Der Erstkontakt mit der als Beschützer des Ungeborenem bekannten Spezies war von der Rhabwar geknüpft worden, als das Ambulanzschiff auf ein Notsignal von einem Schiff reagiert hatte, das zwei gefangene Mitglieder dieser Spezies transportierte. Wie man herausfand, waren die Beschützer ausgebrochen und hatten die Schiffsbesatzung getötet, wobei auch einer der beiden Ausgebrochenen ums Leben gekommen war.
Der überlebende Beschützer hatte, kurz bevor er ebenfalls vom Tod ereilt worden war, sein Ungeborenes zur Welt gebracht. Bei diesem frisch geborenen Beschützer handelte es sich um den Patienten, der — nach über einjährigem Aufenthalt im Orbit Hospital — nun seinerseits kurz vor einer Niederkunft stand.
Der Leichnam seines Elternteils war in der Pathologie eingehend untersucht worden und hatte zu Kenntnissen verhelfen, durch die es vielleicht möglich werden würde, das Ungeborene ohne den vollständigen Verlust der höheren Gehimfunktionen zur Welt zu bringen.
„Die bevorstehende Operation dient hauptsächlich dem Zweck, die Intelligenz des Ungeborenen zu bewahren“, wiederholte Conway, wobei er einen Blick auf die gefüllte Zuschauergalerie warf, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder der Station darunter zuwandte, auf der der wild kämpfende Beschützer sein Lebenserhaltungssystem und zwei hudlarische Wärter in einen totalen Krieg verwickelte. „Dabei gibt es körperliche und chirurgische Schwierigkeiten sowie Probleme mit der inneren Sekretion. Diagnostiker Thornnastor und ich haben in den vergangenen zwei Tagen fast über nichts anderes gesprochen. Und nun werde ich sowohl für die Mitglieder des technischen Hilfs- und des Nachbehandlungspersonals, das gerade zu uns gestoßen ist, als auch für die Zuschauer und alle anderen, die später die Aufzeichnungen studieren werden, die vorhandenen Informationen über diesen Fall kurz zusammenfassen.
Der erwachsene, nichtintelligente Beschützer gehört zur physiologischen Klassifikation FSOJ“, fuhr Conway fort. „Wie Sie sehen, handelt es sich bei ihm um ein riesiges, ungeheuer kräftiges Lebewesen mit einem starken geschlitzten Panzer, aus dem vier dicke Tentakel hervorragen, einem schweren gezackten Schwanz und einem Kopf. Die Tentakel enden in mehreren scharfen, knochigen Spitzen und ähneln dadurch mit Nägeln versehenen Keulen. Die Hauptmerkmale des Kopfs bestehen in tiefliegenden, gut geschützten Augen, dem Ober- und Unterkiefer sowie Zähnen, die imstande sind, mit Ausnahme der härtesten Metalllegierungen wortwörtlich alles zu zermalmen.
Drehen Sie ihn bitte um“, bat Conway die beiden Hudlarer, die den Patienten mit dünnen Stahlstangen bearbeiteten. „Und schlagen Sie fester zu! Damit tun Sie ihm nicht weh. Im Gegenteil, so erhalten Sie ihn kurz vor der Geburt bei bester Verfassung.“ An die Zuschauer gewandt fuhr er fort: „Auch die vier Beine besitzen knöcherne Auswüchse und können folglich ebenfalls als natürliche Waffen eingesetzt werden. Obwohl die Körperunterseite nicht wie der Rücken gepanzert ist, bietet sie nur selten eine Angriffsfläche und ist von einer dicken Hautschicht bedeckt, die offenbar ausreichenden Schutz bietet. In der Mitte dieses Bereichs können Sie einen schmalen länglichen Spalt erkennen, die Öffnung des Geburtskanals, die sich jedoch erst wenige Minuten vor der Niederkunft vergrößern wird.
Doch zunächst einen Überblick über die Evolutionsgeschichte und die Umweltbedingungen dieses Lebewesens.“
Die Beschützer hatten sich in einer Welt aus flachen, dampfenden Meeren, Sümpfen und Urwäldern entwickelt, in der es, was körperliche Beweglichkeit und Angriffslust anging, keine eindeutige Grenze zwischen tierischem und pflanzlichem Leben gab. Um überhaupt zu überleben, mußte eine Lebensform verbissen kämpfen und sich schnell fortbewegen, und die dominante Spezies hatte sich auf diesem abscheulichen Planeten ihren Platz erobert, indem sie sich mit größerem Überlebenspotential wehrte, fortbewegte und vermehrte als sämtliche anderen Lebensformen.
Schon auf einer sehr frühen Evolutionsstufe hatte sie die große Härte ihrer Umwelt in eine physiologische Form gezwungen, die den lebenswichtigen Organen größtmöglichen Schutz bot. Gehirn, Herz, Lunge, Gebärmutter — sie alle befanden sich tief in dem unglaublich muskulösen und phantastisch gepanzerten Körper und waren auf ein relativ geringes Volumen zusammengepreßt. Während der Schwangerschaft kam es zu einer beachtlichen Verschiebung der Organe, weil der Embryo vor der Geburt fast bis zur Reife heranwachsen mußte. Es kam nur höchst selten vor, daß einer der Beschützer mehr als drei Geburten überlebte, weil ein alterndes Elternteil normalerweise zu schwach war, um sich gegen den Angriff des hungrigen Letztgeborenen zu verteidigen.
Aber der Hauptgrund für den Aufstieg der Beschützer zur dominanten Lebensform des Planeten war, daß die Jungen schon vor der Geburt über Erfahrungen mit den Überlebenstechniken verfügten.
Am Anfang ihrer Evolution hatte diese Entwicklung auf genetischer Ebene als einfache Vererbung von vielen komplexen Überlebensinstinkten begonnen, aber das enge Nebeneinander der Gehirne des Elternteils und des sich entwickelnden Embryos führte zu einer ähnlichen Wirkung wie bei der Auslösung der mit Gedanken in Verbindung gebrachten elektrochemischen Vorgänge.
Die Embryos entwickelten die Fähigkeit zur Telepathie über kurze Strecken und empfingen alles, was das Elternteil sah oder spürte oder in irgendeiner anderen Weise wahrnahm.
Und noch vor dem Wachstumsende des Embryos entstand in diesem der nächste Embryo, der sich ebenfalls in zunehmendem Maße der Welt außerhalb seines selbstbefruchtenden Großelternteils bewußt war. Schließlich vergrößerte sich nach und nach die telepathische Reichweite und ermöglichte die Kommunikation zwischen Embryos, deren Elternteile sich in Sichtweite zueinander befanden.
Um die Schäden an den inneren Organen des Elternteils auf ein Minimum zu reduzieren, war der heranwachsende Embryo in der Gebärmutter gelähmt, was sich jedoch nicht negativ auf die spätere Funktion der Muskeln auswirkte. Durch die vor der Geburt stattfindende Aufhebung der Lähmung oder möglicherweise auch durch die Geburt selbst verlor der Embryo allerdings sowohl die Intelligenz als auch die Fähigkeit zur Telepathie. Denn ein neugeborener Beschützer mit durch die Fähigkeit zu denken getrübten Überlebensinstinkten hätte in seiner unglaublich grausamen Umwelt nicht lange überleben können.
„Da sie nichts anderes zu tun haben, als Eindrücke von der Außenwelt zu gewinnen, Gedanken mit anderen Ungeborenen auszutauschen und zu versuchen, die Grenzen ihrer telepathischen Fähigkeiten durch den Kontakt mit verschiedenen nichtintelligenten Lebewesen in ihrer Umgebung auszuweiten, haben die Embryos einen Verstand von großer Kraft und Intelligenz entwickelt“, fuhr Conway fort. „Sie können jedoch nichts Gegenständliches erschaffen, sich nicht gemeinsam körperlich betätigen, sich keine schriftlichen Aufzeichnungen machen oder überhaupt etwas zur Beeinflussung ihrer Elternteile tun, die zur Versorgung der immer wachen Embryokörper und den in ihnen enthaltenen Ungeborenen unaufhörlich kämpfen, töten und fressen müssen.“
Einen Moment lang herrschte Stille, die nur durch das gedämpfte Klirren und Klopfen des mechanischen Lebenserhaltungssystems und der Hudlarer unterbrochen wurde, die gemeinsam hart arbeiteten, um es dem kurz vor der Niederkunft stehenden FSOJ so richtig behaglich zu machen. Da meldete sich der Leiter des technischen Hilfsteams, ein Lieutenant, zu Wort.
„Zwar habe ich diese Frage schon einmal gestellt, aber ich habe Schwierigkeiten, mich mit der Antwort abzufinden“, sagte er leise. „Stimmt es wirklich, daß wir auch während der Geburt weiterhin auf den Patienten einschlagen müssen?“
„So ist es, Lieutenant“, antwortete Conway. „Vor, während und nach der Geburt. Denn die Niederkunft kündigt sich uns lediglich durch eine merklich zunehmende Lebhaftigkeit des Beschützers etwa eine halbe Stunde vorher an. Auf seinem Heimatplaneten würde diese Lebhaftigkeit dazu dienen, Raubtiere aus der unmittelbaren Umgebung zu verscheuchen, um dem Jungen eine größere Überlebenschance zu sichern.
Das Ungeborene wird kämpfend zur Welt kommen und benötigt die gleichen Lebenserhaltungsmaßnahmen wie sein Elternteil“, fügte Conway hinzu. „Wegen seiner geringen Größe muß es allerdings ein klein bißchen weniger heftig geschlagen werden.“
Auf der Galerie stießen mehrere Zuschauer ungläubige Laute aus. Thornnastor knurrte in gebieterischem Ton und verlieh Conways vorherigen Erklärungen sowohl körperlich als auch geistig zusätzliches Gewicht.
„Sie müssen sich klarmachen und sich ohne jeden Zweifel damit abfinden, daß für dieses Lebewesen ständige Gewalt etwas ganz Normales ist“, erklärte der Diagnostiker schwerfällig. „Der FSOJ muß fortwährend großen Belastungen ausgesetzt sein, damit das recht komplizierte innere Sekretionssystem richtig funktioniert. Für seinen Organismus ist die permanente Freisetzung eines Hormons erforderlich, das dem Thullis der Kelgianer oder dem Adrenalin der Terrestrier entspricht, und er hat die Fähigkeit entwickelt, damit zu leben.
Hemmt man den Ausstoß dieses Hormons, indem man die ständig drohende Verletzungs- oder Todesgefahr ausschaltet, werden die Bewegungen des Beschützers schwerfällig und ungleichmäßig, und wenn der Angriff nicht rasch fortgesetzt wird, verliert der FSOJ das Bewußtsein“, fuhr der Tralthaner fort. „Dauert die Bewußtlosigkeit länger an, treten sowohl im inneren Sekretionssystem des Beschützers als auch in dem des Ungeborenen bleibende Schäden auf, die schließlich zum Tod führen.“
Diesmal folgte den Ausführungen ein gebanntes Schweigen. Conway deutete von der Galerie auf die Station hinunter und sagte zu den Zuschauern: „Wir werden Sie jetzt so nahe an den Patienten heranführen, wie es ohne Gefahr möglich ist. Sie werden die Einzelheiten des Lebenserhaltungsmechanismus des Beschützers und die der kleineren Version auf der Nebenstation zu sehen bekommen, auf der das Junge nach der Geburt untergebracht wird. Beide Mechanismen besitzen eine geradezu erschreckende Ähnlichkeit mit Instrumenten, die in einem höchst unerfreulichen Abschnitt der terrestrischen Geschichte beim Verhör eingesetzt wurden. Die neuen Mitglieder der Teams machen sich bitte mit diesen Mechanismen und mit der von ihnen geforderten Arbeit vertraut und stellen so viele Fragen wie nötig, damit gewährleistet ist, daß ihnen ihre Pflichten vollkommen klar sind. Gehen Sie aber vor allem nicht rücksichtsvoll oder sanft mit dem Patienten um. Das würde ihm überhaupt nicht weiterhelfen.“
Als man sich dem Ausgang der Galerie zuwandte, schlurften, rutschten und scharrten die diversen Füße, Tentakel und Zangen über den Boden.
Conway hob die Hand und ermahnte die Anwesenden in sehr ernstem Ton: „Ich möchte Sie noch einmal daran erinnern, daß es nicht Sinn und Zweck der Operation ist, dem FROB bei der Geburt zu helfen. Die findet aufjeden Fall statt, mit oder ohne unsere Hilfe, das können Sie mir glauben. Mit dem Eingriff wollen wir vielmehr sicherstellen, daß das Ungeborene, das bald ein neuer Beschützer sein wird, den Intelligenzgrad und die telepathischen Fähigkeiten, über die es jetzt im Leib des Elternteils verfügt, beibehält.“
Thornnastor stieß einen leisen Ton aus, der dem tralthanischen Teil von Conways Gehirn eine pessimistische und besorgte Grundhaltung zu erkennen gab. Nach den zweitägigen Beratungen mit dem tralthanischen Diagnostiker mußten die genauen Einzelheiten des bevorstehenden operativen Eingriffs noch endgültig geklärt werden. Indem er eine Zuversicht ausstrahlte, die er in Wirklichkeit gar nicht empfand, sprach Conway über die Funktion der Kombination aus Operationsgestell und kardanisch aufgehängtem Käfig, in dem sich der Beschützer befand, bevor er die Zuschauer durch die für den Nachkommen bestimmte Nebenstation führte.
Mehr als die Hälfte dieser Station, die von den für ihren Bau verantwortlichen Wartungsingenieuren den Spitznamen Kraftraum erhalten hatte, nahm eine hohle zylindrische Konstruktion ein, die breit genug war, um dem FSOJ-Jungen einen ungehinderten Durchgang zu ermöglichen, und serpentinenartig verlief, damit der junge Beschützer die gesamte Bodenfläche der Station zur Bewegung nutzen konnte. Der Eingang in diesen endlosen Zylinder bestand aus einer kräftig verstärkten Tür in der Seitenwand, die ansonsten aus einem äußerst stabilen Metallgitter konstruiert war. Der Zylinderboden bildete von der Form her die unebene Oberfläche und die natürlichen Hindernisse wie zum Beispiel die beweglichen und gefräßigen Wanderwurzeln nach, die man auf dem Heimatplaneten des Beschützers gefunden hatte, und durch die Öffnungen zwischen den Gitterstäben hatte der Patient ständig Sicht auf die rings um die Außenfläche des Zylinders aufgestellten Bildschirme, über die bewegte dreidimensionale Bilder einheimischer tierischer und pflanzlicher Lebensformen liefen, denen der Patient auf seinem Herkunftsplaneten normalerweise begegnen würde.
Dem medizinischen Team ermöglichte die offene Zylinderkonstruktion zudem, den Patienten in den Genuß der positiveren Seiten des Lebenserhaltungssystems zu bringen, nämlich in den des zwischen den Bildschirmen aufgestellten, furchteinflößend aussehenden Mechanismus, durch den der Patient so rasch und so heftig geschlagen, gerupft und gestoßen werden konnte, wie man wollte.
Um es dem Neuankömmling so richtig gemütlich zu machen, hatte man alles Erdenkliche getan.
„Wie Sie bereits wissen“, fuhr Conway fort, „ist sich das Ungeborene aufgrund seiner telepathischen Fähigkeiten stets der Vorgänge außerhalb des Körpers des Elternteils bewußt. Wir sind keine Telepathen und womöglich nicht imstande, die Gedanken des Ungeborenen zu empfangen, auch nicht in der Phase äußerster geistig-seelischer Belastung, die der Geburt unmittelbar vorausgeht und in der das Ungeborene all seine telepathischen Kräfte zusammennimmt, weil es weiß, daß sein Verstand und seine Persönlichkeit kurz vor der Auslöschung stehen.
Der Föderation sind mehrere telepathische Lebensformen bekannt“, setzte er seine Ausführungen fort, wobei er sich an den einzigen Kontakt mit dem telepathischen Ungeborenen zurückerinnerte. „Dabei handelt es sich im allgemeinen um Spezies, die diese Kräfte entwickelt haben, damit ihre gemeinsamen organischen Sender und Empfänger automatisch miteinander übereinstimmen. Aus diesem Grund ist der telepathische Kontakt zwischen Mitgliedern verschiedener telepathischer Spezies nicht immer möglich. Kommt zwischen einem dieser Wesen und einem Nichttelepathen eine geistige Verbindung zustande, bedeutet das normalerweise, daß der Nichttelepath entweder über schlummernde oder verkümmerte telepathische Kräfte verfügt. Ein derartiger Kontakt kann zwar ein äußerst unangenehmes Erlebnis sein, aber an dem betroffenen Gehirn treten weder physische Veränderungen noch bleibende psychologische Schäden auf“
Als Conway die Bildschirme im Kraftraum einschaltete und auf ihnen die Videoaufzeichnung jener ersten, unglaublich gewaltsamen Geburt laufen ließ, kam bei ihm gleichzeitig die übersinnliche Dimension des eigenen mehrminütigen Kontakts mit dem Ungeborenen hinzu, dessen Geburt schon bald auf den Monitoren zu sehen sein würde.
Seiner geballten Fäuste war sich Conway bewußt, und er bemerkte auch, wie bleich Murchisons Gesicht war, während sie auf einen der Bildschirme schaute. Gerade versuchte der tobende Beschützer wieder einmal, zu ihnen zu gelangen, indem er sich heftig gegen die zum Teil offenstehende Innenluke der Luftschleuse warf. Der Spalt war etwa fünfzehn Zentimeter breit, reichte für die Pathologin, den verletzten Kapitän der Rhabwar und Conway also gerade aus, um alle Vorgänge zu beobachten, zu hören und aufzuzeichnen. Aber an einem sicheren Standort befanden sie sich nicht. Die mit harten Spitzen bewehrten Tentakel des Beschützers hatten in der Schleusenvorkammer durch das Herausreißen ganzer Teile der Metallverkleidung und das Verbeulen der Wandkonstruktion dahinter bereits schwere Zerstörungen angerichtet, und so dick war die Innenluke der Schleuse nun auch wieder nicht.
Ihre einzige Sicherheit bestand in der Schwerelosigkeit der Schleusenvorkammer, und der Beschützer prallte von jeder Wand und jedem Hindernis ab, gegen die oder das er mit den wild umherschlagenden Tentakeln stieß, und wirbelte hilflos in der Kammer herum, was seine Wut und die Brutalität seines Angriffs nur noch verstärkte. Andererseits wurde es dadurch schwieriger, die gerade stattfindende Geburt zu beobachten. Doch die Heftigkeit des Angriffs des Beschützers ließ langsam nach. Durch die Schwerelosigkeit sowie die während der Zusammenstöße mit den Besatzungsmitgliedern des Schiffes erlittenen Verwundungen und den darauffolgenden Defekt des bordeigenen Lebenserhaltungssystems hatte der Beschützer kaum noch genügend Kraft, die Geburt zu beenden, die bereits ein gutes Stück vorangeschritten war. Jetzt bot der sich langsam drehende FSOJ einen guten, wenn auch immer wieder unterbrochenen Blick auf das allmählich sichtbar werdende Ungeborene.
Conway dachte an einen Aspekt der Geburt, den die Aufzeichnung nicht wiedergeben konnte — an die letzten Momente des telepathischen Kontakts mit dem Fötus, bevor dieser den Körper seines Elternteils verließ und ebenfalls zu einem wilden, brutalen und zu keinerlei Vernunft fähigen jungen Beschützer wurde —, und einen Augenblick lang war ihm der Hals wie zugeschnürt.
Dieses Problem des Diagnostikers auf Probe mußte Thornnastor geahnt haben, denn er langte an Conway vorbei und hielt die Aufzeichnung an. Im schwerfälligen Vortragston sagte er: „Wie Sie sehen, sind der Kopf und ein Großteil des Panzers zum Vorschein gekommen, und die daraus hervortretenden Gliedmaßen sind noch schlaff und reglos. Das liegt daran, daß die Sekrete, die abgesondert werden, um die vor der Geburt bestehende Lähmung aufzuheben und gleichzeitig sämtliche, nicht dem Überleben dienende Gehirntätigkeiten zu unterbinden, noch nicht wirken. Bis zu diesem Punkt ist einzig und allein das Elternteil für das Herauskommen des Ungeborenen verantwortlich.“
In der für Kelgianer typischen direkten Art fragte eine der Schwestern: „Wird das nicht vernunftbegabte Elternteil als entbehrlich erachtet?“
Thornnastor schwenkte ein Auge herum, um Conway zu betrachten, dessen Gedanken immer noch fest auf die Umstände der damaligen Geburt gerichtet waren.
„Das liegt keineswegs in unserer Absicht“, antwortete der Tralthaner, als Conway nicht reagierte. „Auch das Elternteil war einmal ein vernunftbegabtes Ungeborenes und ist in der Lage, bis zu drei weitere Ungeborene zur Welt zu bringen. Sollten Umstände eintreten, in denen entschieden werden muß, ob man die Geburt des vernunftbegabten Jungen auf Kosten des momentan nicht vernunftbegabten Elternteils unterstützen oder sie ihren normalen Lauf nehmen lassen soll, so daß schließlich zwei nicht vernunftbegabte Beschützer vorhanden sind, dann muß die Entscheidungsgewalt beim verantwortlichen Chirurgen liegen.
Für die zweite Möglichkeit spräche, wenn man sie in Betracht zöge, daß wir mit zwei Beschützern, einem jungen und einem alten, die im Laufe der Zeit beide telepathische Embryos tragen werden, eine oder mehrere weitere Chancen hätten, um das Problem zu lösen“, fuhr Thornnastor mit einem immer noch auf Conway gehefteten Auge fort. „Doch dazu müßte man die beiden FSOJs langen Schwangerschaftsperioden in einem höchst künstlichen Lebenserhaltungssystem aussetzen, was sich langfristig schädlich auf die neuen Embryos auswirken könnte und nichts anderes als ein Aufschieben der Entscheidung bedeuten würde. Dann müßte die gesamte Prozedur wiederholt werden, wobei aller Wahrscheinlichkeit nach derselbe Entschluß von einem anderen verantwortlichen Chirurgen zu treffen wäre.“
Auch Murchisons Augen ruhten auf Conway. Sie wirkte höchst beunruhigt. Die letzten Worte des Tralthaners waren ein wenig mehr als eine direkte Antwort auf die Frage der Schwester; sie stellten so etwas wie eine berufliche Warnung dar. Durch sie wurde Conway daran erinnert, daß er sich immer noch sehr stark auf dem Prüfstand befand und der leitende Diagnostiker der Pathologie trotz des höheren Rangs keineswegs die endgültige Verantwortung für diesen Fall übernehmen wollte. Conway brachte kein Wort über die Lippen.
„Sie werden beobachten, daß sich die Tentakel des Ungeborenen zu bewegen beginnen, wenn auch langsam“, fuhr Thornnastor fort. „Und jetzt zieht es sich allmählich aus dem Geburtskanal heraus.“
In genau diesem Moment hatte damals die lautlose telepathische Stimme in Conways Kopf die Klarheit verloren. Schmerz, Verwirrung und tiefe Besorgnis hatten den verständlichen Mitteilungsfluß getrübt. Doch die letzte Botschaft des Ungeborenen war ganz einfach gewesen.
Geboren zu werden bedeutet sterben, meine Freunde, hatte die leise Stimme gesagt. Meine Gedanken und meine telepathische Fähigkeit werden nun zerstört. Ich werde jetzt selbst zum Beschützer eines eigenen Ungeborenen, das wachsen, denken und mit Ihnen in Kontakt treten wird. Bitte kümmern Sie sich um ihn.
Das Dumme bei telepathischer Kommunikation war, daß — anders als bei der Verständigung durch Worte — die Vieldeutigkeit fehlte und keine Irreführungen und diplomatischen Lügen möglich waren, dachte Conway bitter. Bei einem telepathisch gegebenen Versprechen blieb kein Hintertürchen offen. Eins zu brechen war ohne einen schweren Verlust an Selbstachtung unmöglich.
Und nun war das Ungeborene, mit dem Conway in telepathischem Kontakt gestanden hatte, sein Patient und ein Beschützer mit einem eigenen Ungeborenen, für das zu sorgen Conway versprochen hatte und das kurz vor dem Eintritt in die äußerst komplizierte und fremde Welt des Orbit Hospitals stand. Wie er am besten weitermachen sollte — beziehungsweise richtiger: welche von mehreren unbefriedigenden Möglichkeiten er wählen sollte —, dessen war er sich immer noch nicht sicher.
Ohne jemanden direkt anzusprechen, sagte er plötzlich: „Wir wissen nicht einmal, ob der Fötus unter den hiesigen Bedingungen normal herangewachsen ist. Vielleicht ist unsere Reproduktion der Umwelt nicht exakt genug gewesen. Womöglich hat das Ungeborene keine Vernunft entwickelt, ganz zu schweigen von telepathischen Fähigkeiten. Bisher hat es keine Anzeichen für.“
Als eine Folge von melodischem Schnalzen und gerollten Lauten von der Decke über ihren Köpfen ertönte, brach er den Satz ab. Aus den Translatoren kamen die Worte: „Ihre Annahme ist möglicherweise nicht ganz korrekt, Freund Conway.“
„Prilicla!“ rief Murchison und fügte überflüssigerweise hinzu: „Sie sind wieder da?“
„Geht es Ihnen. gut?“ fragte Conway. Er dachte an die Opfer des Unfalls im Meneldensystem und wie furchtbar es für einen Empathen gewesen sein mußte, die Leitung über deren Klassifizierung übertragen zu bekommen.
„Mir geht es gut, mein Freund“, antwortete Prilicla, wobei die Beine, mit denen er an der Decke klebte, vom Bad in der Welle freundschaftlicher und besorgter Gefühle, die von den Anwesenden unter ihm ausgingen, erbebten. „Ich habe darauf geachtet, die Arbeiten aus größtmöglicher Entfernung zu leiten, so, wie ich auch großen Abstand zu Ihrem Patienten auf der äußeren Station halte. Die emotionale Ausstrahlung des Beschützers ist für mich unangenehm, aber bei der des Ungeborenen ist das nicht der Fall.
Ich nehme eine hochgradige Geistestätigkeit wahr“, fuhr der Cinrussker fort. „Leider bin ich eher ein Empath als ein echter Telepath, aber ich kann bei dem Ungeborenen eine Frustration spüren, die, so würde ich vermuten, durch die Unfähigkeit verursacht wird, sich mit den Lebewesen außerhalb des Körpers des Elternteils zu verständigen. Außerdem nehme ich vor allem noch Verwirrung und Ehrfurcht wahr.“
„Ehrfurcht?“ wiederholte Conway ungläubig und fügte dann hinzu: „Falls sich das Ungeborene mit uns zu verständigen versucht hat, haben wir jedenfalls nichts gespürt, nicht einmal das leiseste Kitzeln.“
Prilicla ließ sich von der Decke fallen, flog einen sauberen Looping und flatterte auf einen in der Nähe stehenden Instrumentenschrank, damit sich die anwesenden DBLFs und DBDGs nicht den Halswirbel verrenkten, wenn sie ihn ansahen. „Ich kann das zwar nicht mit absoluter Sicherheit sagen, Freund Conway, weil Empfindungen ein weniger zuverlässiges Anzeichen für das Vorhandensein von Intelligenz sind als logisch zusammenhängende Gedanken, aber das Problem scheint mir möglicherweise einfach darin zu bestehen, daß zu viele Lebewesen und damit Gehirne anwesend sind. Während Ihres ursprünglichen Kontakts mit dem damaligen Ungeborenen und heutigen Beschützer mußte das Wesen nur drei Gehirne berücksichtigen, das von Freundin Murchison, von Freund Fletcher und Ihres. Die übrigen Mitglieder der Besatzung und des medizinischen Teams haben sich an Bord der Rhabwar befunden und somit an der äußersten Grenze der telepathischen Reichweite.
Hier sind vielleicht zu viele Köpfe“, fuhr der Empath fort, „Gehirne von einer verwirrenden Vielfalt und einem verblüffenden Maß an Vielgestaltigkeit, einschließlich zweien“ — Priliclas Augen richteten sich auf Thornnastor und Conway —, „in denen eine Vielzahl von Lebewesen zu stecken scheint und die möglicherweise wirklich verwirrend und ehrfurchtgebietend sind.“
„Da haben Sie natürlich recht“, stimmte ihm Conway zu, und nach einer kurzen Denkpause sagte er: „Ich hatte darauf gehofft, mit dem Ungeborenen vor und während der Geburt in telepathischen Kontakt zu treten. In diesem Fall wäre die Unterstützung durch einen Patienten, der bei Bewußtsein ist und mitarbeitet, wirklich eine große Hilfe. Aber die Stärke des OP-Personals und des technischen Hilfsteams können Sie ja selbst sehen. Das sind Dutzende. Die kann ich doch nicht einfach wegschicken.“
Wieder begann Prilicla zu zittern, diesmal aus Unruhe über die zusätzlichen Kopfschmerzen, die er Conway bereitete, obwohl er eigentlich nur die Absicht gehabt hatte, den Diagnostiker über den Geisteszustand des Ungeborenen zu beruhigen. Er unternahm einen zweiten Versuch, die emotionale Ausstrahlung seines Freunds zu verbessern.
„Gleich nach meiner Rückkehr habe ich auf der Hudlarerstation vorbeigeschaut“, berichtete der Cinrussker, „und ich muß sagen, Ihre Leute haben hervorragende Arbeit geleistet. Das waren wirklich schlimme Fälle, die ich dort eingeliefert habe, beinahe so hoffnungslos, wie man es sich schlimmer kaum vorstellen kann, mein Freund, aber Sie haben nur einen einzigen FROB verloren. Das war eine glänzende Leistung, auch wenn Freund O'Mara behauptet, Sie hätten ihm gegenüber noch ein glühendes Stück Metall angefaßt.“
„Ich glaube, Prilicla meint ein heißes Eisen“, übersetzte Murchison lachend die vom Translator übertragenen Worte.
„O'Mara?“ fragte Conway nach.
„Der Chefpsychologe hatte sich nach dem Besuch eines der Hudlarer in der Geriatrie-Abteilung gerade mit einem Ihrer Patienten unterhalten und sich ein Bild von dessen nichtmedizinischem Zustand gemacht. Freund O'Mara wußte, daß ich gekommen war, um Sie zu besuchen, und ich soll Ihnen von ihm ausrichten, daß ein Funkspruch von Goglesk eingetroffen ist, laut dem Ihre Freundin Khone zum Orbit Hospital kommen will, und zwar so bald wie.“
„Ist Khone krank oder hat sie sich etwa verletzt?“ fiel Conway ihm ins Wort, da die Persönlichkeit seiner gogleskanischen Gehirnpartnerin und die eigenen Gefühle für das kleine Wesen die Gedanken an alles und jeden aus seinem Kopf verdrängten. Da Khone über dieses Wissen verfügte, waren auch ihm die vielen Krankheiten und Unfälle bekannt, denen die FOKTs zum Opfer fielen und gegen die man nur sehr wenig unternehmen konnte, weil die gegenseitige Annäherung, um zu helfen, das Heraufbeschwören eines Unglücks bedeutete. Was immer Khone zugestoßen war, es mußte recht schlimm gewesen sein, wenn sie freiwillig ins Orbit Hospital kommen wollte, wo die schrecklichsten Alpträume ihrer Vorstellung körperliche Realität waren.
„Nein, nein, mein Freund“, entgegnete Prilicla, der durch die Heftigkeit von Conways emotionaler Ausstrahlung erneut zitterte. „Khones Zustand ist weder ernst noch dringend zu behandeln. Aber sie hat darum gebeten, von Ihnen persönlich abgeholt und zum Hospital befördert zu werden, damit sie ihre Meinung nicht aus Angst vor Ihren körperlich riesenhaften Freunden ändert. Der genaue Wortlaut von O'Maras Äußerung war, Sie zögen momentan einige sonderbare Mutterschaftsfälle an.“
„Aber sie kann doch nicht freiwillig hierherkommen!“ protestierte Conway. Er wußte, daß Khone geschlechtsreif war und Kinder bekommen konnte. Über kürzliche sexuelle Kontakte fand sich im Gedächtnis der Gogleskanerin nichts, es mußte also nach Conways Abflug von Goglesk geschehen sein. Er begann, auf der Schwangerschaftsperiode der FOKT basierende Berechnungen anzustellen.
„So habe ich zuerst auch reagiert, mein Freund“, sagte Prilicla. „Aber Freund O'Mara hat mich darauf hingewiesen, daß Sie schon länger mit Ihrer gogleskanischen Freundin im Kopf lebten und sich darauf eingestellt hätten und Khone — hoffentlich wird sie damit fertig — gleichermaßen von Ihrem terrestrischen Gehirn beeinflußt worden sei. Das sei das zweite glühende Stück Metall; die Sache mit den alterskranken Hudlarern sei das andere.
Die Psychosen einer werdenden FOKT-Mutter und ihres Kindes auszutreiben, die sich vor vorgeschichtlichen Schatten fürchten, werde nicht einfach werden“, fuhr der Empath fort, „und das Problem mit den alterskranken Hudlarern habe sich so stark ausgeweitet, daß es praktisch Ihre gesamte Zeit in Anspruch nähme. O'Mara hat sehr verärgert und hin und wieder auch richtig böse geklungen, aber seine emotionale Ausstrahlung stand dabei im starken Widerspruch zu seinen Äußerungen. Er war ganz erwartungsvoll und aufgeregt, als freue er sich auf die Herausforderung.“
Prilicla brach den Satz ab und begann erneut zu zittern. Neben dem Instrumentenschrank, auf dem der Cinrussker saß, hob und senkte Thornnastor in keiner bestimmten Reihenfolge einen der sechs elefantenartigen Füße nach dem anderen. Murchison blickte den Diagnostiker an, und auch wenn sie kein Empath war, war sie mit den Gesten ihres Chefs doch so gut vertraut, um einen äußerst ungeduldigen Tralthaner erkennen zu können.
„Das ist ja alles höchst interessant, Prilicla“, sagte sie freundlich, „aber der Zustand des Patienten, der auf der äußeren Station auf uns wartet, ist nicht nur ernst, sondern muß auch dringend behandelt werden.“