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Ich hatte ein gutes Stuck auf dem Wege nach Ko-ro-ba zurückgelegt, als ich zu meiner Freude auf eine der schmalen Straßen stieß, die zur Stadt führten. Ich erkannte sie wieder, doch selbst wenn ich sie nicht gekannt hatte, waren die Stadtzeichen auf den Pasangsteinen am Straßenrand nicht zu übersehen gewesen. Dort konnte ich ablesen, wie viele Pasang es bis zur Stadtmauer noch waren. Ein Pasang entsprach etwa einem Kilometer irdischer Messung.

Die Straße war — wie fast überall auf Gor — wie eine Mauer in die Erde gebaut — etwas, das viele hundert Generationen halten sollte. Die Goreaner, die wenig Sinn für Fortschritt haben, achten sehr auf saubere handwerkliche Arbeit. Was immer sie bauen — es soll benutzt werden, bis die Stürme der Zeit es zu Staub gerieben haben. Und doch war diese Straße nur ein unbedeutender Nebenpfad, auf dem sich zwei Wagen nicht passieren konnten.

Zu meiner Überraschung stellte ich fest, daß zwischen den Pflastersteinen frische Grasbüschel wuchsen — dabei waren wir ganz nahe an der Stadt! Hier und dort machte sich sogar eine Rebe breit und streckte ihre Fühler quer über die Straße aus.

Es war später Nachmittag, und nach den Pasangsteinen hatte ich noch einige Stunden zu gehen. Obwohl es noch immer hell war, hatten sich bereits viele der bunten Vogel in ihre Nester zurückgezogen. Hier und dort begannen sich Schwärme von Nachtinsekten zu rühren. Die Schatten der Pasangsteine waren länger geworden, und da sie so gesetzt waren, daß sie auch als Sonnenuhren dienten, konnte ich ablesen, daß die vierzehnte goreanische Ahn, oder Stunde, bereits verstrichen war. Der goreanische Tag ist in zwanzig Ahn unterteilt. Die zehnte Ahn ist die Mittagsstunde, die zwanzigste ist Mitternacht. Jeder Ahn besteht aus vierzig Ehn, oder Minuten, und jede Ehn aus achtzig Ihn, oder Sekunden.

Ich fragte mich, ob es Sinn hatte, meine Reise fortzusetzen. Die Sonne mußte bald untergehen, und die goreanische Nacht ist nicht ohne Gefahren, besonders für einen Mann zu Fuß.

In der Dunkelheit begibt sich der Sleen auf die Jagd, ein sechsbeiniges, gewaltiges Raubtier, halb Schlange, halb Saugetier. Von diesen Ungeheuern hatte ich noch keines zu Gesicht bekommen, doch vor mehreren Jahren waren mir einmal Sleenspuren gezeigt worden. Auch ließ sich im Schein der drei goreanischen Monde manchmal der Schatten des Urt ausmachen, einer gigantischen Flugeidechse, die sich auf ihren Raubzügen weit von ihren Heimatsümpfen im Voskdelta entfernte.

Am unwohlsten war mir vielleicht bei dem Gedanken an die Vart-Rudel — blinde, fledermausähnliche Schwärme fliegender Nagetiere, die einen Körper in wenigen Minuten total abnagen konnten, wobei jedes Wesen einen kleinen Fleischstreifen in die dunkle Heimathöhle zurückschaffte. Eine weitere Gefahr lag auf der Straße — und in der Tatsache, daß ich kein Licht hatte. Nach Anbruch der Dunkelheit krochen die verschiedensten Schlangen auf die Straße, deren Steine die Tageshitze der Sonne lange zurückstrahlen. Zu diesen Schlangen gehörte die riesige goreanische Python, die Hith. Noch gefährlicher war vielleicht die winzige Ost, ein bösartiges, hellorangenes kleines Reptil, kaum dreißig Zentimeter lang, deren Biß innerhalb weniger Sekunden tödlich war. Trotz meiner Begierde, nach Ko-ro-ba zurückzukehren, beschloß ich, die Straße zu verlassen, mich in meinen Mantel zu hüllen und die Nacht im Schutze einiger Felsen zu verbringen oder vielleicht zwischen einige Dornenbüsche zu kriechen, wo ich einigermaßen sicher schlafen konnte. Als ich darüber nachzudenken begann, meine Reise nicht fortzusetzen, wurde mir plötzlich bewußt, daß ich hungrig und durstig war. Das Lederbündel mit den Waffen hatte keine Rationen und auch kein Wasser enthalten.

Ich hatte die Steine der Straße kaum verlassen, als ich eine breite, gebeugte Gestalt bemerkte, die mit vorsichtigen, gemessenen Schritten näher kam. Auf dem Rücken schleppte der Mann ein riesiges Holzbündel, durch zwei Schnüre auf seinem Rücken festgehalten, die er vor sich mit den Fäusten umklammerte. Seine Gestalt und seine Last wiesen ihn als Mitglied der Kaste der Holzträger oder Holzfäller aus, eine goreanische Kaste, die zusammen mit der Kaste der Kohlenmacher einen Großteil des Brennstoffs für die goreanischen Städte liefert. Das Gewicht, das dieser Mann auf seinem Rücken mit sich herumschleppte, war unvorstellbar und hätte manchem anderen zu schaffen gemacht. Das Bündel ragte fast eine Manneslänge über seinem gebeugten Rücken auf und hatte eine Breite von einem Meter und mehr. Ich wußte, daß der Zusammenhalt der Last teilweise von dem geschickten Einsatz von Seilen und Rückenmuskeln abhing, doch ganz eindeutig war auch schiere Kraft beteiligt, und dieser Mann war wie seine Kastenbrüder durch Generationen für seine Aufgabe geformt worden. Der Mann kam näher. Seine Augen waren fast völlig von einem struppigen weißen Haarbüschel verdeckt, das mit Blättern und Rindenstückchen durchsetzt war. Die Koteletten hatte er sich vermutlich mit seiner breiten, doppelt geschliffenen Holzfälleraxt abrasiert, die oben auf dem Bündel befestigt war. Er trug die kurze, durchlöcherte ärmellose Robe seiner Kaste mit den ledernen Rücken- und Schulterstücken. Seine Füße waren nackt und bis zu den Knöcheln schwarz.

Ich trat vor ihn auf die Straße.

»Tal«, sagte ich, hob meinen rechten Arm, mit der Handfläche nach innen — der übliche goreanische Gruß.

Die zerzauste Gestalt, breit, kräftig, monströs verformt in der Ausübung ihres Berufes, stand vor mir, die Beine fest in die Straße gestemmt. Der Kopf kam hoch. Die breiten, schmalen Augen, hell wie Wasser, musterten mich durch das herabhängende Haar.

Trotz der langsamen Reaktion, trotz der abgewogenen und vorsichtigen Bewegungen hatte ich das Gefühl, daß er überrascht war.

Er hatte offensichtlich nicht erwartet, auf dieser Straße jemanden anzutreffen. Das verwirrte mich.

»Tal«, sagte er mit schwerer Zunge.

Ich spürte, daß er überlegte, wie schnell er an seine Axt herankam, die oben auf seiner Last lag.

»Ich habe keine bösen Absichten«, sagte ich.

»Was willst du?« fragte der Holzträger, der inzwischen bemerkt haben mußte, daß mein Schild keine Insignien trug, und der mich jetzt sicher für einen Geächteten hielt.

»Ich bin kein Geächteter«, sagte ich.

Das glaubte er mir offensichtlich nicht.

»Ich habe Hunger«, fuhr ich fort. »Ich habe seit vielen Stunden nichts mehr gegessen.«

»Ich bin auch hungrig«, erwiderte er, »und habe viele Stunden nichts mehr gehabt.«

»Ist deine Hütte in der Nähe?« fragte ich. Ich wußte, daß das der Fall war, denn es war schon spät am Tage. Die Sonne regelte die meisten goreanischen Tagesabläufe, und der Holzfäller war sicher auf dem Heimweg.

»Nein«, sagte er.

»Ich habe keine bösen Absichten gegenüber dir und deinem Heimstein«, sagte ich. »Ich habe kein Geld und kann dich nicht bezahlen, aber ich habe Hunger.«

»Ein Krieger nimmt sich, was er braucht«, sagte der Mann.

»Ich mochte dir nichts fortnehmen«, sagte ich.

Er sah mich an, und ich glaubte den Anflug eines Lächelns auf seinem ledrigen Gesicht wahrzunehmen.

»Ich habe keine Tochter«, sagte er. »Ich habe kein Silber und keine sonstigen Güter.«

»Dann wünsche ich dir Erfolg und Reichtum«, erwiderte ich lachend. »Ich marschiere also weiter.«

Ich ging an ihm vorbei und wollte meinen Weg fortsetzen.

Ich hatte kaum einige Schritte zurückgelegt, als sein Ruf mich stoppte. Ich vermochte ihn kaum zu verstehen, denn die einsamen Menschen der Holzfällerkaste sprechen selten.

»Ich habe Erbsen und Rüben, Knoblauch und Zwiebeln in meiner Hütte«, sagte der Mann mit dem Holzbündel, das wie ein Riesenbuckel wirkte.

»Die Priesterkönige selbst«, sagte ich, »könnten nicht mehr verlangen.« »Dann teile mit mir das Brot, Krieger«, sagte der Mann.

»Ich bin geehrt«, sagte ich — und das stimmte.

Wenngleich ich einer hohen Kaste angehörte und er nicht, war er doch in seiner eigenen Hütte nach den goreanischen Gesetzen der Alleinherrscher, denn dort befand er sich im Bereich seines Heimsteins. Ja, selbst ein feiger Mann, der in der Gegenwart höhergestellter Persönlichkeiten nicht den Blick zu heben wagt, mag über seinem Heimstein zum Löwen werden, stolz, herablassend, großzügig oder abweisend — ein wahrer König, und sei es nur in seiner eigenen kleinen Hütte.

Tatsächlich gab es eine Reihe von Geschichten, in denen selbst Krieger von wütenden Bauern überwältigt wurden, in deren Heim sie eingedrungen waren — denn in der Nahe ihrer Heimsteine kämpfen die Menschen unter Aufbietung ihres ganzen Mutes, kämpfen wie der berüchtigte Berg-Larl. Es gibt so manches goreanische Kornfeld, das mit dem Blut unvorsichtiger Krieger getränkt wurde.

Der breite Holzträger grinste von einem Ohr zum anderen. Heute abend hatte er einen Gast. Er selbst würde nur wenig sagen, denn er war ungeübt im Sprechen, und er war zu stolz, Sätze zu bilden, die wahrscheinlich nur stockend und grammatisch falsch herauskamen, aber er würde bis zum Morgengrauen an seinem Feuer sitzen und mich nicht schlafen lassen, würde Geschichten von mir hören wollen, Berichte über meine Abenteuer, Schilderungen weit entfernter Orte. Was ich sagte, war dabei weniger wichtig als die Tatsache, daß überhaupt etwas gesagt wurde, daß er wieder einmal einen Abend nicht allein gewesen war. »Ich heiße Zosk«, sagte er.

Ich fragte mich, ob dies sein gebräuchlicher Name sei, oder sein wirklicher Name. Die Mitglieder niederer Kasten nennen sich oft bei einem Gebrauchsnamen und heben sich den wirklichen Namen für Familienmitglieder und gute Freunde auf, um ihn gegen den Einfluß von Zauberern und anderen bösen Machten zu schützen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, daß Zosk sein wirklicher Name war.

»Zosk aus welcher Stadt?« fragte ich.

Die gedrungene, breite Gestalt schien zu erstarren. Die Muskeln seiner Beine strafften sich, wölbten sich auswärts. Die Bande, die sekundenlang zwischen uns bestanden hatten, schienen urplötzlich durchtrennt, von einem kalten Windhauch verweht.

»Zosk . . .«, sagte er.

»Aus welcher Stadt?« fragte ich.

»Aus keiner Stadt«, erwiderte er.

»Gewiß bist du doch aus Ko-ro-ba.«

Der entstellte Riese wich wie von einem Peitschenschlag getroffen zurück und begann zu zittern. Ich spürte, daß dieser einfache, unverdorbene Mensch plötzlich Angst hatte. Ich hatte das Gefühl, daß er sich mutig mit seiner Axt gegen einen Larl gestellt hätte, ohne einen Gedanken an die Gefahr zu verschwenden, doch hier hatte er Angst. Die breiten Fäuste, die die. Seile des Holzbündels hielten, verkrampften sich und wurden weiß; die Holzstäbe knirschten aneinander.

»Ich bin Tarl Cabot«, sagte ich, »Tarl aus Ko-ro-ba.«

Zosk stieß einen unverständlichen Schrei aus und begann rückwärts zu stolpern. Seine Hände fummelten an den Seilen herum, und das große Holzbündel verlor seinen Zusammenhalt und polterte mit lautem Getöse auf das Steinpflaster der Straße. Der Mann wandte sich zur Flucht, doch er rutschte auf einem der Aste aus und stürzte. Er fiel fast in die Axt, die mitten auf der Straße lag. Impulsiv griff er danach, wie nach einer rettenden Holzplanke in tödlichem Wasserstrudel.

Die Axt schien ihn zur Besinnung zu bringen, und er hockte auf der Straße, im Halbdämmer, wenige Fuß von mir entfernt, wie ein Gorilla mit einer breiten Axt; er atmete tief ein, saugte die Luft in seine Lungen und versuchte seine Angst zu meistern.

Seine Augen musterten mich durch das grauweiße, verfilzte Haar. Ich begriff seine Furcht nicht, doch es freute mich, daß er sie überwand, denn die Angst ist der gemeinsame Feind aller Lebewesen, und seinen Sieg hielt ich irgendwie auch für den meinen. Ich erinnerte mich an einen Zwischenfall in den Bergen von New Hampshire, wo ich mich einmal schamlos meiner Angst hingegeben hatte und davongestürmt war — ein Sklave des allzumenschlichen.

Zosk richtete sich auf, soweit das sein verkrümmtes Rückgrat erlaubte. Seine Angst war verflogen.

Er sprach langsam. Es bereitete ihm Schwierigkeiten, doch er hatte sich wieder in der Gewalt.

»Sag, daß du nicht Tarl aus Ko-ro-ba bist«, verlangte er.

»Aber ich bin es«, erwiderte ich.

»Ich erbitte deinen Gefallen«, sagte Zosk, in dessen Stimme nun ein seltsames Gefühl schwang. »Sag mir, daß du nicht Tarl aus Ko-ro-ba bist.«

»Ich bin Tarl aus Ko-ro-ba«, wiederholte ich entschlossen.

Zosk hob seine Axt.

Sie wirkte winzig in seiner massigen Hand. Ich spürte, daß er damit einen Baum auf einen Schlag fällen konnte. Schritt um Schritt kam er näher, die Axt mit beiden Händen über die Schulter gehoben. Endlich blieb er vor mir stehen. Ich glaubte Tränen in seinen Augen wahrzunehmen. Doch ich machte keine Anstalten, mich zu verteidigen. Irgendwie wußte ich, daß Zosk nicht zuschlagen würde. Er kämpfte mit sich, sein einfaches Gesicht war qualvoll verzerrt, in seinen Augen stand die Unentschlossenheit.

»Mögen die Priesterkönige mir vergeben!« schrie er.

Er warf die Axt zu Boden, die klirrend über die Pflaster der Straße schlitterte. Zosk sank in die Knie und setzte sich mit gekreuzten Beinen. Sein gewaltiger Körper wurde von heftigem Schluchzen erschüttert, den massigen Kopf barg er in den Händen, und mit schwerer, gutturaler Stimme stieß er ein verzweifeltes Stöhnen aus.

In solchen Augenblicken muß man einen Mann allein lassen, denn nach goreanischer Auffassung erniedrigt Mitleid sowohl den, der das Mitleid empfindet, als auch den, auf den es sich bezieht. Nach goreanischem Brauchtum darf man Liebe empfinden, aber kein Mitleid.

Ich ging also weiter.

Mein Hunger war vergessen. An die Gefahren der Straße dachte ich nicht mehr.

Ich würde im Morgengrauen Ko-ro-ba erreichen.

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