13. Kapitel

Von der Rückkehr der Rhabwar mit der letzten Fuhre von Verletzten aus dem Meneldensystem erfuhr Conway, als er gerade seine erste Diagnostikerversammlung besuchen wollte. Da er das neueste Mitglied auf Probe war, hätte man eine plötzliche Absage, nur um ein paar Worte mit Murchison zu wechseln, höchstwahrscheinlich für unhöflich und geradezu aufsässig gehalten, und darum sollte sich seine nächste Zusammenkunft mit Murchison erneut verzögern. Darüber empfand er zwar in erster Linie Erleichterung, wofür er sich allerdings insgeheim furchtbar schämte. Er nahm Platz und rechnete nicht damit, in einer solch erlauchten Runde irgendeinen bedeutenden Beitrag leisten zu können.

Nervös blickte er zu O'Mara hinüber — dem einzigen außer ihm sonst noch anwesenden Nichtdiagnostiker —, der neben dem riesigen Thornnastor zur einen Seite und der Kälte ausstrahlenden kugelförmigen Druckhülle von Semlic zu anderen, dem methanatmenden SNLU-Diagnostiker von den kalten Ebenen, geradezu winzig wirkte. Der Chefpsychologe erwiderte Conways Blick mit einem ausdruckslosen Starren. Genausowenig waren auch die Gesichtszüge der Diagnostiker zu entschlüsseln, die auf den für ihre körperliche Bequemlichkeit gebauten Möbeln im Raum verteilt saßen, kauerten, von ihnen herabhingen oder sie sonstwie belegten, obwohl mehrere von ihnen Conway neugierig musterten.

Ergandhir, einer der anwesenden melfanischen ELNTs, ergriff als erster das Wort. „Gibt es, bevor wir uns über die Unfallopfer aus dem Meneldensystem unterhalten, die bei uns eingewiesen worden sind und deren Behandlung von größter Dringlichkeit ist, weniger eilige Angelegenheiten, die einer allgemeinen Diskussion und einer Anleitung bedürfen? Conway, Sie müssen doch als das neueste Mitglied unseres Clubs der freiwillig Verrückten auf das eine oder andere Problem gestoßen sein, nicht wahr?“

„Und ob, auf einige sogar“, bestätigte Conway und fügte zögernd hinzu: „Im Moment handelt es sich dabei eher um technische Schwierigkeiten, um Dinge also, die zur Zeit außerhalb meines Bereichs liegen, oder um vollkommen unlösbare Probleme.“

„Bitte erläutern Sie das etwas genauer“, forderte ihn ein unbekannter Diagnostiker vom anderen Ende des Raums auf. Das konnte einer von den Kelgianern gewesen sein, deren Sprechöffinungen sich während eines Gesprächs kaum bewegten. „Es ist zu hoffen, daß all diese Probleme nur vorübergehend unlösbar sind.“

Einen Augenblick lang fühlte sich Conway wieder wie ein Assistenzarzt, der von einem ranghöheren Lehrer wegen unlogischen und gefühlsbetonten Denkens gerügt wird, und diese Kritik war wohlverdient. Er mußte sich wieder in den Griff bekommen und anfangen, mit all seinen fünf Gehirnen folgerichtig und logisch zu denken.

Klar und deutlich sagte er: „Die technischen Schwierigkeiten ergeben sich aus der Notwendigkeit, geeignete Umweltbedingungen und Behandlungseinrichtungen für den Beschützer des Ungeborenen bereitzustellen, bevor das Junge zur Welt kommt und.“

„Entschuldigen Sie die Unterbrechung, Conway“, fiel ihm Semlic ins Wort, „aber es ist unwahrscheinlich, daß wir Ihnen bei diesem Problem direkt helfen können. Bei der Bergung des Wesens aus seinem Schiff waren Sie behilflich, mit dem intelligenten Embryo standen Sie in kurzer telepathischer Verbindung, und deshalb sind Sie das einzige Lebewesen, das über ausreichende Kenntnisse aus erster Hand verfügt, um dieses Problem zu lösen. Vielleicht darf ich Ihnen — bei allem Mitleid — sagen, daß Sie dieses Problem gern für sich behalten können.“

„Obwohl ich nicht imstande bin, Ihnen direkt zu helfen“, mischte sich Ergandhir ein, „kann ich Ihnen Informationen über die Physiologie und das Verhalten einer ähnlichen melfanischen Lebensform zur Verfügung stellen, die wie der junge Beschützer voll entwickelt und verteidigungsfähig geboren wird. Die Mutter gebärt nur einmal im Leben, und zwar stets vier Junge. Diese Jungen greifen die Mutter an und versuchen, sie zu fressen, doch gewöhnlich gelingt es der Mutter, sich ausreichend zu verteidigen, und wenn schon nicht, um selbst zu überleben, dann wenigstens so, um noch ein oder zwei ihrer Nachkommen zu töten, die sich hin und wieder gegenseitig umzubringen versuchen. Wäre das anders, hätten sie meinen Planeten längst überschwemmt. Die Spezies ist nicht vernunftbegabt.“

„Dem Himmel sei Dank“, murmelte O'Mara dazwischen.

„….. und wird es höchstwahrscheinlich auch nie werden“, fuhr Ergandhir fort. „Ich habe Ihre Berichte über den Beschützer mit großem Interesse gelesen, Conway, und würde mich freuen, dieses Thema mit Ihnen zu erörtern, falls Sie das für hilfreich halten. Aber Sie haben noch von weiteren Problemen gesprochen.“

Conway nickte, während die melfanischen Kenntnisse in seinem Gehirn mit Bildern der kleinen, eidechsenähnlichen Tiere an die Oberfläche kamen, die die Nahrungsanbaugebiete auf Melf befielen und den umfangreichsten und ausgeklügeltsten Ausrottungsbemühungen zum Trotz überlebt hatten. Die Parallelen zwischen diesen Tieren und den Beschützern erkannte er, und er wollte sich auf jeden Fall mit dem melfanischen Diagnostiker darüber unterhalten, sowie sich eine Gelegenheit dazu ergeben sollte.

„Das anscheinend unlösbare Problem ist Goglesk“ fuhr er fort. „Dabei handelt es sich eigentlich nicht um ein dringendes Problem, außer für mich selbst, weil es eine persönliche Verwicklung mit dem Fall gibt. Deshalb sollte ich Ihre kostbare Zeit lieber nicht länger in Anspruch nehmen, nur um.“

„Ich war mir gar nicht bewußt, daß ein gogleskanisches Band überhaupt zur Verfügung steht“, bemerkte einer der beiden anwesenden illensanischen PVSJs und zuckte dabei unruhig in seinem Chloranzug.

Für einen Moment hatte Conway ganz vergessen, daß der Ausdruck persönliche Verwicklung zu jenen Redewendungen gehörte, mit denen sich Diagnostiker und Chefärzte mit einem Band im Kopf darüber in Kenntnis setzten, daß sie die Gedächtnisaufzeichnung eines Mitglieds der zur Debatte stehenden Spezies im Kopf gespeichert hatten. Bevor er antworten konnte, ergriff O'Mara schnell das Wort.

„Ein derartiges Band ist nicht vorhanden“, sagte er. „Die Gedächtnisübertragung ist versehentlich und unfreiwillig erfolgt, als Conway zu Besuch auf dem Planeten war. Vielleicht möchte er die Einzelheiten zu einem späteren Zeitpunkt mit Ihnen erörtern, aber ich kann ihm nur zustimmen, daß eine solche Diskussion im Moment zeitraubend und ergebnislos wäre.“

Alle Anwesenden starrten Conway an, aber es war Semlic, der ihm die Frage als erster stellte, nachdem er die Linsen der Außenkamera seiner Druckkugel gewechselt hatte, um ihn in stärkerer Vergrößerung zu sehen.

„Soll ich das etwa so verstehen, daß Sie eine Gedächtnisaufzeichnung im Kopf haben, die nicht gelöscht werden kann, Conway?“ erkundigte er sich. „Für mich ist das eine äußerst beunruhigende Vorstellung. Mir selbst bereitet mein überfülltes Gehirn schweren Kummer, und ich habe schon ernsthaft erwogen, durch die drastische Reduzierung von Bändern im Kopf lieber wieder den Rang eines Chefarzts einzunehmen. Doch meine Alter ego sind lediglich Gäste, die jederzeit zum Verschwinden gezwungen werden können, falls ihre Gegenwart unerträglich werden sollte. Aber eine Gedächtnisaufzeichnung, die sich im Kopf häuslich niedergelassen hat und nicht gelöscht werden kann, ist mehr als genug. Keiner der hier anwesenden Kollegen hätte eine weniger hohe Meinung von Ihnen, wenn Sie sich zu dem Schritt entschließen würden, den ich bereits für mich in Erwägung ziehe, nämlich sich die anderen Bänder aus dem Kopf löschen zu lassen.“

„Das behauptet Semlic schon seit sechzehn Jahren von sich, und zwar alle paar Tage“, warf O'Mara mit ausgeschaltetem Translator ein, so daß nur Conway ihn verstehen konnte. „Trotzdem hat er recht. Wenn die gogleskanischen Erinnerungen den anderen entgegenwirken und Sie deshalb ernsthafte Schwierigkeiten haben, lassen Sie die Bänder lieber löschen. Das würde Ihnen keine Schande machen und Ihnen zumindest von den anderen hier Anwesenden nicht als Charakterschwäche ausgelegt werden — und wäre im Grunde sogar vernünftig. andererseits kann man Sie wirklich nicht gerade als vernünftig bezeichnen.“

„…und unter den Gästen in meinem Gehirn“, sagte Semlic gerade, als Conway seine Aufmerksamkeit wieder dem SNLU zuwandte, „befinden sich einige Wesen, die ein. nun, ich möchte mal sagen, sehr interessantes und unorthodoxes Leben geführt haben. Mit all diesen nichtmedizinischen Erfahrungen, über die ich verfüge, könnte ich Ihnen vielleicht sogar Ratschläge geben, falls Sie auf persönliche Schwierigkeiten mit Pathologin Murchison stoßen sollten.“

„MitMurchison…?“ hakte Conway ungläubig nach.

„Wäre ja möglich“, erwiderte Semlic, der den empörten Unterton in Conways Stimme entweder nicht mitbekommen oder absichtlich überhört hatte.

„Wir alle hier haben vor Murchisons Fachkompetenz und Charakteranlage die größte Hochachtung, und mir persönlich würde der Gedanke überhaupt nicht behagen, daß sie ein seelisches Trauma erleiden könnte, nur weil ich es versäumt habe, Ihnen einen Rat zu erteilen. Sie haben wirklich Glück, ein solches Wesen zur Lebensgefährtin zu haben. Natürlich habe ich kein persönliches körperliches Interesse an diesem Wesen.“

„Na, da bin ich aber erleichtert, das zu hören“, entgegnete Conway mit einem leicht verzweifelten und hilfesuchenden Blick auf O'Mara. Allmählich klang es fast so, als würde der SNLU-Diagnostiker seinen unterkühlten kristallinen Verstand verlieren. Der Chefpsychologe beachtete Conway jedoch nicht.

„… meine Begeisterung entspringt dem terrestrischen DBDG-Band, das seit dem Beginn unseres Gesprächs von einem übermäßigen Teil meines Verstands Besitz ergriffen hat“, fuhr der SNLU fort. „Es stammt von einem ganz großartigen Chirurgen, der alle mit der Fortpflanzung in Verbindung stehenden Tätigkeiten ungeheuer gern mochte. Aus diesem Grund wirkt Ihre DBDG-Frau auf mich äußerst beunruhigend. Sie besitzt die — vielleicht unbewußte — Fähigkeit, sich ohne Worte und allein durch den Gang zu verständigen, und die Brustpartie ist besonders.“

„Bei mir ist es die hudlarische Krankenpflegeschülerin auf der Kinderstation für FROBs“, unterbrach ihn Conway hastig. Rasch stellte sich heraus, daß gleich mehrere der anwesenden Diagnostiker hudlarische Physiologiebänder im Kopf gespeichert hatten und sie alles andere als abgeneigt waren, die Fachkompetenz und die körperlichen Merkmale der Schwester lang und breit zu erörtern, doch der SNLU schnitt ihnen schließlich das Wort ab.

„Durch diese Diskussion muß Conway ja einen völlig falschen Eindruck von uns bekommen“, sagte Semlic, wobei seine Außenkamera umherschwenkte, um alle Anwesenden im Raum einzubeziehen. „Das setzt Conways hohe Meinung von Diagnostikern, deren Debatten er wohl eher auf einer vergeistigten und rein fachlichen Ebene vermutet hatte, womöglich stark herab. Lassen Sie mich ihm in unser aller Namen versichern, daß wir unserem neuesten möglichen Mitglied lediglich beweisen wollen, daß der Großteil seiner Probleme keineswegs neu und entweder auf die eine oder andere Art gelöst worden ist, und zwar gewöhnlich mit der Hilfe von Kollegen, die nur allzu gerne dazu bereit sind, ihm jederzeit zur Seite zu stehen.“

„Danke“, sagte Conway.

„Nach dem anhaltenden Schweigen des Chefpsychologen zu urteilen, scheinen Sie die Lage bis jetzt ziemlich gut gemeistert zu haben“, fuhr Semlic fort. „Aber es gibt eine kleine Hilfestellung, die ich Ihnen vielleicht geben kann, und die hat mehr mit Umweltbedingungen als mit persönlichen Angelegenheiten zu tun. Sie können meinen Ebenen jederzeit einen Besuch abstatten, unter der einen Bedingung, daß Sie auf der Zuschauergalerie bleiben.

Denn die warmblütigen Sauerstoffatmer, die sich beruflich für meine Patienten interessieren, sind wirklich dünn gesät“, fügte der SNLU hinzu. „Falls Sie jedoch die Ausnahme sein sollten, müssen besondere Vorkehrungen getroffen werden.“

„Nein, danke“, entgegnete Conway. „Ich könnte gerade jetzt, falls überhaupt, keinen nützlichen Beitrag zur Medizin kristalliner und unter Minustemperaturen lebender Wesen leisten.“

„Trotzdem sollten Sie uns besuchen“, fuhr der Methanatmer unbeirrt fort. „Vergessen Sie nicht, die Ohren zu spitzen und den Translator abzuschalten, und dann hören Sie zu. Aus den Resultaten haben mehrere Ihrer warmblütigen Kollegen einen gewissen Trost geschöpft.“

„Einen mageren und vor allem kalten Trost“, warf O'Mara trocken ein und fügte hinzu: „Außerdem widmen wir meiner Meinung nach einen großen Teil unserer Zeit unrechtmäßigerweise Conways persönlichen Problemen anstatt denen der Patienten.“

Conway musterte die Diagnostiker der Reihe nach und fragte sich, wie viele von ihnen FROB-Physiologiebänder im Kopf gespeichert hatten. „Dann gibt es noch das Problem mit den alterskranken FROBs“, sagte er schließlich an alle gewandt. „Insbesondere die Entscheidung, ob an einem Patienten eine gefährliche mehrfache Amputation vorgenommen werden soll, die, wenn sie glückt, das Leben um eine verhältnismäßig kurze Zeitspanne verlängert, oder ob man der Natur lieber freien Lauf lassen sollte. Im ersten Fall läßt die Qualität des verlängerten Lebens viel zu wünschen übrig.“

Ergandhirs Körper mit dem prächtig gezeichneten Ektoskelett beugte sich im Sitzgestell vor, und der Unterkiefer bewegte sich im Rhythmus mit der Übersetzung. „Das ist eine Situation, mit der ich, wie fast alle von uns, schon oft konfrontiert worden bin, und zwar bei ganz anderen Spezies als bei den Hudlarern. In meinem Fall ist das Ergebnis, um eine melfanische Metapher zu benutzen, ein stark angeschlagener Panzer gewesen. Im wesentlichen ist das jedenfalls eine moralische Entscheidung, Conway.“

„Natürlich!“ rief einer der Kelgianer, bevor Conway antworten konnte. „Diese Entscheidung wird knapp ausgehen und ist ganz persönlich. Wie ich Conway kenne, wird er sich jedoch wahrscheinlich eher zu einem operativen Eingriff entschließen, als den Patienten bis zum Zeitpunkt des Todes unter klinische Beobachtung zu stellen.“

„Dem kann ich nur zustimmen“, sagte Thornnastor, der sich zum erstenmal zu Wort meldete. „Wenn eine Situation schon an sich hoffnungslos ist, ist es besser, wenigstens das Machbare zu tun als überhaupt nichts. Und bei äußeren Operationsbedingungen, unter denen andere Spezies nur mit Schwierigkeiten gute Arbeit leisten können, darf ein erfahrener terrestrischer Chirurg vielleicht mit ordentlichen Ergebnissen rechnen.“

„Terrestrische DBDGs gehören nicht zu den besten Chirurgen der Galaxis“, mischte sich der Kelgianer erneut ein, wobei sein kräuselndes Fell denjenigen, die DBLF-Bänder im Kopf gespeichert hatten, die Empfindungen verriet, die durch die plumpe Sprechweise kaschiert wurden. „Unter gewissen Umständen sind Tralthaner, Melfaner, Cinrussker und wir Kelgianer chirurgisch sehr viel geschickter. Jedoch treten ab und an Situationen auf, in denen diese Geschicklichkeit aufgrund der Umweltbedingungen nicht zum Tragen gebracht werden kann.“

„Der Operationssaal muß auf den Patienten abgestimmt sein, nicht auf den Arzt“, warf irgendeine Stimme ein.

„…oder aufgrund von psychologischen Einflüssen seitens des Chirurgen gehemmt wird“, fuhr der Kelgianer fort. „Die zum Arbeiten unter schädlichen Umweltbedingungen benötigten Schutzanzüge oder — fahrzeuge behindern die feineren Bewegungen von Greiforganen oder Fingern, und ferngesteuerte Greifer arbeiten entweder nicht genau genug oder haben in den kritischsten Momenten eine Fehlüinktion. Die Hand eines DBDGs kann jedoch gegen viele schädliche Umweltbedingungen durch einen lachhaft dünnen Handschuh geschützt werden, der die Fingerbewegungen nicht behindert. Und die Stützmüskulatür des terrestrischen Körpers ist so beschaffen, daß die DBDGs unter erhöhtem Druck und gesteigerter Schwerkraft mit nur minimal verringerter Leistungsfähigkeit arbeiten können. Selbst wenn sich die Hände ein kleines Stück außerhalb des Schwerkraftneutralisatorenfelds befinden, bleiben sie voll funktionsfähig. Obwohl sie eine grobe Form haben und in ihren Bewegungen verhältnismäßig eingeschränkt sind, kommen die terrestrischen Hände überallhin — natürlich rein chirurgisch gesehen — und.“

„Nicht überallhin, Conway“, unterbrach Semlic den Kelgianer. „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Ihre überhitzten Hände von meinen Patienten ließen.“

„Für einen Kelgianer ist Diagnostiker Kursedth diplomatisch“, sagte Ergandhir. „Er macht Ihnen Komplimente und erklärt gleichzeitig, weshalb Sie von den unangenehmen Arbeiten wahrscheinlich mehr als Ihren verdienten Anteil abbekommen werden.“

„So etwas Ähnliches habe ich schon befürchtet“, entgegnete Conway lachend.

„Also schön“, meldete sich Thornnastor zu Wort. „Jetzt sollten wir über die dringende Angelegenheit mit den Unfallopfern aus dem Meneldensystem nachdenken. Wenn Sie bitte alle so freundlich wären, Ihren Monitor zu betrachten, werden wir den klinischen Zustand, die geplante Behandlung und die Zuweisungen der chirurgischen Verantwortlichkeiten besprechen.“

Mit den höflichen Nachfragen, dem Mitgefühl und den Ratschlägen, die eine eingehende Untersuchung seiner Gefühle und seiner beruflichen Einstellung bemäntelt hatten, war es, wie Conway jetzt merkte, erst einmal vorbei. Die Leitung der Versammlung hatte Thornnastor übernommen, der erfahrenste und ranghöchste Diagnostiker des Hospitals.

„…wie Sie feststellen können, wurde der Großteil der Fälle Chefärzten verschiedener physiologischer Klassifikationen übertragen, deren Fähigkeiten den Aufgaben mehr als gewachsen sind. Sollten sich unvorhersehbare Schwierigkeiten ergeben, wird einer von uns aufgefordert werden zu assistieren. Unserer direkten Verantwortung werden wesentlich weniger Verletzte unterstehen, nämlich die wirklich schlimmen Fälle. Einigen von Ihnen ist aus Gründen, die Ihnen klarwerden, wenn Sie sich mit den Anmerkungen zu den Fällen befassen, nur ein Patient zugewiesen worden, andere haben mehrere erhalten. Hat noch jemand von Ihnen irgend etwas zu sagen, bevor Sie damit beginnen, Ihre Operationsteams zusammenzustellen und die Maßnahmen im einzelnen zu planen?“

Während der ersten paar Minuten waren alle Diagnostiker viel zu sehr damit beschäftigt, die Einzelheiten der ihnen übertragenen Fälle zu überprüfen, um irgend etwas Brauchbares sagen zu können, und die ersten Bemerkungen hatten eher den Charakter von Beschwerden.

„Die zwei Fälle, die Sie mir gegeben haben, Thornnastor“, meldete sich Ergandhir zu Wort, wobei er mit einer seiner harten, spitz zulaufenden Zangen auf den Bildschirm tippte, „weisen derart viele komplizierte Frakturen und Splitterbrüche auf, daß die Patienten, falls sie überhaupt überleben, mit so viel Drähten, Nägeln und Platten in den Knochen herumlaufen werden, daß ihre Körpertemperatur jedesmal, wenn sie in die Nähe eines Energiegenerators kommen, vom Induktionsstrom in die Höhe getrieben wird. Was haben überhaupt zwei orligianische DBDGs im Meneldensystem zu suchen gehabt?“

„Die beiden sind im Wrack verunglückt“, antwortete der Pathologe. „Sie haben zu einem Rettungsteam von dem nahegelegenen orligianischen Metallverarbeitungswerk gehört. Aber sonst beklagen Sie sich doch immer, daß Sie nie genügend chirurgische Erfahrungen mit DBDGs sammeln können, Ergandhir.“

„Mir haben Sie nur einen einzigen Fall zugeteilt“, beschwerte sich der Diagnostiker Vosan. Der creppelianische Oktopode musterte Thornnastor von oben bis unten, gab dann einen Laut von sich, der nicht übersetzt wurde, und fügte hinzu: „Ein derart entmutigendes klinisches Bild habe ich selten gesehen, und bestimmt habe ich alle acht Hände voll mit diesem Patienten zu tun.“

„Gerade die Anzahl und Geschicklichkeit Ihrer Glieder hat mich in erster Linie dazu veranlaßt, Ihnen diesen Fall zu übertragen“, entgegnete Thornnastor. „Aber für Diskussionen bleibt uns allmählich keine Zeit mehr. Gibt es noch irgendwelche weiteren Anmerkungen, bevor wir uns über die Verfahrenstechniken unterhalten?“

Schnell sagte Ergandhir: „Bei der Arbeit im Schädelbereich, insbesondere bei einem meiner Patienten, wäre eine Überwachung der emotionalen Ausstrahlung ausgesprochen vorteilhaft.“

„Und ich fände es nützlich“, fügte Vosan hinzu, „in der präoperativen Phase den Grad der Bewußtlosigkeit und der erforderlichen Betäubung zu überprüfen.“

„Und ich! Und ich!“ schrien gleich mehrere der anderen Diagnostiker, und einen Moment lang riefen zu viele Stimmen durcheinander, als daß der Translator seine Aufgabe hätte bewältigen können. Mit einer energischen Tentakelbewegung sorgte Thornnastor schließlich für Ruhe.

„Offenbar muß Sie der Chefpsychologe erneut an die physiologischen und psychologischen Fähigkeiten unseres einzigen medizinisch qualifizierten Empathen erinnern“, stellte der Tralthaner fest. „Major?“

O'Mara räusperte sich und sagte auf seine typisch unterkühlte Art: „Ich habe keinen Zweifel, daß Doktor Prilicla Ihnen allen bereitwillig und gerne helfen würde, aber als Chefarzt, der bereits für die Beförderung zum Diagnostiker in Betracht gezogen wird, ist er selbst am besten in der Lage zu beurteilen, wann und wo seine empathischen Fähigkeiten am wirkungsvollsten eingesetzt werden können. Außerdem, auch wenn es nützlich ist, über einen für Emotionen empfänglichen Empathen zu verfügen, der während einer Operation ständig den Zustand eines sich in tiefer Bewußtlosigkeit befindlichen Patienten überwacht, hat der Patient so etwas keinesfalls nötig. Der einzige Vorteil beruht fast immer nur auf der psychischen Erleichterung und der Beruhigung des Chirurgen.

Darüber hinaus funktioniert unser Empath am besten, wenn er sich unter Lebewesen befindet, die ihn mögen und ihm vollstes Verständnis entgegenbringen“, fuhr der Chefpsychologe ungerührt fort, ohne auf die unübersetzbaren Protestbekundungen zu achten, die sich rund um den Tisch herum erhoben. „Und da dies so ist, sollte Ihnen allen klar sein, daß Prilicla große Wahlfreiheit eingeräumt wird, und zwar nicht nur in der Frage, welche Fälle er annimmt, sondern auch, mit welchen Chirurgen er zusammenarbeiten will. Falls also derjenige Arzt, der mit Chefarzt Prilicla seit dessen Anfängen als Assistenzarzt am Orbit Hospital zusammengearbeitet und ihm bei seiner frühen medizinischen Ausbildung geholfen hat, um die Assistenz Priliclas bei einer Operation bäte, würde ihm das keinesfalls abgeschlagen werden. Oder sehe ich das falsch, Conway?“

„Ich. ehm. ich nehme an, Sie sehen das ganz richtig“, stammelte Conway. Die letzten paar Minuten hatte er nicht genau zugehört, weil ihm seine Fälle, diese nahezu hoffnungslosen Fälle, durch den Kopf gegangen waren und er mit dem Gedanken an einen offenen beruflichen Aufstand gespielt hatte.

„Brauchen Sie Prilicla?“ fragte O'Mara leise. „Sie haben als erster das Anrecht auf ihn. Wenn Sie die Hilfe Ihres empathischen Freunds zwar gerne in Anspruch nehmen würden, aber nicht wirklich benötigen, dann sagen Sie das. Auf der linken Seite wird sich in Null Komma nichts eine Schlange Ihrer Kollegen bilden, die ihn brauchen.“

Conway dachte nach und versuchte, die Meinungen seiner Gehirnpartner zu ordnen und abzuwägen.

Selbst die freundliche und ständig erschreckte Khone betrachtete seine Fälle mit Wohlwollen, und dabei hatte früher schon der bloße Anblick eines unverletzten Hudlarers ausgereicht, um bei ihr eine Panikreaktion auszulösen. „Ich glaube nicht, daß mir bei diesen Fällen ein Empath eine große Hilfe wäre“, antwortete er schließlich. „Prilicla kann keine Wunder vollbringen, und wenn die Fälle gemeistert werden sollen, sind wenigstens drei verschiedene übernatürliche Eingriffe erforderlich. Und selbst dann bezweifle ich es noch sehr, daß es uns die Patienten oder deren Angehörige danken werden.“

„Sie können die Fälle ablehnen“, sagte O'Mara leise, „aber Sie müssen uns schon einen besseren Grund dafür nennen, warum es sich dabei um anscheinend hoffnungslose Krankheitsbilder handelt. Wie schon zuvor erwähnt worden ist, wird Ihnen als Diagnostiker auf Probe ein scheinbar ungerecht hoher Anteil von solchen Fällen zugeteilt. Das soll Sie an den Gedanken gewöhnen, daß das Hospital sich nicht nur mit schönen, sauberen und vollkommenen Heilungen beschäftigen kann, sondern auch mit Teilerfolgen und Fehlschlägen fertig werden muß. Bisher haben Sie sich noch nie mit den Problemen der Nachbehandlung befassen müssen, nicht wahr, Conway?“

„Das ist mir durchaus bewußt“, antwortete der Diagnostiker auf Probe verärgert, weil sich O'Maras Erklärung für ihn so angehört hatte, als würde er ihn aufgrund seiner früheren Erfolge kritisieren und ihn bezichtigen, es in irgendeiner merkwürdigen Weise auf Effekthascherei abgesehen zu haben. Dann stellte er sich allerdings selbst die Frage, ob er lediglich deshalb wütend war, weil die Beschuldigung ein gewisses Maß an Wahrheit enthielt. Leiser fuhr er fort: „Vielleicht habe ich bisher das Glück gehabt.“

„Und außerdem das chirurgische Geschick“, warf Thornnastor ein.

„… Fälle zu bekommen, die nur volle Erfolge oder totale Fehlschläge werden konnten“, setzte er seine Ausführungen fort. „Aber bei diesen Patienten — selbst wenn die Lebenserhaltungssysteme permanent laufen — habe ich eher den Eindruck, daß sie nur noch in technischer Hinsicht am Leben gehalten werden, und Priliclas empathische Fähigkeiten würde ich lediglich brauchen, um diese Tatsache zu bestätigen.“

„Diese Unfallopfer hat uns Prilicla geschickt“, gab einer der Kelgianer zu bedenken, der bislang noch nichts gesagt hatte. „Gewiß hat er sie nicht als hoffnungslos betrachtet. Haben Sie Probleme, hinsichtlich der Maßnahmen eine Entscheidung zu treffen, Conway?“

„Ganz bestimmt nicht!“ entgegnete Conway mit entschiedener Stimme. „Ich kenne Prilicla, und Cinrussker sind gewöhnlich unverbesserliche Optimisten. Unangenehme Gedanken wie die Vorstellung, bei einem Patienten zu versagen oder es mit einem von Anfang an hoffnungslosen Fall zu tun zu bekommen, sind Prilicla vollkommen fremd. Es hat Zeiten gegeben, als er mich so beschämt hat, daß ich genauso gedacht habe. Aber jetzt bin ich realistisch. Meinem Eindruck nach handelt es sich bei zweien, vielleicht auch dreien dieser vier Fälle um wenig mehr als um ziemlich tote Exemplare für die pathologische Untersuchung.“

„Zumindest zeigen Sie Anzeichen, daß Sie sich mit Ihrer Lage abfinden, Conway“, sagte Thornnastor mit seiner langsamen, schwerfälligen Stimme. „Vielleicht können Sie sich nie wieder mit Ihrem ganzen Verstand und all Ihren Fähigkeiten auf einen einzigen Patienten konzentrieren. Sie müssen lernen, Fehlschläge zu akzeptieren und sie sich für Ihre zukünftigen Erfolge zunutze zu machen. Vielleicht verlieren Sie sämtliche vier Patienten, möglicherweise retten Sie sie auch alle. Aber egal für welche Maßnahmen und Behandlungsmethoden Sie sich auch entscheiden, und unabhängig von den guten oder schlechten Resultaten, die sich daraus ergeben, werden Sie Ihren vielfach gesteigerten Verstand gebrauchen, um herauszufinden, ob dieser Verstand genügend gefestigt ist oder nicht, damit er Bestand haben und die Kontrolle über Ihre Arbeitsschritte behalten kann, ob Sie die nun selbst vornehmen oder jemand anderem übertragen.

Überdies werden Sie immer daran denken“, fuhr der ranghöchste Diagnostiker fort, „daß Sie während der Behandlung der vier Patienten von der Notfalliste aus dem Meneldensystem noch andere Anliegen haben: das Problem mit den alterskranken FROBs, unsere gegenwärtigen postoperativen Schwierigkeiten bei unzulänglicher Organübertragung, die bevorstehende Geburt bei dem Beschützer und sogar die vom unauslöschlichen Gedächtnis Ihrer gogleskanischen Freundin bereitgestellten Informationen, falls diese bei einem der Probleme Anregungen zu einem neuen Gesichtspunkt oder einer Maßnahme geben. Wenn Sie sich all das vor Augen halten — mein eigener terrestrischer Gehirnpartner ist über diese Redensart nicht glücklich, weil sie das ist, was Ihre DBDGs als Wortspiel bezeichnen —, werden Sie bereits eingesehen haben, daß bei der Behandlung aller vier Fälle die FROB-Transplantationschirurgie eine entscheidende Rolle spielen wird und jeder Mißerfolg den schnellen Zugriff auf die benötigten Organe ermöglichen könnte, um den Erfolg bei einem nicht ganz so hoffnungslosen Fall sicherzustellen.

Wir alle finden es schwierig, uns mit Fehlschlägen abzufinden, Conway“, setzte Thornnastor seine Ausführungen fort, „und Ihr früherer Rekord wird die Sache für Sie auch nicht gerade leichter machen. Aber diese Fälle werden Ihnen nicht aus psychologischen Gründen übertragen. Der Grad Ihrer Fähigkeiten rechtfertigt.“

„Was unser allzu redseliger Kollege wieder einmal sagen will, ist, daß immer die besten Ärzte die hoffnungslosesten Patienten bekommen“, fiel ihm einer der Kelgianer ins Wort, dessen Fell vor Ungeduld bereits Büschel bildete. „Dürfte ich jetzt vielleicht über meine beiden Fälle sprechen, bevor die noch an Altersschwäche sterben?“

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