In der Hand hielt ich ein Schwert, das ich einem der Bergwerkswächter abgenommen hatte. Es war meine einzige Waffe. Ehe ich meine lange Reise antrat, erschien es mir ratsam, meine Bewaffnung zu vervollständigen. Die Soldaten, die oben am Schacht gegen die Sklaven gekämpft hatten, waren tot oder geflohen. Und die Toten waren aller Kleidung und Waffen beraubt — Ausrüstungsgegenstände, die die zerlumpten, unbewaffneten Sklaven dringend benötigten.
Ich wußte, daß ich nicht sehr viel Zeit hatte, denn die rächenden Tarnkämpfer Tharnas mußten bald vor den drei Monden erscheinen. Ich untersuchte die niedrigen Holzgebäude, die rings um den Zentralschacht standen. Fast alle waren aufgebrochen und ihr Inhalt mitgenommen oder herausgeworfen. In den, Waffenkammern war keine Klinge, kein Speer mehr zu sehen, und die Vorratsräume waren bis auf den letzten Krümel geleert.
Im Büro des Bergwerksverwalters, des Mannes, der einmal ein ganzes Bergwerk hatte überfluten. lassen, fand ich einen nackten Leichnam. Doch ich hatte den Mann schon einmal gesehen, als ich von dem Soldaten in seine Obhut gegeben wurde. Er war der Bergwerksverwalter persönlich. Der korpulente, grausame Mann war nun bis zur Unkenntlichkeit entstellt.
An der Wand hing eine leere Schwertscheide. Ich hoffte, daß der Mann noch Zeit gehabt hatte, nach seiner Waffe zu greifen, ehe ihn die Sklaven anfielen, denn obwohl mir der Haß auf ihn nicht schwerfiel, wollte ich ihm doch nicht wünschen, unbewaffnet gestorben zu sein In dem Getümmel, bei dem schwachen Schimmer der Tharlarionlampen hatten die Sklaven die Schwertscheide wahrscheinlich übersehen oder nicht gewollt. Das Schwert war natürlich verschwunden. Ich nahm die Scheide von der Wand und beschloß, sie mitzunehmen.
Im ersten Schein der Morgendämmerung, der durch das staubige Fenster hereindrang, stellte ich fest, daß die Scheide mit sechs Edelsteinen besetzt war. Smaragde. Vielleicht nicht sonderlich kostbar, aber auf jeden Fall des Mitnehmens wert.
Ich steckte meine Waffe in die leere Scheide, warf mir den Schwertgürtel um und schloß ihn nach goreanischer Sitte über meiner linken Schulter. Als ich die Hütte verlassen hatte, suchte ich den Himmel ab. Noch waren keine Tarnkämpfer in Sicht. Die drei Monde waren blaß geworden und standen wie weiße Scheiben am heller werdenden Himmel; die Sonne hatte sich schon halb hinter dem Horizont erhoben.
In dem düsteren Licht breitete sich vor mir eine Szene des Schreckens aus. Das häßliche Bergwerksgelände, die einsamen Holzhütten, der braune Boden und die nackten Felsen waren verlassen. Nur die Toten bevölkerten die Siedlung. Zwischen den Überresten der Plünderung — Papiere, aufgerissene Kartons, zerbrochene Möbelstücke und Draht — lagen in steifer, verdrehter Stellung die Toten, zermalmte, nackte Körper. Staubwölkchen wirbelten vorbei wie Tiere, die die Füße der Toten beschnüffelten. An einem der Schuppen schwang eine Tür im Winde, knallte in regelmäßigen Abstanden gegen die Wand.
Ich ging quer durch das Gelände und nahm einen Helm an mich, der halb vergraben unter verschiedenen Papieren lag. Sein Halsband war gerissen, doch die Enden ließen sich noch zusammenbinden. Die Sklaven hatten den Helm vermutlich übersehen.
Ich hatte mich ausrüsten wollen, doch ich hatte nur eine Schwertscheide und einen beschädigten Helm gefunden, und bald mußten die Tarnkämpfer Tharnas eintreffen. Im Kriegerschritt — eine Art Trott, der sich stundenlang durchhalten läßt — verließ ich das Bergwerksgelände. Ich hatte den Schutz einiger Bäume erreicht, als ich einige Tausend Meter hinter mir die Tarnkämpfer Tharnas heranfliegen sah. Wie ein Wespenschwarm fielen sie über dem Zentralschacht ein und setzten zur Landung an.
Es geschah drei Tage später, daß ich in der Nahe der tharnaischen Verhandlungssäule meinen Tarn wiederfand. Ich hatte seinen Schatten gesehen, besorgt, daß er wild geworden sein könnte, und hatte mich darauf eingestellt, mein Leben teuer zu verkaufen. Doch das große Ungeheuer, mein gefederter Riese, der sich vielleicht wochenlang in der Nahe der Verhandlungssäule herumgetrieben hatte, landete etwa dreißig Meter von mir entfernt auf der Ebene, schüttelte seine großen Flügel und kam auf mich zu.
Aus ebendiesem Grunde war ich zur Säule zurückgekehrt — in der Hoffnung, daß sich der Vogel aus dieser Gegend nicht fortbewegt hatte. Die Jagdgründe waren gut, und die Felsspitzen, auf die ich die Tatrix gebracht hatte, boten Schutz und Unterkunft für die Nacht.
Als er in meine Nähe kam und seinen Kopf vorstreckte, fragte ich mich, ob nun etwa das Unmögliche Wirklichkeit geworden war, etwas, das es eigentlich nicht geben konnte, daß nämlich der Vogel auf mich gewartet hatte.
Er zeigte keinerlei Widerwillen und keine Erregung, als ich auf seinen Rücken sprang und ihm zurief: »Erster Zügel!«, woraufhin er sich mit schrillem Schrei und gewaltigem Satz in die Luft erhob; seine mächtigen Flügel knallten wie Peitschen und hoben ihn mit schneller Bewegung in die Luft.
Als wir die Verhandlungssäule passierten, mußte ich daran Denken, daß ich hier von der früheren Tatrix von Tharna verraten worden war. Und ich fragte mich, was aus ihr geworden sein mochte. Ich wunderte mich auch über ihren Verrat, über ihren seltsamen Haß auf mich, der so wenig zu dem einsamen Mädchen auf dem Felsgrat zu passen schien, das sich die Talenderblumen angesehen hatte, während ich mich an der Beute meines Tarn sättigte. Dann erfüllte mich neue Wut bei der Erinnerung an ihre herrische Geste, an ihren unverschämten Befehl: »Ergreift ihn!« Was immer sie erlebt haben mochte — ich redete mir ein, daß es wohlverdient sein mußte. Und doch hoffte ich, daß sie vielleicht nicht den Tod gefunden hatte. Ich fragte mich, welche Rache Dorna die Stolze an ihr genommen hatte, und bedrückt stellte ich mir vor, daß sie Lara womöglich in eine Ostgrube geworfen oder in stinkendem Tharlarionöl bei lebendigem Leibe verbrannt hatte. Vielleicht hatte sie sie auch unbekleidet den hungrigen Blutpflanzen Gors überlassen oder sie in den Verliesen unter ihrem Palast den Urts zum Fraße vorgeworfen. Ich wußte, daß der Haß eines Mannes schwach sein kann im Vergleich zu den Gefühlen einer Frau, und wagte mir nicht weiter auszumalen, was Dorna die Stolze mit ihrer Gefangenen gemacht hatte.
Der Monat der Tag- und Nachtgleiche, genannt En’Kara, oder der erste Kara, war angebrochen, was wörtlich übersetzt die›erste Wende‹ bedeutet und sich auf die Sonne bezieht. Der goreanische Kalender ist übrigens ein kompliziertes Ding und treibt die Schriftgelehrten dieser Welt zur Verzweiflung. Denn auf Gor zählen die Städte ihre Zeit nach der eigenen Liste von Administratoren; zum Beispiel wird ein Jahr als das Zweite Jahr, nachdem Soundso Administrator war, bezeichnet. Man würde sich denken, daß die Kaste der Wissenden eine gewisse Stabilität in den Kalender bringen könnte, da sie doch ihre Feste und Opferfeiern in Listen festhielten — doch die Wissenden der verschiedenen Städte feiern nicht immer die gleichen Feste. Wenn der Höchste Wissende Ars beispielsweise seine Hegemonie über die Hohen Wissenden feindlicher Städte ausdehnen könnte — eine Hegemonie, die er längst beansprucht —, wäre ein einheitlicher Kalender vielleicht denkbar. Aber bisher hat Ar über andere Städte noch nicht militärisch gesiegt, und so sehen sich die Wissenden anderer Städte im Schutz des Schwertes als frei und unabhängig an, als höchste Instanzen ihrer jeweiligen Gemeinde.
Es gibt jedoch einige Faktoren, die die Situation nicht gar so hoffnungslos erscheinen lassen. Zum Beispiel die Märkte am Fuße des Sardargebirges, die viermal im Jahr stattfinden und fortlaufend numeriert werden. Ein zweiter Umstand besteht darin, daß manche Städte bereit sind, in ihren Unterlagen neben ihren eigenen Daten die Zeitmessung Ars anzugeben, die die größte Stadt auf Gor ist.
Dort wird die Zeit nicht nach der Folge ihrer Administratoren gemessen, sondern von der mythischen Gründung durch den ersten Menschen auf Gor, einem Helden, den die Priesterkönige nach allgemeinem Glauben aus dem Schlamm der Erde und dem Blut von Tarns geformt haben. Die Zeit wird›Contaste Ar‹ oder›seit der Gründung Ars‹ gerechnet. Das laufende Jahr ist nach dem Kalender Ars das Jahr 10.117. Ich vermute allerdings, daß Ar nicht einmal ein Drittel dieses Alters erreicht hat. Sein Heimstein jedoch, den ich gesehen habe, zeugt von einem beträchtlichen Alter.
Etwa vier Tage war ich mit meinem Tarn unterwegs, als wir in der Ferne das Sardargebirge ausmachten. Wäre ich im Besitz eines goreanischen Kompasses gewesen, hatte seine Nadel ständig auf dieses Gebirge gezeigt, eine Erinnerung an die Gegenwart der Priesterkönige. Vor dem Gebirge, ein erregendes Panorama aus bunter Seide und Flaggen, sah ich die Zelte des Marktes von En’Kara, des Marktes der ersten Sonnenwende.
Ich zog den Tarn am Himmel herum, da ich noch näher heran wollte. Ich betrachtete die Berge, die ich nun zum erstenmal aus größerer Nähe sah, und eine seltsame Kälte drang mir in die Knochen, die nicht von den kühlen Winden kam, die hier oben herrschten.
Das Sardargebirge war nicht so hoch und zerklüftet wie die roten Spitzen der Voltai-Berge, jene unzugängliche Einöde, wo ich einmal Gefangener des Geächteten Ubar Marlenus aus Ar gewesen war, des ehrgeizigen und kampfgewohnten Vaters meiner schönen Talena, die ich liebte und die ich vor vielen Jahren auf dem Rücken meines Tarn nach Ko-ro-ba gebracht hatte, wo sie meine Freie Gefährtin wurde. Nein, das Sardargebirge bot sich nicht als atemberaubende natürliche Wildnis dar. Seine Gipfel erhoben sich nicht verächtlich über die Ebenen, versuchten nicht den Himmel zu berühren und des Nachts den Sternen zu trotzen. Hier war der Schrei von Tarns und das Grollen von Larls nicht zu Hören. An Größe und Glanz war es den Voltai-Bergen unterlegen, doch als ich es jetzt anschaute, schlich sich Angst in mein Herz. Ich lenkte den Tarn näher heran.
Die Berge vor mir waren schwarz — bis auf die hohen Gipfel und Pässe, auf denen weißschimmernder Schnee zu sehen war. Ich suchte in den niederen Regionen nach grüner Vegetation, doch ich fand nichts. Das Sardargebirge war völlig kahl.
Von den felsigen Hängen schien eine seltsame Drohung, ein unbestimmter Angsthauch auszugehen. Ich lenkte den Tarn in die Höhe, so hoch, daß seine Flügel schon mühsam die dünne Luft zu peitschen begannen, doch ich vermochte in den Tälern und an den Hängen nichts zu entdecken, was mir auf eine Unterkunft der Priesterkönige hinzudeuten schien.
Plötzlich erfüllte mich ein unheimlicher Verdacht; ich fragte mich, ob das Sardargebirge vielleicht leer war, ob es dort vielleicht nur Wind und Schnee gab, ob die Menschen etwa ahnungslos ein Nichts anbeteten. Wie stand es mit den unendlichen Gebeten der Wissenden, den Opfern, den Ritualen, den unzähligen Schreinen, Altaren und Tempeln, die den Priesterkönigen geweiht waren? War es denkbar, daß der Rauch der Opfer, der Duft des Weihrauchs, das Murmeln der Wissenden, ihre Kniefälle und Unterwerfungen nur den leeren Gipfeln dieses Gebirges galten, dem Schnee und der Kälte und dem Wind, der zwischen den schwarzen Klippen heulte?
Plötzlich kreischte der Tarn auf und erschauerte in der Luft. Und schon war der Gedanke an die Leere des Sardargebirges wie fortgelassen, denn jetzt hatte ich eine Spur der Priesterkönige! Es war fast, als bebte der Vogel im Griff einer unsichtbaren Faust! Ich spürte nichts.
In den Augen des Vogels zeigte sich Entsetzen, eine Regung, die ich noch nie bei ihm erlebt hatte und die mir ganz unglaublich erschien. Zu sehen war nichts.
Widerwillig, protestierend, kreischend — so taumelte der Vogel hilflos hin und her, verlor an Hohe. Seine mächtigen Flügel peitschten sinnlos auf und ab, unkoordiniert, wie die Glieder eines Ertrinkenden. Es hatte den Anschein, als weigerte sich die Luft, sein Gewicht länger zu tragen. In trunkenen Kreisen, verwirrt, hilflos schreiend, fiel der Vogel weiter ab, wahrend ich mich verzweifelt an seinen Halsfedern festkrallte und mein Gleichgewicht zu halten versuchte.
Als wir eine Höhe von hundert Metern erreichten, war das seltsame Schauspiel so plötzlich vorbei, wie es gekommen war. Der Vogel gewann an Höhe und Kraft, gewann seine alte Energie zurück, doch er war seltsam erregt und ließ sich fast nicht mehr lenken.
Zu meiner Verblüffung begann er wieder anzusteigen, entschlossen, in der alten Höhe weiterzufliegen.
Immer wieder versuchte er an Höhe zu gewinnen, und immer wieder wurde er hinabgezwungen.
Durch das Gefieder spürte ich die Anspannung seiner Rückenmuskeln, spürte das erregte Schlagen des starken Herzens. Doch jedesmal, wenn wir eine bestimmte Höhe erreichten, verloren die Augen des Tarn ihren Glanz, und die Balance und die Flugtauglichkeit des Tieres gingen verloren. Nun war es nicht mehr ängstlich, sondern nur noch wütend. Und wieder versuchte es anzusteigen, schneller und wilder als zuvor. Hastig rief ich: »Vierter Zügel!« Ich befürchtete, das sich das mutige Tier eher umbringen würde, als der unsichtbaren Kraft nachzugeben, die seinen Weg versperrte.
Unwillig landete der Vogel auf der Grasebene, etwa zwei Kilometer von dem En’Kara-Markt entfernt. Ich glaubte einen tadelnden Blick der großen Tarnaugen wahrzunehmen. Warum sprang ich nicht wieder auf seinen Rücken und gab den Startbefehl? Warum versuchten wir es nicht noch einmal?
Ich tätschelte ihm den Schnabel und kratzte einige Läuse zwischen seinen Halsfedern hervor und strich sie ihm auf die Zunge. Der Tarn sträubte noch einige Sekunden lang ungeduldig die Federn, doch dann erlag er widerwillig der Delikatesse, und die Parasiten verschwanden in seinem gebogenen Schnabel.
Was mir eben widerfahren war, mußte dem ungeübten goreanischen Gehirn, besonders den Menschen niedriger Kasten, als Beweis für übernatürliche Kräfte, für den magischen Willen der Priesterkönige erscheinen. Ich selbst neigte nicht zu solchen Hypothesen.
Der Tarn war in eine Art Abwehrfeld geraten, das wahrscheinlich auf seine Ohren einwirkte und den Verlust des Gleichgewichtssinns zur Folge hatte. Eine Ähnliche Vorrichtung verhinderte vielleicht auch das Eindringen von Reittharlarions. Gegen meinen Willen mußte ich die Priesterkönige bewundern. Ich wußte nun, das die Berichte stimmten, die ich gehört hatte — daß alle, die das Sardargebirge betraten, zu Fuß kommen mußten.
Ich bedauerte es, den Tarn verlassen zu müssen, doch er konnte mich nicht begleiten.
Ich redete etwa eine Stunde auf ihn ein und versetzte ihm schließlich einen leichten Schlag gegen den Schnabel. Dann schob ich den Vogel von mir. Ich deutete über die Ebene, von den Bergen fort. »Tabuk!« sagte ich.
Das Tier rührte sich nicht.
Es war absurd, aber ich hatte das Gefühl, daß der Vogel glaubte, er habe mich enttäuscht, als er mich nicht in die Berge trug. Vielleicht ahnte er auch, daß ich nicht hier auf ihn warten würde, wenn er von der Jagd zurückkehrte.
Der große Kopf bewegte sich fragend hin und her, streckte sich vor und strich mir am Bein entlang.
»Flieg, Ubar des Himmels!« sagte ich. »Flieg!«
Als ich das Wort Ubar aussprach, hob der Tarn den Kopf. So hatte ich ihn genannt, als ich ihn in der tharnaischen Arena erkannte. Der große Vogel entfernte sich etwa fünfzehn Meter und schaute fragend zurück. Ich deutete über die Ebene.
Das Tier schüttelte sein Gefieder, schrie auf und schwang sich in den Wind. Ich sah zu, bis es als winziger Fleck am blauen Himmel verschwand.
Mir war seltsam traurig zumute, und ich machte mich auf den Weg zum Sardargebirge. Davor, auf der Grasebene, die ich überqueren mußte, lag der bunte En’Kara-Markt.
Ich hatte kaum einen Pasang zurückgelegt, als meine Aufmerksamkeit auf eine Baumgruppe jenseits eines kleinen Flusses gelenkt wurde — von dort ertönte der Entsetzensschrei eines Mädchens.