Man hatte mir eine Kapuze übergestreift und mich unter der Last meines Jochs durch die Straßen getrieben. Endlich war ich in ein Gebäude gekommen, wo ich eine lange, schräge Rampe hinabgehen mußte, gefolgt von endlosen, feuchten Gängen. Als mir die Haube endlich abgenommen wurde, fand ich mich in einem Verlies wieder.
Ich wurde an die Wand gekettet.
Der Raum wurde durch eine kleine Tharlarionlampe erleuchtet. Ich hatte keine Vorstellung, wie tief das Verlies unter der Erde lag. Fußboden und Wände bestanden aus schwarzem Gestein. Es war feucht. Hier und dort lag Stroh auf dem Boden. Ich vermochte mit Mühe ein kleines Wassergefäß zu erreichen. Eine Schale mit Nahrung lag neben meinem Fuß.
Erschöpft, schmerzerfüllt, so lag ich auf den Steinen und schlief. Wie lange dieser Schlaf dauerte, weiß ich nicht. Als ich erwachte, tat mir jeder Muskel im Körper weh, ein matter, ziehender Schmerz. Ich versuchte mich zu bewegen, und sofort begannen mir meine Wunden das Leben unerträglich zu machen.
Trotz des Jochs richtete ich mich auf, schlug die Beine unter und schüttelte den Kopf. In der kleinen Schale lag ein halber Brotlaib. Mit dem Joch gab es keine Möglichkeit, an das Brot heranzukommen. Ich konnte auf dem Bauch an die Schale herankriechen, und wenn mein Hunger noch schlimmer würde, blieb mir auch nichts anderes übrig. Der Gedanke ärgerte mich. Das Joch diente nicht nur dazu, einen Gefangenen an der Flucht zu hindern, sondern es sollte ihn auch erniedrigen, ihn einem Tier gleichsetzen.
»Ich möchte dir helfen«, sagte eine Mädchenstimme.
Ich drehte mich um, und das Trägheitsmoment des Jochs ließ mich fast das Gleichgewicht verlieren. Zwei schmale Hände griffen nach der silbernen Last, kämpften einen Augenblick damit und brachten es wieder in die richtige Lage, so daß ich aufrecht hocken blieb.
Ich schaute das Mädchen an. Sie mochte unscheinbar sein, doch ich fand sie attraktiv. Sie strahlte eine menschliche Wärme aus, die ich in Tharna nicht erwartet hätte. Ihre dunklen Augen musterten mich besorgt. Ihr Haar, das eine rötlichbraune Farbe hatte, war hinter ihrem Kopf zusammengebunden.
Als sie meinen Blick bemerkte, senkte sie scheu die Augen. Sie trug ein schlichtes braunes Kleid, das wie ein Poncho um ihren Körper geschlungen und an ihrer Hüfte von einem Kettchen zusammengehalten wurde.
»Ja«, sagte sie beschämt. »Ich trage den Sklavenrock.«
»Du bist schön«, sagte ich.
Sie sah mich verwirrt und dankbar an.
Stumm griff sie nach dem Brot in der Schale und hielt es mir an den Mund. Heißhungrig biß ich zu, schluckte den Bissen hinunter und aß weiter.
Ich sah, daß ihr Hals von einem grauen Metallkragen umschlossen war. Vermutlich hieß das, daß sie eine tharnaische Staatssklavin war. Sie griff in das Wasserbecken, schöpfte zunächst die Wasseroberfläche ab, um den grünen Schleim zu beseitigen, und hob dann in ihren gewölbten Händen das kühle Naß an meine gesprungenen Lippen. »Danke«, sagte ich.
Sie lächelte. »Einer Sklavin dankt man nicht.«
»Ich dachte, in Tharna sind die Frauen frei«, sagte ich und deutete auf ihren grauen Halsring.
»Ich werde nicht in Tharna gehalten«, sagte sie. »Ich werde aus der Stadt gebracht — zu den großen Anbaugebieten, wo ich den Feldsklaven Wasser bringen muß.«
»Was hast du verbrochen?« fragte ich.
»Ich habe Tharna verraten«, sagte sie.
»Du warst in eine Verschwörung gegen den Thron verwickelt?«
»Nein«, sagte das Mädchen. »Ich habe Gefühle für einen Mann empfunden.«
Ich war sprachlos.
»Es gab eine Zeit, da ich die Silbermaske trug, Krieger«, sagte sie. »Nun bin ich nur noch eine Entwürdigte, denn ich habe mich von der Liebe hinreißen lassen.«
»Das ist doch kein Verbrechen«, sagte ich.
Das Mädchen lachte fröhlich auf. Ich liebe diese überraschende, frohe Musik eines Mädchenlachens, das einen Mann so erfreuen kann, das auf ihn einzuwirken vermag wie ein Glas Ka-la-na-Wein.
Plötzlich wurde mir das Joch sehr leicht.
»Erzähl mir von ihm«, sagte ich, »aber sage mir zuerst deinen Namen.« »Ich bin Linna aus Tharna«, sagte sie. »Und wie heißt du?«
»Tarl«, sagte ich.
»Aus welcher Stadt?«
»Aus keiner Stadt.«
»Ah!« sagte das Mädchen lächelnd und fragte nicht weiter. Sie dachte jetzt bestimmt, daß sie ihre Zelle mit einem Geächteten teilte. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und schaute mich fröhlich an. »Er war nicht mal aus unserer Stadt«, sagte sie.
Ich stieß einen Pfiff aus. Das konnte nach goreanischen Bräuchen ein schwerwiegendes Verbrechen sein.
»Und noch schlimmer«, sagte sie lachend und klatschte in die Hände. »Er gehört der Kaste der Sänger an.«
Es hätte schlimmer sein Können, dachte ich. Obwohl die Kaste der Sänger und Dichter nicht sehr hoch angesehen wurde, hatte sie mehr Prestige als zum Beispiel die Kaste der Topfmacher oder Sattelmacher, mit denen sie manchmal verglichen wurde. Auf Gor wird der Sänger oder Dichter als Handwerker angesehen, der denkwürdige Sprüche macht, so wie etwa der Topfmacher einen guten Krug oder der Sattelmacher einen guten Reitsattel zu fertigen versteht. Er spielt seine Rolle in der Gesellschaftsstruktur dieser Welt, feiert Kämpfe und geschichtliche Ereignisse, besingt Helden und Städte, doch es wird auch von ihm erwartet, daß er über das Leben singt, von der Liebe und den Freuden des Lebens, und es gehört im übrigen zu seinen Aufgaben, die Goreaner von Zeit zu Zeit an die Einsamkeit und den Tod zu erinnern, damit sie nicht vergessen, daß sie Menschen sind.
Dem Sänger wurden ungewöhnliche Fähigkeiten zugeschrieben, wie auch dem Tarnzüchter und dem Holzträger. Dichtern begegnete man dagegen mit einer gewissen Skepsis, und man nahm sie manchmal nicht für voll, aber es war noch niemandem eingefallen, daß sie etwa einen göttlichen Wahnsinn in sich hatten oder von den Göttern inspiriert wurden.
Die Sänger waren auf Gor sehr beliebt. Den Angehörigen dieser Kaste ging es nicht sonderlich gut, doch im großen und ganzen wurden sie für eine fröhliche Gruppe von Männern gehalten. »Eine Handvoll Brot für ein Lied« — das war die übliche goreanische Einladung gegenüber den Mitgliedern dieser Kaste, und eine solche Einladung mochte von den Lippen eines Bauern oder eines Ubar kommen — der Dichter war stolz darauf, daß er an beiden Orten dasselbe "Lied singen würde, in der Hütte des Bauern ebenso wie in den großen Sälen des Ubar, obwohl er hier nur eine Brotkrume, dort aber eine Goldmünze gewinnen konnte, ein Lohn, der nur zu oft auf eine schöne Frau verschwendet wurde, die ihm schließlich doch nur seine Lieder ließ.
Die Dichter hatten es auf Gor also nicht gerade leicht, doch hungern mußten sie nicht. Einige hatten sich sogar von Stadt zu Stadt gesungen, wobei ihre Armut der beste Schutz gegen Geächtete gewesen war. Neun Städte berichteten noch heute von dem Manne, der vor vielen Jahrhunderten die Stadt Ko-ro-ba die Türme des Morgens genannt hatte.
»Gar nicht so übel, die Kaste der Sänger«, sagte ich zu Linna. »Natürlich nicht«, erwiderte sie. »Aber ihre Mitglieder gelten in Tharna als Geächtete.«
»Oh«, sagte ich.
»Trotzdem«, sagte sie und schaute mich fröhlich an, »dieser Mann, Andreas aus der Wüstenstadt Tor, kam in unsere Stadt geschlichen. Auf der Suche nach einem Lied, wie er sagte.« Sie lachte. »Aber in Wirklichkeit wollte er bestimmt nur hinter die Silbermasken unserer Frauen schauen.« Entzückt klatschte sie in die Hände. »Und ich war es, der ihn anhielt und beschuldigte. Ich sah die Lyra unter seinem grauen Umhang und erkannte ihn als Sänger. In meiner Silbermaske folgte ich ihm und vergewisserte mich, daß er langer als zehn Stunden in der Stadt gewesen war.«
»Was hat es damit auf sich?« fragte ich, denn diese Bemerkung war mir schon einmal aufgefallen.
»Es bedeutet, daß man in Tharna willkommen geheißen wird«, sagte das Mädchen, »mit anderen Worten: man wird in die großen Anbaugebiete geschickt, um dort als Feldsklave den Boden Tharnas zu kultivieren, ein Sklave bis zum Tode.«
»Warum werden Fremde nicht davor gewarnt«, fragte ich, »wenn sie die Stadt betreten?«
»Das wäre doch unsinnig, oder?« fragte das Mädchen lachend. »Wie könnten wir dann die Reihen unserer Feldsklaven auffüllen?«
»Ich verstehe«, sagte ich und begriff nun zum erstenmal die Gründe der tharnaischen Gastfreundschaft.
»Als eine Frau, die die Silbermaske trug«, fuhr das Mädchen fort, »war es meine Pflicht, diesen Mann den Behörden zu melden. Und doch war ich neugierig, denn ich hatte noch keinen Mann kennengelernt, der nicht aus Tharna stammte. Ich verfolgte ihn, bis wir allein waren, und dann rief ich ihn an, informierte ihn über das Schicksal, das auf ihn wartete.« »Und was tat er?« fragte ich.
Scheu senkte sie den Kopf. »Er zog mir die Silbermaske vom Gesicht und küßte mich«, sagte sie leise. »Ich konnte nicht einmal um Hilfe rufen.«
Ich lächelte.
»Ich hatte noch nie in den Armen eines Mannes gelegen«, sagte sie, »denn die Männer Tharnas dürfen uns Frauen nicht berühren.« Ich sah sie ratlos an.
»Die Kaste der Ärzte«, sagte sie, »ist für diese Dinge zuständig — unter der Leitung des Hohen Rates von Tharna.«
»Ich verstehe.«
»Und doch«, fuhr sie fort, »obwohl ich die Silbermaske getragen und mich für eine Frau Tharnas gehalten hatte, war es mir ganz und gar nicht unangenehm, als er mich in die Arme nahm.« Sie schaute mich ein wenig traurig an. »Da erkannte ich, daß ich nicht besser war als er, nicht besser als ein Tier, daß ich nur ein Sklavendasein verdient hatte.« »Das meinst du doch nicht ernst?«
»Doch«, erwiderte sie, »aber es ist mir egal, denn ich trage lieber den Sklavenrock und habe die Erinnerung an seinen Kuß, als daß ich mein Leben hinter der Silbermaske zu Ende leben würde.« Ihre Schultern begannen zu zucken. Ich wünschte, ich hatte sie in die Arme nehmen und trösten Können. »Ich bin eine Entwürdigte«, fuhr sie fort, »eine Verräterin der hohen Prinzipien Tharnas.«
»Was ist aus dem Mann geworden?«
»Ich versteckte ihn«, sagte sie, »und schmuggelte ihn aus der Stadt.« Sie seufzte. »Er rang mir das Versprechen ab, ihm zu Folgen, aber ich wußte, daß ich das nicht einhalten konnte.«
»Was hast du getan?«
»Als er in Sicherheit war«, sagte sie, »tat ich meine Pflicht. Ich trat vor den Hohen Rat von Tharna und legte ein Geständnis ab. Es wurde entschieden, daß ich meine Silbermaske verlieren, das Sklavenkleid anziehen und den Kragen bekommen sollte. Und dann sollte ich in die Anbaugebiete geschickt werden, um dort den Feldsklaven Wasser zu bringen.«
Sie begann zu weinen.
»Du hattest dich dem Hohen Rat nicht stellen dürfen.«
»Warum?« fragte sie. »War ich denn nicht schuldig?«
»Nein«, sagte ich entschieden.
»Ist denn die Liebe kein Verbrechen?«
»Nur in Tharna.«
»Du bist seltsam«, sagte sie lachend, »wie Andreas aus Tor.« »Was ist mit Andreas? Wenn du nicht zu ihm kommst, wird er dich dann nicht suchen und wieder in die Stadt kommen?«
»Nein«, sagte sie. »Er wird denken, daß ich ihn nicht mehr liebe.« Sie senkte den Kopf. »Er wird weiterziehen und sich eine andere Frau suchen — eine, die lieblicher ist als ein Mädchen aus Tharna.« »Das glaubst du doch wohl selbst nicht!«
»Doch«, sagte sie. »Und er kommt bestimmt nicht in die Stadt. Er weiß, daß er sofort verhaftet und womöglich in die Bergwerke geschickt würde.«
»Du glaubst also, er habe Angst, in die Stadt zu kommen?« fragte ich. »Ja, er ist kein Narr.«
»Was?« rief eine fröhliche junge Stimme. »Was weiß ein Mädchen wie du von Narren, von der Kaste der Sänger, von uns Dichtern?«
Linna sprang auf.
Durch die Tür stolperte eine gejochte Gestalt, die von zwei Speerschaften vorwärtsgestoßen wurde. Sie torkelte durch das Verlies, ehe Sie mit dem Joch gegen die Wand polterte und zum Stehen kam. Es gelang dem Mann, das Joch herumzudrehen und sich an der Wand zu Boden gleiten zu lassen.
Er war ein ungepflegter, stämmiger junger Bursche mit fröhlichen blauen Augen und einem wilden Haarschopf, der mich an das Fell eines schwarzen Larl erinnerte. Er saß dort im Stroh und blickte mit fröhlichem, freiem Lächeln zu uns auf. Er reckte den Hals im Joch und bewegte die Finger.
»Also, Linna«, sagte er. »Ich bin gekommen, dich zu entführen.« »Andreas!« rief sie und stürzte zu ihm.