16

Eingewiesen von der Tatrix, sahen wir nach kaum dreißig Minuten die tharnaische Verhandlungssäule vor uns. Sie stand etwa hundert Pasang von der Stadt entfernt, in nordwestlicher Richtung, eine einsame weiße Marmorsäule, hundert Meter hoch und dreißig Meter im Durchmesser. Ihre Spitze war nur auf dem Rücken eines Tarns zu erreichen. Es war kein schlechter Ort für den Austausch von Gefangenen; er war geradezu ideal, weil keine der Parteien einen Hinterhalt zu befürchten brauchte. Niemand kam vom Boden aus zur Säulenspitze, und Tarns mußten schon von weitem zu erkennen sein.

Ich beobachtete die Landschaft ringsum. Niemand schien hier zu leben. Auf der Säule standen drei Tarns und ebenso viele Krieger, dazu eine Frau, die eine tharnaische Silbermaske trug. Als ich die Säule überflog, setzte einer der Krieger seinen Helm ab und gab mir das Zeichen zur Landung. Ich erkannte Thorn, Offizier von Tharna. Ich bemerkte, daß er und seine Begleiter bewaffnet waren.

»Ist es üblich«, fragte ich die Tatrix, »daß auf der Verhandlungssäule Waffen getragen werden?«

»Du brauchst keinen Verrat zu befürchten«, sagte die Tatrix. Ich überlegte, ob ich den Tarn wenden und mein Vorhaben aufgeben sollte.

»Du kannst mir vertrauen«, sagte sie.

»Woher soll ich das wissen?« fragte ich herausfordernd.

»Weil ich die Tatrix von Tharna bin.«

»Vierter Zügel!« rief ich dem Vogel zu und gab ihm damit das Zeichen zur Landung. Doch der Tarn schien mich nicht zu verstehen. »Vierter Zügel!« wiederholte ich lauter. Aus irgendeinem Grund stellte sich das Tier störrisch an. »Vierter Zügel!« brüllte ich.

Der Riesenvogel landete auf der Marmorsäule, und seine stahlbewehrten Klauen fuhren klirrend über den Stein.

Ich stieg nicht ab und stärkte meinen Griff um die Tatrix.

Der Tarn war sehr nervös. Ich versuchte ihn zu beruhigen, indem ich leise auf ihn einsprach und ihm den Hals tätschelte.

Die Frau in der Silbermaske kam näher. »Heil unserer geliebten Tatrix!« sagte sie. Es war Dorna die Stolze.

»Nicht näherkommen!« sagte ich scharf.

Dorna blieb stehen, etwa fünf Meter vor Thorn und den beiden Kriegern, die sich noch nicht von der Stelle gerührt hatten.

Die Tatrix erwiderte die Begrüßung Dornas mit hochmütigem Nicken. » Tharna gehört dir, Krieger!« rief Dorna die Stolze, »wenn du nur unsere edle Tatrix freigibst! Die Stadt ist in Trauer! Ich fürchte, es wird keine Freude mehr in Tharna herrschen, ehe sie nicht wieder auf ihrem goldenen Thron sitzt.«

Ich lachte.

Dorna erstarrte. »Was sind deine Bedingungen, Krieger?« fragte sie. »Ein Sattel und Waffen«, antwortete ich, »und die Freiheit für Linna aus Tharna, Andreas aus Tor und all jene, die heute nachmittag bei den Schauspielen von Tharna gekämpft haben.«

Ein kurzes Schweigen trat ein.

»Ist das alles?« fragte Dorna ratlos.

»Ja«, sagte ich.

Hinter ihr begann Thorn zu lachen.

Dorna warf einen Blick auf die Tatrix. »Ich werde diesem Preis das Gewicht von fünf Tarns in Gold hinzufügen, dazu ein Zimmer voller Silber und Helme mit Juwelen!«

»Die Liebe zu deiner Tatrix ist groß«, sagte ich.

»So ist es, Krieger!« sagte Dorna.

»Und du bist außerordentlich großügig«, fügte ich hinzu.

Die Tatrix bewegte sich unruhig in meinem Arm.

»Weniger wäre eine Beleidigung für unsere geliebte Tatrix.«

Ich freute mich über das Angebot, denn obwohl ich im Sardargebirge solche Reichtümer kaum gebrauchen konnte, waren sie bei Linna und Andreas und den armen Sklaven Tharnas bestimmt in den besten Händen.

Die Tatrix Lara richtete sich auf. »Ich finde diese Bedingungen unbefriedigend«, sagte sie. »Gib ihm zusätzlich zu seinen Forderungen das Gewicht von zehn Tarns in Gold, zwei Zimmer mit Silber und hundert Helme voller Juwelen.«

Dorna die Stolze verbeugte sich anmutig. »Ja, Krieger, für unsere Tatrix würden wir dir sogar die Steine unserer Mauern geben.«

»Nimmst du die Bedingungen an?« fragte die Tatrix herablassend, wie ich vermeinte.

»Ja«, sagte ich und ahnte den Hieb, der Dorna der Stolzen mit dieser Einmischung versetzt wurde.

»Dann laß mich frei«, befahl sie.

»Ja«, sagte ich.

Ich glitt vom Rücken meines Tarns, die Tatrix in den Armen. Ich stellte sie auf die Füße — dort auf der windumspielten Säule an der Grenze Tharnas — und bückte mich, um ihr die goldenen Fesseln abzunehmen. Kaum waren ihre Handgelenke frei, als sie auch schon wieder jeder Zoll die königliche Tatrix Tharnas war.

Ich fragte mich, ob dies das Mädchen sein konnte, das soeben ein unangenehmes Abenteuer überstanden hatte, dessen Kleider zerfetzt worden waren, dessen Körper noch immer schmerzen mußte.

Mit herrischer Bewegung deutete sie auf die goldenen Handschuhe, die in meinem Gürtel steckten. Ich reichte sie ihr, und sie zog sie langsam an. Dabei nahm sie nicht den Blick von mir.

Ich begann unruhig zu werden.

Sie wandte sich um und ging majestätisch auf Dorna und die Krieger zu. Als sie zwischen ihnen stand, drehte sie sich um, deutete mit dem Finger auf mich und sagte: »Ergreift ihn!«

Thorn und die Krieger sprangen vor, und im nächsten Augenblick war ich von ihren Waffen umringt.

»Verräterin!« brüllte ich.

Fröhlich sagte die Tatrix: »Du Narr! Weißt du denn nicht, daß man mit Tieren keine Pakte schließen kann, daß man mit einem Ungeheuer nicht schachern kann!«

»Du hast mir dein Wort gegeben!« brüllte ich.

Die Tatrix richtete sich auf. »Du bist doch nur ein Mann«, sagte sie. »Bringen wir ihn um«, sagte Thorn.

»Nein«, sagte die Tatrix hochmütig. »Das wäre viel zu einfach.« Glitzernd schaute mich die Maske an, spiegelte das Licht der untergehenden Sonne. Mehr denn je schien eine seltsame Wildheit, eine verborgene Grausamkeit in dem Ausdruck des Maskengesichts zu liegen. »Fesselt ihn«, sagte sie, »und schickt ihn in die Bergwerke Tharnas.«

Hinter mir schrie mein Tarn plötzlich auf und begann mit den Flügeln zu schlagen.

Thorn und die Krieger fuhren herum, und ich benutzte die Gelegenheit, um zwischen ihren Waffen hindurchzuspringen, Thorn und einen Krieger zu ergreifen, sie zusammenzudrücken und mit rasselnden Waffen auf den Marmorboden der Säule heranzuziehen. Die Tatrix und Dorna schrien auf.

Der dritte Krieger stürzte sich mit dem Schwert auf mich, und ich wich seinem Schlag aus, ergriff seine Schwerthand, drehte sie herum, hob sie hoch über meinen linken Arm und vollführte eine ruckhafte Bewegung nach unten. Wimmernd sank er zu Boden.

Thorn war wieder auf den Füßen und sprang von hinten auf mich los, gefolgt von dem anderen Krieger. Ich wehrte mich nach besten Kräften. Sie fluchten hilflos, als ich sie über meine Schultern zog und plötzlich vornüber zu Boden warf. In diesem Augenblick sprangen Dorna und die Tatrix vor und stachen mir mit scharfen Gegenständen, vielleicht Nadeln, in den Rücken und in meinen Arm.

Ich lachte über die Absurdität, doch dann wurde mir schwarz vor Augen, die Säule begann zu kreiseln, und ich stürzte hin. Meine Muskeln gehorchten mir nicht mehr.

»Fesselt ihn«, sagte die Tatrix.

Während sich die Welt langsam unter mir drehte, fühlte ich, wie mir Arme und Beine, die weich und widerstandslos geworden waren, brutal in Ketten gelegt wurden.

Das fröhliche, siegreiche Lachen der Tatrix klang mir in den Ohren. Ich hörte Dorna die Stolze sagen: »Tötet den Tarn.«

»Er ist fort«, sagte der unverletzte Krieger.

Ohne daß ich die Gewalt über meine Muskeln zurückgewann, wurden meine Augen wieder klar; nach und nach konnte ich sehen, erblickte die Säule, den Himmel und meine Gegner in aller Deutlichkeit.

In der Ferne machte ich einen winzigen Fleck aus. Das mußte mein Tarn sein. Als er mich in der Gewalt meiner Gegner sah, war er offenbar sofort fortgeflogen. Nun genoß er wieder die Freiheit, begann ein Leben, das ihn ohne Sattel und Zügel, ohne silberne Fußlast zum Ubar des Himmels machte. Sein Verschwinden stimmte mich traurig, doch zugleich war ich froh, das er entkommen war. Besser das, als wenn er von dem Speer eines Kriegers getötet worden wäre.

Thorn packte meine Handfesseln und zerrte mich über den Marmorboden zu einem der drei wartenden Tarns. Ich war hilflos. Meine Arme und Beine waren so schlaff, als wäre mir jeder Nerv einzeln durchgeschnitten worden.

Ich wurde an den Fußring eines Tarns gekettet.

Die Tatrix hatte offenbar das Interesse an mir verloren, denn sie wandte sich an Dorna und Thorn.

Der Krieger, dessen Arm ich gebrochen hatte, kniete auf dem marmornen Fußboden, umklammerte seinen verletzten Arm und stöhnte. Sein Kamerad stand neben mir zwischen den Tarns. Vielleicht sollte er mich beobachten, vielleicht auch die nervösen Riesenvögel beruhigen. Hochmütig wandte sich die Tatrix an Dorna und Thorn. »Warum«, fragte sie, »sind nur so wenige Soldaten hier?«

»Wir sind genug«, sagte Thorn.

Die Tatrix schaute über die Ebene in Richtung Stadt. »Inzwischen wird die Prozession fröhlicher Bürger losgezogen sein«, sagte sie. Dorna die Stolze und Thorn, Offizier von Tharna, schwiegen.

Die Tatrix kam majestätisch zu mir herüber und starrte zu mir herab. »Krieger«, sagte sie, »wenn du lange genug auf dieser Säule bliebest, konntest du die Prozessionen sehen, die mich in Tharna willkommen heißen werden.«

Die Stimme Dornas der Stolzen wehte herüber. »Ich glaube nicht, geliebte Tatrix.«

Die Tatrix wandte sich verwirrt um. »Warum nicht?« fragte sie. »Weil«, antwortete Dorna, und ich spürte, daß sie hinter ihrer Silbermaske lächelte, »du nicht nach Tharna zurückkehrst.«

Die Tatrix starrte sie verständnislos an.

Der unverletzte Krieger war nun in den Sattel des Tarns gestiegen, an dessen Fuß ich festgekettet war. Er zog am ersten Zügel, und das Ungeheuer flog los. Ruckartig wurde ich in die Hohe gezerrt, und im schmerzhaften Griff meiner Fesseln baumelte ich Unter dem fliegenden Vogel. Ich sah die weiße Säule unter mir Verschwinden, sah die Gestalten darauf, zwei Krieger, eine Frau in einer Silbermaske und die goldene Tatrix von Tharna.

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