzte Conway die Hand.

„Noch mal, mein Freund“, sagte Prilicla. „Schlagen Sie ihn noch mal, aber fester!“

„W. was?“ fragte Conway.

Jetzt zitterte Prilicla vor Aufregung. „Ich glaube, nein, ich bin mir sicher, daß ich genau im Moment des Schlags ein kurzes Aufflackern des Bewußtseins gespürt habe“, erklärte er. „Schlagen Sie ihn! Schlagen Sie ihn noch mal!“

Gerade wollte Conway der Aufforderung Folge leisten, als sich plötzlich einer von Thornnastors Tentakeln um sein Handgelenk schlängelte. „Durch den wiederholten Mißbrauch der Hand wird die chirurgische Geschicklichkeit dieser lächerlichen DBDG-Finger nicht gerade größer, Conway. Lassen Sie mich mal ran“, schlug er vor.

Der Diagnostiker nahm eine der Dehnsonden und schlug sie mit aller Kraft genau auf die bezeichnete Stelle. Er wiederholte die Schläge, wobei er die Häufigkeit veränderte und die Stärke allmählich steigerte, als Prilicla plötzlich rief: „Fester! Fester!“

Conway bekämpfte erfolgreich den Drang, in hysterisches Gelächter auszubrechen.

„Mein kleiner Freund“, sagte er ungläubig, „versuchen Sie, der erste grausame und sadistische Cinrussker der Föderation zu werden? Sie klingen ganz so, als ob. Warum laufen Sie denn weg?“

Sich zwischen den Beleuchtungskörpern hindurchschlängelnd und sich immer wieder duckend, raste der Empath an der Decke entlang auf den Stationseingang zu. Über den Kommunikator erklärte er: „Der Beschützer kommt rasch wieder zu Bewußtsein und ist äußerst wütend. Seine emotionale Ausstrahlung. na ja, es ist sowieso nicht gerade angenehm, in seiner Nähe zu sein, und wenn er wütend ist, erst recht nicht.“

Als der Beschützer das volle Bewußtsein erlangte und mit Tentakeln, Schwanz und gepanzertem Kopf in alle Richtungen zu dreschen begann, wurde das relativ unstabile Operationsgestell zerstört. Doch der Lebenserhaltungsmechanismus rings um das Gestell war nicht nur dafür gebaut, einer derart groben Behandlung standzuhalten, sondern auch zurückzuschlagen. Eine ganze Weile standen sie alle ehrfürchtig schweigend da und beobachteten den FSOJ, bis Murchison augenscheinlich erleichtert auflachte.

„Ich glaube, wir können mit Fug und Recht behaupten, Elternteil und Junges sind wohlauf“, stellte sie fest.

Thornnastor, der eins seiner Augen auf den Kraftraum gerichtet hatte, entgegnete: „Da wäre ich mir nicht zu sicher. Das Junge hat beinahe ganz aufgehört, sich zu bewegen.“

Sie rannten oder vielmehr trampelten zum kleineren Lebenserhaltungssystem des jungen Beschützers zurück. Als sie ihn ein paar Minuten zuvor verlassen hatten, war er noch durch den Zylinder gestürmt und hatte fröhlich auf alles sich mechanisch Bewegende eingedroschen. Wie Conway aber mit Entsetzen feststellen mußte, stand er nun still in seinem von Keulen gesäumten Tunnel, hatte lediglich zwei seiner Tentakel um einen dicken hervorstehenden Knüppel geschlungen und versuchte, ihn aus der Halterung zu reißen, während die übrigen beiden Tentakel vollkommen reglos herabhingen. Bevor Conway etwas sagen konnte, ging ihm ein kühler, klarer und sorgenfreier Gedankenstrom durch den Kopf.

Danke, meine Freunde. Sie haben mein Elternteil gerettet und erfolgreich die erste Entbindung eines intelligenten und telepathischen Beschützers durchgeführt. Mit großer Mühe habe ich mich auf die Gedanken mehrerer verschiedener Lebensformen in diesem großen Hospital eingestellt, von denen mich jedoch, mit Ausnahme der Wesen Conway, Thornnastor und Murchison, keine empfangen konnte. Aber aufgrund Ihrer Anstrengungen gibt es noch zwei weitere Wesen, mit denen ich mich klar und ohne Schwierigkeiten verständigen kann. Dabei handelt es sich zum einen um das nächste Ungeborene, das bereits im Körper meines Elternteils Gestalt annimmt, und zum anderen um das Ungeborene, das in mir selbst heranwächst. Ich sehe schon eine Zukunft voraus, in der sich eine wachsende Zahl von Ungeborenen als telepathische Beschützer geistig weiterentwickeln und dadurch die technische, kulturelle und philosophische Entfaltung ermöglichen werden…

Auf einmal wurde der klare, ruhige und in stiller Freude übertragene Gedankenstrom durch Besorgnis getrübt.

… ich kann doch davon ausgehen, daß diese knifflige und schwierige Operation wiederholt werden kann?

„Knifflig?“ rief Thornnastor aus und gab einen unübersetzbaren Laut von sich. „Das war der gröbste Eingriff, den ich je erlebt habe. Schwierig, ja. Aber doch nicht knifflig! In Zukunft werden wir bei den Drüsensekreten nicht herumraten müssen. Dann werden wir das richtige Sekret synthetisch hergestellt und jederzeit griffbereit haben, wodurch der Risikofaktor um ein ganzes Stück verringert wird.

Keine Angst, Sie werden Ihre telepathischen Gefährten schon bekommen“, schloß der Tralthaner. „Das verspreche ich Ihnen.“

Telepathische Versprechen waren äußerst schwer zu halten und nur unter noch größeren Schwierigkeiten zu brechen. Conway wollte den Tralthaner davor warnen, derartige Versprechen zu leichtfertig zu geben, aber aus irgendeinem Grund wußte er, daß Thornnastor das begriffen hatte.

Ich danke Ihnen und allen anderen ehemaligen und zukünftigen Beteiligten. Aber jetzt muß ich den Kontakt abbrechen, weil die geistige Anstrengung, die erforderlich ist, um mit Ihren Gedanken in Übereinstimmung zu bleiben, für mich zuviel wird. Nochmals vielen Dank.

„Moment“, sagte Conway in eindringlichem Ton. „Warum haben Sie aufgehört, sich zu bewegen?“

Ich probiere etwas aus. Ich war davon ausgegangen, keine willentliche Kontrolle über meine Körperbewegungen zu haben, aber das ist offensichtlich nicht der Fall. In den vergangenen Minuten ist es mir unter großer geistiger Anstrengung gelungen, alle für mein Wohlbefinden erforderlichen Kräfte für den Versuch zusammenzunehmen, nicht wahllos nach allem zu schlagen, sondern dieses eine Stück Metall zu zerstören. Das ist jedoch äußerst schwierig, und ich muß mich bald ausruhen und wieder dem unwillkürlichen System die Kontrolle überlassen. Das ist der Grund, weshalb ich den zukünftigen Fortschritten meiner Spezies so optimistisch gegenüberstehe. Durch ständige Übung wird es mir möglicherweise gelingen, die Wesen um mich herum vielleicht immer etwa eine Stunde lang nicht anzugreifen. Sich die Angst vor den Angriffen zu vergegenwärtigen, ist viel schwieriger, und da brauche ich womöglich Ihren Rat…

„Das ist ja großartig!“ rief Conway begeistert aus, doch die Stimme fuhr noch einen Moment lang fort.

…aber aus diesem Mechanismus möchte ich nicht herausgelassen werden, weil ich es nicht riskieren will, zwischen Ihren Patienten und Personalmitgliedern Amok zu laufen. Meine Selbstbeherrschung ist alles andere als vollendet, und mir ist klar, daß ich noch nicht zum gesellschaftlichen Umgang mit Ihnen bereit bin.

Einen Augenblick juckte es Conway zwischen den Ohren, dann trat eine große geistige Leere ein, die langsam von eigenen und merkwürdig vereinzelten Gedankengängen ausgefüllt wurde.

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