Ich zog den Kopf ein und öffnete die schwere Holztür der Kal-da-Schanke. Das alte Schild war frisch übermalt worden. Auch hier leuchtete der herausfordernde Revolutionsschrei›Sa’ng-Fori‹ an den Wanden.
Ich stieg die niedrigen, breiten Stufen hinab. Diesmal war die Schänke gedrängt voll. Man konnte kaum einen Schritt vor den anderen setzen. Der Lärm war ohrenbetäubend. Ich vermeinte in einer Paga-Taverne in Ko-ro-ba oder Ar zu sein und nicht in einer einfachen tharnaischen Kal-da-Schanke. Fröhliches Lachen drang an meine Ohren.
In der Schänke hing jetzt etwa ein halbes Hundert Lampen, und an den Wanden leuchteten die Kastenfarben der Männer, die hier verkehrten. Dicke Teppiche lagen unter den niedrigen Tischen und wiesen zahlreiche Kal-da-Flecke auf.
Hinter dem Tresen war der dünne, kahlköpfige Wirt eifrig beschäftigt. Auf seiner Stirn stand der Schweiß, und seine glänzende schwarze Schürze war mit Gewürzen, Säften und Wein befleckt. Er rührte kräftig in einem riesigen Topf voller kochendem Kal-da. Ich rümpfte die Nase. Der Gestank kochenden Kal-das war nicht zu verkennen.
Hinter drei oder vier Tischen saß eine Gruppe schwitzender Musiker auf dem Teppich und erzeugte mit seltsamen Instrumenten — Saiten und Trommeln und Scheiben — eine unbeschreibliche Musik, die ins Blut ging — die wilden, packenden, schönen, barbarischen Melodien Gors. Ich wunderte mich über diesen Anblick, denn die Kaste der Musiker war wie die Kaste der Dichter in Tharna verboten gewesen. Die nüchternen Masken Tharnas waren der Meinung, daß Künstler in einer ernsten Stadt nichts zu suchen hatten, denn die Musik vermag wie der Alkohol das Herz eines Menschen zu entflammen, und wenn diese Flamme erst entzündet ist, laßt sich nicht sagen, wie sich der Brand weiter entwickelt. Als ich das Zimmer betrat, standen die Männer auf, brüllten und hoben grüßend ihre Becher. »Tal, Krieger!« riefen sie.
»Tal, Krieger!« erwiderte ich und hob den Arm. Ich begrüßte alle mit dem Titel meiner Kaste, denn ich wußte, daß in ihrem gemeinsamen Kampf jeder von ihnen ein Krieger gewesen war. So war es in den Bergwerken Tharnas festgelegt worden.
Hinter mir betraten Kron und Andreas die Schänke, gefolgt von Lara und Linna.
Ich fragte mich, welchen Eindruck die Schänke auf die wahre Tatrix von Tharna machen würde.
Kron nahm meinen Arm und führte mich an einen Tisch in der Mitte des Raumes. Ich ergriff Laras Hand und folgte ihm. In ihren Augen stand ein seltsamer Ausdruck, doch sie sah sich mit der Neugier eines Kindes um. Sie hatte nicht geahnt, wie die tharnaischen Männer sein konnten. Wenn sie von Zeit zu Zeit einmal zu offen gemustert wurde, senkte sie schüchtern den Kopf und errötete.
Endlich saß ich mit untergeschlagenen Beinen hinter dem niedrigen Tisch, und Lara kniete nach der Art goreanischer Frauen neben mir auf ihren Fersen.
Bei meinem Eintritt hatte die Musik kurz aufgehört, doch nun klatschte Kron zweimal in die Hände, und die Musiker beschäftigten sich wieder mit ihren Instrumenten.
»Freier Kal-da für alle!« rief Kron, und als der Wirt, der die Regeln seiner Kaste kannte, Einwände machen wollte, warf ihm Kron eine goldene Tarnmünze zu. Gierig bückte sich der Mann danach. »Gold ist hier reichlicher, vorhanden als Brot«, sagte Andreas, der sich neben uns niedergelassen hatte.
Tatsächlich waren die Gerichte auf den Tischen eher kärglich, doch das tat der guten Stimmung keinen Abbruch. Für die Männer hätte die Nahrung von den Tischen der Priesterkönige stammen können. Selbst das übelriechende Kal-da war in dem ersten Freiheitstaumel ein wohlschmeckendes und mächtiges Getränk.
Wieder klatschte Kron in die Hände. Zu meiner Überraschung ertönte leises Glockenlauten, und vier verängstigte Mädchen, offensichtlich nach Anmut und Schönheit ausgewählt, nahmen vor unserem Tisch Aufstellung. Außer den Glöckchen trugen sie nur das rote goreanische Tanzgewand. Sie warfen die Kopfe in den Nacken, hoben die Arme und begannen zum barbarischen Rhythmus der Musik zu tanzen.
Zu meiner Überraschung beobachtete Lara sie mit Entzücken.
»Wo hast du nur in Tharna Vergnügungssklavinnen aufgetrieben?« fragte ich, als ich die Silberkragen der Tänzerinnen bemerkte. Andreas, der eben ein Stück Brot in den Mund steckte, antwortete: »Hinter jeder Silbermaske steckt eine Möchtegern-Vergnügungssklavin.« »Andreas! sagte Linna und tat, als wollte sie ihm wegen seiner Frechheit einen Schlag versetzen, doch er brachte sie mit einem Kuß zum Schweigen, und sie begann spielerisch an dem Brot zu knabbern, das er noch zwischen den Zähnen hielt.
»Sind das wirklich Silbermasken aus Tharna?« fragte ich Kron skeptisch. »Ja«, erwiderte er. »Gut, nicht wahr?«
»Wo haben sie das Tanzen gelernt?«
Er zuckte die Achseln. »Das ist ein Instinkt bei den Frauen«, sagte er. »Aber diese hier sind natürlich noch unausgebildet.«
.Ich lachte vor mich hin. Kron sprach ganz und gar nicht mehr wie ein Mann aus Tharna.
»Warum tanzen sie für dich?« fragte Lara.
»Wenn sie nicht tanzen, bekommen sie die Peitsche zu spüren.« Lara senkte den Blick.
»Du siehst die Kragen«, sagte Kron und deutete auf die schlanken Silberbänder, die sich um den Hals der Mädchen legten. »Wir haben die Masken eingeschmolzen und das Silber für die Kragen verwendet.« Nun erschienen auch andere Mädchen zwischen den Tischen, die in kurze Sklavenröcke und Sklavenkragen gekleidet waren und stumm den Kal-da zu servieren begannen, den Kron bestellt hatte. Jede trug einen schweren Krug mit der übelriechenden, heißen Flüssigkeit und schenkte den Männern nach.
Einige musterten Lara neidisch, andere blickten sie haßerfüllt an. Sie fragten sich offenbar: Warum bist du nicht gekleidet wie wir, warum trägst du nicht den Kragen?
Zu meiner Überraschung streifte Lara den Umhang ab, nahm einem Mädchen den Kal-da-Krug aus der Hand und begann die Männer zu bedienen.
Einige Mädchen schauten ihr dankbar nach, denn sie war frei und zeigte durch ihre Tat, das sie sich nicht für besser hielt als sie. »Das«, sagte ich zu Kron und deutete auf Lara, »ist die Tatrix von Tharna.«
Als Andreas sich zu ihr umdrehte, sagte er leise: »Sie ist wirklich eine Tatrix.«
Linna stand auf und begann ebenfalls beim Bedienen zu helfen. Als Kron der Tänzerinnen überdrüssig wurde, klatschte er zweimal in die Hände, und mit leisem Glockenklimpern flohen sie aus dem Raum. Kron hob eine Schale mit Kal-da und sah mich an. »Andreas sagte mir, du wolltest in das Sardargebirge ziehen«, sagte er. »Wie ich sehe, hast du das nicht getan.«
Er meinte, das ich jetzt nicht hier wäre, wenn ich die Berge tatsächlich betreten hätte.
»Ich werde noch gehen«, sagte ich, »aber zuerst habe ich etwas in Tharna zu erledigen.«
»Gut«, sagte Kron. »Wir brauchen dein Schwert.«
»Ich bin gekommen, um Lara wieder auf den Thron zu setzen«, sagte ich.
Kron und Andreas starrten mich verblüfft an.
»Nein«, sagte Kron. »Ich weiß nicht, wie sie dich verhext hat, aber wir lassen nicht zu, daß Tharna noch einmal eine Tatrix bekommt.« »Sie ist das Symbol dessen, was wir bekämpfen!« wandte Andreas ein. »Wenn sie wieder den Thron besteigt, haben wir unseren Kampf verloren. In Tarna hatte sich nicht das geringste geändert.« »In Tharna hat sich schon viel geändert«, sagte ich.
Andreas schüttelte den Kopf, als versuchte er mich zu verstehen. »Wie können wir von ihm erwarten, daß er sich vernünftig äußert«, wandte er sich an Kron. »Schließlich ist er kein Dichter.«
Kron lachte nicht.
»Und auch kein Metallarbeiter«, fügte Andreas hoffnungsvoll hinzu. Noch immer blieb Kron ernst.
Seine Persönlichkeit, die sich über den Ambossen und Blasebalgen seines Berufes gebildet hatte, kam nicht so leicht über die Worte hinweg, die ich eben gesagt hatte.
»Du müßtest mich erst umbringen«, sagte Kron.
»Gehören wir nicht noch derselben Kette an?« fragte ich.
Kron schwieg. Dann sahen mich seine stahlblauen Augen an, und er sagte: »Wir gehören immer derselben Kette an.« »Dann laß mich sprechen«, sagte ich. Kron nickte kurz.
Mehrere andere Männer drängten sich nun um unseren Tisch. »Ihr seid Männer aus Tarna«, sagte ich. »Aber die Männer, die ihr bekämpft, sind ebenfalls aus dieser Stadt.«
Einer der Männer sagte: »Ich habe einen Bruder bei den Gardisten.« »Ist es recht, daß die Männer Tharnas gegeneinander die Waffen erheben, Männer innerhalb derselben Mauern?«
»Es ist traurig«, sagte Kron, »aber nicht zu umgehen.« »Es brauchte nicht so zu sein«, wandte ich ein. »Die Soldaten und Wächter Tharnas haben einen Schwur gegenüber der Tatrix geleistet, aber die Tatrix, die sie verteidigen, ist eine Verräterin. Die wahre Tatrix von Tharna, Lara persönlich, befindet sich in diesem Raum.«
Kron beobachtete das Mädchen, das von der Diskussion noch nichts mitbekommen hatte. Auf der anderen Seite des Raumes schüttete sie Kal-da in hochgereckte Trinkschalen.
»Solange sie lebt«, sagte Kron, »ist die Revolution nicht gewonnenen.« »Das ist nicht wahr«, sagte ich. »Sie muß sterben«, sagte Kron. »Nein«, sagte ich. »Auch sie hat die Kette und die Peitsche zu spüren bekommen.« Erstaunte Ausrufe wurden laut.
»Die Soldaten Tharnas werden die falsche Herrscherin verlassen, um der wahren Tatrix zu dienen«, fuhr ich fort.
»Wenn sie es überlebt«, sagte Kron und musterte das unschuldige Mädchen auf der anderen Seite des Raumes.
»Sie muß«, sagte ich nachdrücklich. »Sie wird neues Licht nach Tharna tragen. Sie allein kann die Rebellen und die Soldaten vereinigen. Sie hat nun selbst erfahren müssen, wie grausam das alte Tharna war. Schaut sie doch an!«
Und die Männer beobachteten das Mädchen, das mit ruhigen Bewegungen Kal-da ausschenkte, das freiwillig die Arbeit der anderen Frauen Tharnas teilte. Das war kein Verhalten, wie man es von einer Tatrix gewohnt war.
»Sie ist des Thrones würdig«, sagte ich.
»Sie ist ein Symbol für das, was wir bekämpft haben«, sagte Kron. »Nein«, sagte ich, »ihr habt gegen die grausamen Traditionen Tharnas gekämpft. Ihr habt um euren Stolz und eure Freiheit gerungen, euer Feldzug ging nicht gegen dieses Mädchen.«
»Wir haben gegen die goldene Maske Tharnas gekämpft!« brüllte Kron und schlug mit der Faust auf den Tisch.
Der plötzliche Lärm erregte die Aufmerksamkeit aller, und zahlreiche Augen richteten sich auf uns. Lara setzte den Kal-da-Krug ab und kam herüber.
»Ich trage die goldene Maske nicht mehr«, sagte sie zu Kron. Und Kron blickte das schöne Mädchen an, das da würdevoll vor ihm stand, ohne Stolz oder Grausamkeit oder Angst erkennen zu lassen. »Meine Tatrix«, flüsterte er.
Wir marschierten durch die Stadt; die Straßen hinter uns waren mit dem grauen Strom der Rebellen angefüllt. Jeder trug seine eigene Waffe. Doch der Lärm, der zwischen den Hausern widerhallte, war alles andere als grau und düster. Die Melodie des Pflugliedes tönte auf, langsam und unwiderstehlich, eine einfache melodische Hymne auf den Erdboden, zur Feier des ersten Pflügens im neuen Jahr.
An der Spitze der gewaltigen Prozession marschierten fünf Gestalten: Kron, Anführer der Rebellen, Andreas, ein Dichter, seine Frau Linna aus Tharna, ich, Krieger aus einer verwüsteten und verfluchten Stadt, und ein Mädchen mit goldenem Haar, ein Mädchen ohne Maske, das die Peitsche und die Liebe kennengelernt hatte, die furchtlose Lara, die wahre Tatrix von Tharna.
Es mußte den Verteidigern des Palastes, der die Hauptbastion des gefährdeten Regimes war, inzwischen klargeworden sein, daß die Entscheidung noch an diesem Tage fallen würde — durch das Schwert. Die Gerüchte waren uns wie auf Tarnflügeln vorausgeeilt daß die Rebellen ihre versteckte Taktik aufgaben und nun endlich vor den Palast marschierten.
Wieder sah ich vor uns die breite, gewundene, schmaler werdende Straße, die zum Palast der Tatrix führte. Singend begannen die Rebellen dem steilen Weg zu folgen. Die schwarzen Pflastersteine waren durch die dünnen Ledersohlen unserer Sandalen deutlich zu spüren.
Und wieder sah ich die Wände links und rechts der Straße ansteigen, doch diesmal erblickten wir ein gutes Stuck vor der schmalen Eisentür eine doppelte Barrikade quer über der Straße, wobei der zweite Sperrwall den ersten überragte. Die Kämpfer, die den ersten Wall einzureißen versuchten, konnten also von weiter hinten mit Pfeilen überschüttet werden. Die beiden Walle waren etwa fünfzig Meter voneinander entfernt; der erste mochte vier Meter hoch sein, der zweite sechs Meter.
Hinter den Sperren sah ich Waffen aufblitzen, außerdem waren die Bewegungen blauer Helme auszumachen.
Wir waren auf Armbrustschußweite heran.
Ich gab den anderen ein Zeichen zurückzubleiben, und mit Schild, Speer und Schwert bewaffnet, näherte ich mich der ersten Barrikade. Auf dem Palastdach hinter dem Doppelwall machte ich von Zeit zu Zeit die Köpfe von Tarns aus und hörte ihre Schreie. Doch diese Tiere waren gegen die Rebellen in der Stadt kaum einzusetzen. Viele Revolutionäre hatten sich große Bogen zurechtgemacht, andere waren mit den Speeren und Armbrüsten gefallener Soldaten bewaffnet. Es war für einen Tarnkämpfer nicht ungefährlich, sich auf Kampfweite an die Rebellenhaufen heranzuwagen.
Und hätten die Krieger den Versuch gemacht, vom Tarnrücken die Straßen zu beschießen, wären die Revolutionäre in Deckung gegangen, bis der Schatten des Vogels verschwunden war und sie weitere hundert Meter an den Palast heranrücken konnten.
Etwa hundert Schritt vor dem Wall legte ich Schild und Speer zu meinen Füßen nieder und gab damit das Zeichen für einen vorübergehenden Waffenstillstand.
Eine große Gestalt erschien daraufhin auf der Barrikade und machte es mir nach.
Obwohl er den blauen tharnaischen Helm trug, erkannte ich Thorn sofort. Ich setzte mich wieder in Bewegung.
Der Weg kam mir sehr lang vor.
Schritt um Schritt legte ich auf der schwarzen Straße zurück und fragte mich, ob der Waffenstillstand eingehalten wurde. Wenn Dorna die Stolze auf dem Wall kommandiert hätte und nicht Thorn, der immerhin Offizier und Mitglied meiner eigenen Kaste war, hätte man zweifellos aus dem Hinterhalt auf mich geschossen.
Als ich schließlich unverletzt vor der ersten Sperre stand, wußte ich, daß Dorna die Stolze zwar in Tharna herrschte, daß sie auf dem goldenen Thron saß, daß auf dieser Barrikade jedoch das Wort eines Kriegers mehr galt als ihre Befehle.
»Tal, Krieger«, sagte Thorn und nahm seinen Helm ab.
»Tal, Krieger«, sagte ich.
Thorns Augen waren klarer, als ich sie in Erinnerung hatte, und der massige Körper, der schon ein wenig zur Korpulenz neigte, war bei den harten Kämpfen der vergangenen Wochen schlanker und gestählter geworden. Die purpurnen Flecken, die sein gelbliches Gesicht entstellten, traten weniger deutlich hervor. Noch immer trug er einen kleinen schmalen Bartstreifen links und rechts des Kinns, und sein langes Haar war zu einem mongolischen Knoten zusammengedreht. Seine schrägen Augen musterten mich.
»Ich hätte dich auf der Verhandlungssäule umbringen sollen«, sagte Thorn.
Ich sprach laut, damit ich auch von allen Männern auf dem Doppelwall verstanden wurde.
»Ich komme im Namen Laras, die die wahre Tatrix von Tharna ist. Steckt eure Waffen ein. Nicht langer soll das Blut von Männern eurer eigenen Stadt vergossen werden. Ich bitte euch im Namen Laras und im Namen der Stadt Tharna und ihrer Einwohnerschaft. Und ich äußere meine Bitte auch im Rahmen der Regeln unserer Kaste, denn euer Schwert ist der wahren Tatrix verpflichtet — Lara — und nicht Dorna der Stolzen!« Ich spürte die Reaktion der Palastwache.
Auch Thorn sprach mit lauter Stimme, damit seine Männer ihn hörten. »Lara ist tot! Dorna ist Tatrix von Tharna!«
»Ich lebe!« rief eine Stimme hinter mir. Ich wandte mich um und stellte zu meinem Mißvergnügen fest, daß Lara mir gefolgt war. Wenn sie hier getötet wurde, hatten die Rebellen keine Chance mehr, und es konnte sein, daß die Stadt dann auf lange Zeit in Unfrieden leben mußte. Thorn musterte das Mädchen, und ich bewunderte seine Selbstbeherrschung. Er mußte aus allen Wolken gefallen sein, denn er hatte unmöglich erwarten können, daß die Rebellen ihm tatsächlich die wahre Tatrix präsentieren würden.
»Das ist nicht Lara«, sagte er mit eisiger Stimme.
»Ich bin es!« rief sie.
»Die Tatrix von Tharna«, sagte Thorn höhnisch und starrte dem Mädchen ins Gesicht, »hat eine goldene Maske getragen!«
»Die Tatrix von Tharna«, erwiderte Lara, »will die goldene Maske nicht länger tragen.«
»Woher hast du dieses Lagerweib, diese Betrügerin?« fragte Thorn. »Ich erwarb sie von einem Sklavenhändler, sagte ich lachend. Auch Thorn lachte, und seine Männer hinter der Barrikade fielen in das Gelächter ein.
»Von dem Sklavenhändler, dem du sie verkauft hattest«, fügte ich hinzu. Nun lachte Thorn nicht mehr.
Ich rief den Männern hinter der Barrikade zu: »Ich brachte dieses Mädchen — eure Tatrix — zur Verhandlungssäule, wo ich sie diesem Offizier Thorn und Dorna der Stolzen übergab. Dann wurde ich entgegen der Abmachung überwältigt und in die Bergwerke Tharnas geschickt, und Dorna die Stolze und Thorn nahmen Lara, eure Tatrix, gefangen und verkauften sie in die Gefangenschaft — verkauften sie an den Sklavenhändler Targo, der sein Lager zur Zeit am En’Kara-Markt aufgeschlagen hat, verkauften sie für die Summe von fünfzig silbernen Tarnmünzen.«
»Das stimmt nicht!« rief Thorn.
Ich hörte eine Stimme hinter dem Wall, eine junge Stimme: »Dorna die Stolze trägt ein Halsband aus fünfzig silbernen Tarnmünzen!« »Dorna die Stolze ist wirklich kühn!« rief ich. »Daß sie die Münzen zur Schau tragt, durch die ihrer Rivalin — eurer wahren Tatrix — ein Sklavendasein auferlegt wurde!«
Erregtes Stimmengemurmel wurde laut, Rufe hinter der Barrikade. »Er lügt«, sagte Thorn.
»Ihr habt gehört«, rief ich, »wie er zu mir sagte, er hätte mich auf der Verhandlungssäule töten sollen! Ihr wißt, daß ich der Mann bin, der eure Tatrix von den Schauspielen dieser Stadt entführte. Aus welchem anderen Grund hatte ich zur Verhandlungssäule fliegen sollen, als den Abgesandten Tharnas meine Gefangene zu übergeben?«
Eine Stimme hinter der Barrikade rief: »Warum hast du nur so wenige Männer zur Verhandlungssäule mitgenommen, Thorn von Tharna?« Ärgerlich wandte sich Thorn um.
Ich antwortete für ihn: »Ist das nicht offensichtlich? Er wollte, daß sein Plan nur wenigen bekannt wird — sein Plan, die Tatrix zu entführen und Dorna die Stolze auf ihren Thron zu setzen.«
Ein zweiter Mann erschien auf dem Wall. Er setzte seinen Helm ab. Ich erkannte in ihm den jungen Mann, dessen Wunden Lara und ich auf der Mauer versorgt hatten.
»Ich glaube diesem Krieger!« rief er und deutete auf mich.
»Das ist ein Trick, damit wir uns zerstreiten!« rief Thorn. »Auf deinen Posten!«
Andere Krieger in den blauen Helmen und grauen Tuniken Tharnas waren nun auf die Walle gestiegen, um die Szene besser zu verfolgen.
»Auf eure Posten!« brüllte Thorn.
»Ihr seid Krieger!« rief ich. »Eure Schwerter sind eurer Stadt verpflichtet, ihren Mauern, ihren Einwohnern — und der Tatrix!
Dient ihr!«
»Ich will der wahren Tatrix von Tharna dienen!« rief der junge Krieger. Er sprang von der Barrikade und legte Lara sein Schwert zu Füßen. »Nimm dein Schwert«, sagte sie »im Namen Laras, der wirklichen Tatrix von Tharna.«
»Ich tu’s«, entgegnete er.
Er ging vor dem Mädchen auf ein Knie nieder und griff nach der Waffe. »Ich nehme mein Schwert«, sagte er, »im Namen Laras, die die wahre Tatrix von Tharna ist.«
Er stand auf und grüßte das Mädchen mit der Waffe. »Wer ist die wahre Tatrix von Tharna?« rief er, »Das ist nicht Lara!« schrie Thorn und deutete auf das Mädchen. »Wie kannst du dessen so sicher sein?« fragte einer der Krieger auf dem Wall.
Thorn schwieg, denn wie konnte er zu wissen vorgeben, daß das Mädchen nicht Lara war, wenn er das Gesicht der wahren Tatrix angeblich niemals gesehen hatte?
»Ich bin Lara!« rief das Mädchen. »Sind unter euch keine Männer, die im Saal der goldenen Maske gedient haben? Erkennt niemand meine Stimme?«
»Sie ist es!« rief einer der Krieger. »Ganz sicher!« Er nahm seinen Helm ab.
»Du bist Stam«, sagte sie, »erster Gardist des Nordtors, und du kannst deinen Speer weiter schleudern als jeder andere Mann in Tharna. Du hast im zweiten Jahr meiner Herrschaft die Militärkämpfe der En’Kara gewonnen.«
Ein zweiter Krieger setzte seinen Helm ab.
»Du bist Tau«, sagte sie, »ein Tarnkämpfer, der im Jahre vor meiner Thronbesteigung im Krieg mit Thentis verwundet wurde.«
Und ein dritter Mann hob den blauen Helm vom Kopf.
»Dich kenne ich nicht«, sagte sie.
Die Männer auf der Mauer murmelten.
»Das kannst du auch nicht«, sagte der Mann, »denn ich bin ein Söldner aus Ar, der erst nach Beginn der Revolte hier eingetroffen ist.« »Sie ist Lara!« rief ein anderer Mann. Er sprang von der Mauer und legte sein Schwert zu Laras Füßen nieder.
Wieder bat sie, daß die Waffe in ihrem Namen aufgenommen werde, und so geschah es.
Einer der Blocke der Barrikade polterte zu Boden. Die Krieger begannen den Wall einzureißen.
Thorn war verschwunden.
Auf mein Handzeichen kamen die Rebellen langsam näher; Sie hatten die Waffen gesenkt und marschierten nun singend auf die Palasttür zu. Die Soldaten strömten über die Walle und hießen sie freudig willkommen. Die Männer Tharnas umarmten sich, schüttelten sich die Hände. Rebellen und Verteidiger vereinigten sich mitten auf der Straße, und Szenen der Freude beherrschten das Bild, wo sich noch eben Todfeinde gegenübergestanden hatten.
Den Arm um Lara gelegt, schritt ich durch die Barrikaden, gefolgt von dem jungen Krieger, anderen tharnaischen Soldaten und Kron, Andreas, Linna und zahlreichen Rebellen.
Andreas hatte den Schild und den Speer mitgebracht, die ich zum Zeichen des Waffenstillstandes niedergelegt hatte, und ich nahm die Waffen wieder an mich. Wir näherten uns der kleinen Eisentür, die den Zugang zum Palast freigab.
Ich verlangte nach einer Fackel.
Die Tür war nicht verriegelt, und ich öffnete sie mit einem Fußtritt, wobei ich schützend meinen Schild anhob.
Doch drinnen herrschten nur Stille und Dunkelheit.
Der Rebell, der in unserer Kettengemeinschaft der erste gewesen war, drückte mir eine Fackel in die Hand.
Ich hielt sie in die Türöffnung.
Der Fußboden schien fest zu sein, doch ich kannte die Gefahren, die darunter lauerten.
Ein langes Brett von den Barrikaden wurde gebracht, das wir vorsichtig von der Türschwelle aus über den Fußboden legten Mit hochgehobener Fackel trat ich ein, setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, wobei ich darauf achtete, mein Gewicht nicht von der Planke zu nehmen. Diesmal öffnete sich die Falltür nicht, und ich befand mich in einem schmalen, dunklen Korridor, der vom Palasteingang fortführte.
»Wartet hier!« befahl ich den anderen.
Ich ging auf ihre Proteste nicht ein, sondern setzte wortlos meinen Marsch durch das dunkle Labyrinth der Palastkorridore fort. Meine Erinnerung und mein Richtungssinn führten mich unfehlbar von Saal zu Saal, brachten mich schnell in die Nähe des Saales der goldenen Maske.
Niemand trat mir in den Weg.
Die Stille kam mir unheimlich vor, und nach dem grellen Sonnenlicht erschien mir die Dunkelheit bedrückend. Ich hörte nur den leisen Laut meiner Sandalen, die über die Fliesen der Korridore scharrten. Vielleicht war der Palast verlassen!
Endlich erreichte ich den Saal der goldenen Maske.
Ich lehnte mich gegen die schwere Tür und drückte sie auf.
Der Saal war beleuchtet. Die Fackeln an den Wanden brannten. Hinter dem goldenen Thron der Tatrix ragte die goldene Maske auf, schimmerte das Gesicht der nüchternen Schönheit, und die Glanzlichter der Fackeln stachen grell hervor.
Auf dem Thron saß eine Frau, die die goldenen Roben und die Maske der Tatrix von Tharna trug. Um ihren Hals hing ein Band aus silbernen Tarnmünzen. Auf den Stufen vor dem Thron stand ein Krieger in voller Bewaffnung, der in der Hand den blauen Helm seiner Stadt hielt. Langsam setzte Thorn den Helm auf und lockerte das Schwert in seiner Scheide. Er löste den Schild von seiner Schulter und senkte den langen, breiten Speer in meine Richtung.
»Ich habe auf dich gewartet«, sagte er.