Es ging nun bergan.
Die Straße war mir gut bekannt, der lange, relativ steile Anstieg zum Kamm einer Reihe von Hügeln, hinter denen Ko-ro-ba lag, ein Aufstieg, der die Plage aller Karawanenfuhrmeister, Lastträger und sonstigen Reisenden war.
Ko-ro-ba lag inmitten grüner Hügel, einige hundert Meter über der Oberfläche des fernen Tambergolfs und jenes geheimnisvollen Wassers, das von den Goreanern einfach Thassa, das Meer, genannt wird. Ko-ro-ba lag nicht so hoch und abgeschieden wie bei- spielsweise Thentis im Thentisgebirge, eine Stadt, die wegen ihrer Tarnschwärme berühmt war, doch sie zählte auch nicht zu den Städten der großen Ebenen wie die luxuriöse Metropole Ar, oder zu den Siedlungen an der Küste wie das enge, bevölkerte Port Kar am Tambergolf. Wahrend Ar großartig zu nennen war, eine Stadt, deren Pracht und Schönheit sogar von ihren Todfeinden anerkannt wurde, während Thentis in der stolzen Wildheit der Thentisberge gedieh, wahrend Port Kar den breiten Tamber und das schimmern- de, geheimnisvolle Thassa dahinter als seine Gespielin bezeichnen konnte, hielt ich meine Stadt dennoch für die schönste auf ganz Gor, eine einzigartige Ansammlung zierlicher Zylinder, die anmutig zwischen den grünen Bergen aufragten.
Ein urzeitlicher Dichter, der — für die Goreaner heute unverständlich — verschiedene Städte dieser Welt besungen hat, bezeichnete Ko-ro-ba als die Türme des Morgens, und so wird es manchmal heute noch genannt. Die goreanischen Worte Ko-ro-ba sind nur ein altgoreanischer Ausdruck für Dorfmarkt.
Das Unwetter hatte nicht nachgelassen, doch ich kümmerte mich nicht mehr darum. Durchnäßt, kalt — so kletterte ich weiter, hielt meinen Schild vor mich, um den Wind abzulenken und meinen Aufstieg zu erleichtern. Als ich endlich den Kamm erreichte, verharrte ich und wischte mir das kalte Wasser aus den Augen, wartete auf den nächsten Blitz, der mir nach all den Jahren endlich meine Stadt zeigen sollte. Ich sehnte mich nach dieser Stadt und nach meinem Vater, dem großartigen Matthew Cabot, der einmal Ubar von Ko-ro-ba gewesen war und jetzt als ihr Administrator fungierte. Ich freute mich auf meine Freunde, den stolzen Älteren Tarl, meinen Waffenlehrer und auf Torm, den gutmütigen, knurrigen kleinen Schriftgelehrten, der selbst Schlaf und Nahrung als Teile einer Verschwörung ansah, die ihn von seinen geliebten Schriftrollen fernhalten sollte. Am meisten sehnte ich mich jedoch nach Talena, die ich mir als Freie Gefährtin erwählt hatte, für die ich auf Ars Justizzylinder gekämpft hatte, die mich wiederliebte — die dunkelhaarige, wunderschöne Talena. »Ich Liebe dich, Talena!« rief ich.
Und als sich der Schrei von meinen Lippen loste, zuckte eine gewaltige Folge von Blitzen auf, die das Tal zwischen den Hügeln erhellte — ein Tal, in dem nichts zu sehen war.
Ko-ro-ba war nicht mehr!
Die Stadt war verschwunden!
Dunkelheit folgte der grellen Helligkeit, und der Schock des Donners erfüllte mich mit Entsetzen.
Wieder und wieder blitzte es auf. Donner grollte, und erneut umhüllte mich Schwarze. Und jedesmal sah ich, was ich schon gesehen hatte. Das Tal war leer. Ko-ro-ba war verschwunden!
»Du bist von den Priesterkönigen berührt«, sagte eine Stimme hinter mir. Ich fuhr herum, den Schild erhoben, den Speer zum Stoß bereit. Beim nächsten Aufblitzen machte ich die weiße Robe eines Wissenden aus, den kahlrasierten Kopf und die traurigen Augen eines Mitglieds der Gesegneten Kaste, angebliche Diener der Priesterkönige. Er stand mit verschränkten Armen vor mir, eine hochaufragende Gestalt in der Mitte der Straße, die Augen auf mich gerichtet.
Irgendwie kam mir dieser Mann anders vor als die Wissenden, die ich auf Gor bisher kennengelernt hatte. Ich vermochte den Unterschied nicht zu bestimmen, und doch schien er etwas an sich zu haben, das ihn von den anderen Mitgliedern seiner Kaste unterschied. Vielleicht war er tatsächlich ein einfacher Wissender — oder auch nicht. Nichts Ungewöhnliches ging von ihm aus — abgesehen vielleicht von seinem Gesichtsausdruck, der hochmütiger war als gewöhnlich, und von seinen Augen, die vielleicht schon Dinge geschaut hatten, wie sie nur wenige Menschen zu Gesicht bekamen.
Mir kam der Gedanke, das ich, Tarl von Ko-ro-ba, ein Sterblicher, hier auf dieser Straße in dieser unruhigen Nacht vielleicht in das Gesicht eines Priesterkönigs schaute.
Während wir uns so ansahen, ließ das Unwetter nach, das Zucken der Blitze hörte auf, der Donner grollte nicht mehr in meinen Ohren. Der Wind beruhigte sich. Die Wolken hatten sich verzogen. In den kalten Wasserpfützen auf der Straße spiegelten sich die drei Monde Gors. Ich wandte mich um und schaute über das Tal, in dem Ko-ro-ba gelegen hatte.
»Du bist Tarl aus Ko-ro-ba«, sagte der Mann.
Ich war verblüfft. »Ja«, sagte ich. »Ich bin Tarl aus Ko-ro-ba.« Ich schaute ihn an.
»Ich habe auf dich gewartet«, sagte er.
»Bist du«, fragte ich, »ein Priesterkönig?«
»Nein«, erwiderte er.
Ich musterte diesen Mann, der so sehr wie ein gewöhnlicher Mensch wirkte, der aber mehr sein mußte.
»Sprichst du für die Priesterkönige?« fragte ich.
»Ja«, sagte er.
Und ich glaubte ihm.
Es war natürlich nichts Ungewöhnliches, daß die Wissenden den Anspruch erhoben, für die Priesterkönige zu sprechen; tatsächlich war es nach eigener Meinung die Aufgabe ihrer Kaste, dem einfachen Menschen den Willen der Priesterkönige begreiflich zu machen. Doch diesem Manne glaubte ich.
Er war nicht wie die anderen Wissenden, auch wenn er ihre Robe trug. »Gehörst du der Kaste der Wissenden an?« fragte ich.
»Ich bin ein Mann, der den Willen der Priesterkönige für die Sterblichen interpretiert«, sagte der Mann, ohne auf meine Frage einzugehen. Ich schwieg.
»Von nun an«, sagte der Mann, »bist du Tarl aus keiner Stadt.« »Ich bin Tarl aus Ko-ro-ba«, sagte ich stolz.
»Ko-ro-ba wurde vernichtet«, sagte der Mann. »Es ist, als hatte es diese Stadt nie gegeben. Ihre Steine und ihre Einwohner sind bis in die entferntesten Winkel der Welt verstreut worden, und es darf nie geschehen, daß zwei Steine oder zwei Menschen aus dieser Stadt jemals wieder zusammentreffen.«
»Warum wurde Ko-ro-ba vernichtet?« wollte ich wissen.
»Es war der Wille der Priesterkönige«, sagte der Mann.
»Doch warum war es der Wille der Priesterkönige?* rief ich.
»Weil es ihr Wille war«, sagte der Mann, »und es gibt nichts, was den Willen der Priesterkönige in Frage stellen kann.«
»Ich erkenne ihren Willen nicht an«, sagte ich.
»Unterwirf dich«, sagte der Mann.
»Nein!«
»Dann sei es«, sagte er. »Du bist von nun an dazu verurteilt, allein und ohne Freunde die Welt zu durchstreifen, ohne Stadt, ohne Mauern, die du die deinen nennen kannst, ohne Heimstein, den du ehren könntest. Du bist ab sofort ein Mann ohne Stadt, du bist eine Warnung für alle, die sich dem Willen der Priesterkönige widersetzen wollen — doch ansonsten bist du nichts.«
»Was ist mit Talena?« rief ich. »Was ist mit meinem Vater, meinen Freunden, den Einwohnern meiner Stadt ?«
»In alle Winkel der Welt zerstreut«, sagte die eingehüllte Gestalt, »und keine zwei Steine dürfen wieder zusammentreffen.«
»Habe ich den Priesterkönigen nicht bei der Belagerung Ars gedient?« fragte ich.
»Die Priesterkönige haben dich für ihre Ziele eingesetzt, wie es ihnen beliebte.«
Ich hob meinen Speer und spürte, daß ich die Gestalt, die da Gelassen und erschreckend vor mir aufragte, mühelos hatte umbringen Können. »Töte mich, wenn das dein Wunsch ist«, sagte der Mann.
Ich senkte die Speerspitze. In meinen Augen standen Tränen. Ich war ratlos. War die Stadt meinetwegen untergegangen? Hatte ich ihren Einwohnern Unglück gebracht — meinem Vater, meinen Freunden und Talena? War ich zu ahnungslos gewesen, hatte ich nicht begriffen, daß ich im Griff der Priesterkönige ein Niemand, ein Nichts war? Sollte ich nun über die verlassenen Straßen und Felder Gors wandern, schuld- und qualbeladen, ein unglückliches Beispiel für das Schicksal, das die Priesterkönige für alle Narren und stolzen Menschen bereithielten! Dann plötzlich gab ich mein Selbstmitleid auf, und ich war schockiert, denn als ich nun in die Augen des verhüllten Mannes blickte, sah ich menschliche Wärme darin, sah ich Tränen. Mitleid, das verbotene Gefühl, schimmerte in diesen Augen, eine Regung, die er nicht unterdrücken konnte. Die Macht, die ich in seiner Gegenwart verspürt hatte, schien seltsamerweise verschwunden zu sein. Nun sah ich nur noch einen Mann vor mir, einen Mitmenschen, der allerdings die erhabenen Roben der stolzen Kaste der Wissenden trug.
Er schien mit sich zu kämpfen, als wollte er mir eigene Worte sagen und nicht nur die Botschaft der Priesterkönige. Er schien vor Schmerz zu zittern, er preßte die Hände gegen den Kopf, er wollte sprechen, wollte mir etwas sagen. Eine Hand streckte sich in meine Richtung, und die Worte, eigene Worte, die nichts von der widerhallenden Autorität seiner bisherigen Äußerungen hatten, kamen heiser und fast unhörbar. »Tarl aus Ko-ro-ba«, sagte er, »wirf dich in dein Schwert.«
Er schien zu schwanken, und ich stützte ihn.
Er schaute mir in die Augen. »Wirf dich in dein Schwert«, wiederholte er.
»Wäe das nicht gegen den Willen der Priesterkönige?* fragte ich. »Ja«, sagte er.
»Warum sagst du mir das?« wollte ich wissen.
»Ich bin dir bei der Belagerung Ars gefolgt«, sagte er. »Auf dem Justizzylinder kämpfte ich mit dir gegen Pa-Kur und seine Attentäter.« »Ein Wissender?« verwunderte ich mich.
Er schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Ich war einer der Wächter Ars, und ich kämpfte, um meine Stadt zu retten.«
»Das herrliche Ar«, sagte ich leise.
»Das herrliche Ar«, sagte er mit schwacher Stimme, in der Stolz schwang. Er sah mich an. »Stirb, Tarl aus Ko-ro-ba. Held von Ar.« Seine Augen schienen in seinem Kopf zu brennen. »Scheue dich nicht.«
Plötzlich begann er wie ein gequälter Hund aufzuheulen, und die nun folgenden Ereignisse vermag ich kaum zu beschreiben. Es schien, als begänne das Innere seines Kopfes zu platzen und zu brennen, zu brodeln wie eine schreckliche, flüssige Lava im Krater seines Schädels. Es war ein häßlicher Tod — und nur weil er mit mir sprechen wollte, weil er mir sagen wollte, was ihn in seinem Herzen bewegte.
Es wurde langsam hell, und die ersten Schimmer der Dämmerung zogen über den Hügeln auf, die einstmals Ko-ro-ba geschützt hatten. Ich entfernte die verhaßten Roben des Wissenden vom Körper des Toten und trug ihn weit von der Straße fort.
Als ich ihn mit Felsbrocken zu bedecken begann, bemerkte ich die Überreste des Schädels, der kaum mehr als eine Handvoll von Knochenstücken war. Das Gehirn war förmlich herausgebrannt. Das Morgenlicht blitzte kurz auf einem Gebilde zwischen den weißen Knochenstücken. Ich hob es hoch. Es war ein kleines Netz aus feinem goldenem Draht. Ich wußte nichts damit anzufangen und warf es zur Seite.
Ich stapelte Steine über den Körper und errichtete eine Grabstelle, die dem Auge auffiel und die alle Raubtiere abschrecken würde. Einen großen flachen Stein brachte ich am Kopfende des Grabes an und kratze mit meiner Speerspitze folgende Worte hinein: ›Ich bin ein Mann aus dem Herrlichen Ar‹. Mehr wußte ich nicht über den Mann.
Neben dem Grab stehend, zog ich mein Schwert. Er hatte mir gesagt, ich sollte mich hineinstürzen, um meiner Schande zu entgehen, um wenigstens einmal dem Willen der mächtigen Priesterkönige von Gor zu trotzen.
»Nein, mein Freund«, sagte ich zu dem toten Krieger von Ar. »Nein, ich werfe mich nicht in dieses Schwert. Auch unterwerfe ich mich nicht den Priesterkönigen.«
Ich hob das Schwert in die Richtung auf das Tal, in dem Ko-ro-ba gestanden hatte.
»Vor langer Zeit«, sagte ich, »weihte ich dieses Schwert dem Dienste an Ko-ro-ba. Diese Verpflichtung ändert sich nicht.«
Wie jedem anderen Goreaner war mir die Lage des Sardargebirges bekannt, der Heimat der Priesterkönige, eines verbotenen Gebietes, in das kein Mensch im Schatten der Berge, kein Sterblicher eindringen durfte. Es hieß, das der Oberste Heimstein von ganz Gor in diesen Bergen zu finden sei und daß in ihm der Quell für die Macht der Priesterkönige liege; daß kein Mann je einen Priesterkönig gesehen und diese Begegnung überlebt habe.
Ich steckte mein Schwert wieder ein, befestigte den Helm an meiner Schulter, hob Schild und Speer auf und setzte mich in Bewegung — zum Sardargebirge.