Die Tatsache, daß weder Bob noch der Jäger Daphnes überraschende Behauptung ganz ernst nahmen, war völlig bedeutungslos; Jenny beherrschte die Situation. Ohne sich um Bobs zweifelnden Gesichtsausdruck zu kümmern, gratulierte sie Daphne zur Lösung des Problems, bat sie, die Führung zu übernehmen, schlug vor, beim Kinnaird-Haus vorbeizugehen und die Fahrräder zu holen, und erklärte, daß Bob beim Boot bleiben müßte, um auf jemanden zu warten.
Der Gleichmut, mit dem das Mädchen auf Lügen zurückgriff, wenn es ihr richtig erschien, bedrückte den Jäger mehr und mehr. Die lange Lebenserwartung seiner Spezies hatte es vor vielen Generationen zur Erfahrungstatsache werden lassen, daß selbst die trivialste Lüge früher oder später entlarvt wurde, weil sie eine unauslöschliche Spur in den Erinnerungen so vieler Menschen zurückließ.
Doch Jenny schien nicht die geringsten Hemmungen zu haben, Tatsachen zu verdrehen, selbst wenn sie damit ein nur kurzfristiges Ziel zu erreichen hoffte. Was noch schlimmer war, der Gastgeber des Jägers, obschon sichtlich verärgert, schien sich mehr daran zu stoßen, daß das Mädchen das Kommando übernommen hatte, als an ihren Unwahrheiten. Das Gefühl der Nutzlosigkeit, das noch nicht erwachsene menschliche Wesen zu Wutausbrüchen verleitet, lauerte so dicht unter der Oberfläche, wie es der Jäger noch niemals bei einem der menschlichen Wesen erlebt hatte. Da Bob noch immer sehr schwach war, konnten sie die beiden Mädchen nicht zur Bibliothek begleiten; sie konnten auch nicht das Boot benutzen, was ihne n ohnehin nichts gebracht haben würde; sie konnten auch keine Zeit einsparen und sich um den Metalldetektor kü mmern, während Jenny mit Daphne unterwegs war.
Und sowohl Bob als auch der Jäger waren sicher, daß sie den Detektor brauchen würden, selbst für den Schild. Sie konnten sich nicht vorstellen, was für ein Gegenstand es war, von dem Daphne gesprochen hatte, doch keiner der beiden glaubte, daß es sich um das Objekt ihrer Suche handeln könnte.
Trotzdem aber, um alles noch frustrierender zu machen, würden sie selbst in die Bibliothek gehen müssen, um sich zu vergewissern. Wahrscheinlich mußte es sogar getan werden, bevor sie irgendeine nutzbringende Arbeit beginnen konnten, da Jenny den Bericht Daphnes völlig unkritisch anzunehmen schien und sich erst bereit finden würde, ihn anzuzweifeln, nachdem Bob und der Jäger das korallen bewachsene Objekt in der Bibliothek selbst geprüft hatten.
Alles, was die beiden Partner jetzt tun konnten, war warten, sich alle möglichen Fragen zu stellen und sich Sorgen zu machen. Das Schlimmste war vielleicht, daß durchaus die Möglichkeit bestand, daß das Kind recht hatte. In diesem Fall wären sie dazu gezwungen, ihren Plan grundlegend zu ändern.
Die Bibliothek lag etwa zwei Meilen entfernt, südlich der Hauptstraße und etwas östlich ihrer Kreuzung mit der zur Pier führenden Straße. Die Mädchen würden die erste halbe Meile bis zu Bobs Haus zu Fuß zurücklegen müssen. Bob hatte seine Uhr nicht angelegt, da sie nicht wasserdicht war, und so konnten sie nur raten, wie lange die beiden schon fort waren. Ohne den Gedanken laut werden zu lassen, überlegte der Jäger, ob Bobs Verärgerung wieder zu Magenkrämpfen fuhren würde.
Damit wären sie zumindest von der Langeweile erlöst worden; doch er war nicht traurig, als nichts passierte.
Die Mädchen waren in einer knappen halben Stunde zurück, obgleich es Bob und dem Jäger natürlich viel länger vorkam. Ihre Stimmen, die zu hören waren, bevor die beiden in Sicht kamen, verkündeten, daß ihr Enthusiasmus ungebrochen war.
Und Daphne schrie ihrem Bruder schon von weitem entgegen: „Es ist noch da! Jenny sagt, es muß das sein, was du suchst! Wir haben festzustellen versucht, woher es stammt, aber alle konnten uns nur sagen, daß Maeta es gefunden hat, anscheinend vor dem Bau der Bibliothek, und es als Dekoration mitgebracht, als sie dort zu arbeiten begann. Sie ist heute nicht da und zu Hause ist sie auch nicht; die Leute sagten uns, sie sei auf dem Wasser, und sie habe niemals gesagt, woher das Ding stamme, aber wir sollten zurückfahren und warten, bis sie nach Hause kommt, und sie…“
„Nimm mal den Fuß vom Gas, Kleine. Es gibt mindestens vier Maetas auf der Insel. Aber da sie in der Nähe der Bibliothek zu wohnen scheint, nehme ich an, daß du Charlie Teroas Schwester meinst.
Ich habe nicht gewußt, daß sie in der Bibliothek arbeitet.“
„Tut sie aber“, bestätigte Jenny. „Und gelegentlich auch bei meinem Vater.“
„Aber ich will dieses Ding auf jeden Fall selbst sehen, bevor ich Maeta oder irgendeinen anderen Menschen frage, woher es stammt“, sagte Bob entschieden. „Jenny, du hast es vorher nie gesehen, deshalb kannst du nicht sicher sein, daß es wirklich das ist, was wir suchen.“ Bob blickte Jenny an, während er sprach, übersah jedoch geflissentlich ihren Gesichtsausdruck — die himmelwärts gerollten Augäpfel, die, wie von der TVUnterhaltungsindustrie festgelegt, andeuten sollen, daß jemand gerade etwas unaussprechlich Dummes gesagt hat. „Du warst zu schnell fort, als daß ich dir das hätte erklären können, Silly. Ich werde irgendwann selbst gehen müssen…“
„Am besten gleich“, erwiderte seine Schwester.
„Wir haben André unterwegs gesehen, und Jenny sagte mir, er sei es, auf den du hier wartest. Aber er ist nicht in diese Richtung gegangen, also brauchst du nicht länger hier zu bleiben. Wir können gleich zurückgehen und…“
„Was? — ja, ich verstehe — aber ich denke nicht daran…“ Bob war im Moment völlig verwirrt, und selbst der Jäger hatte nicht geglaubt, daß Jennys Lüge so bald entlarvt werden würde. Das rothaarige Mädchen fing sich jedoch sofort und demonstrierte damit eine Begabung, die dem Jäger allmählich sehr zu mißfallen begann. Schnelle Auffassungsgabe und Reaktion waren eine Sache, doch wenn sie nur dazu benutzt wurden, um Lügen mehr oder weniger aufrechtzuerhalten, waren sie vielleicht aufgebraucht, wenn sie für ernsthaftere Probleme benötigt wurden.
„Wenn Andy zum Pier gegangen ist, können Bob und ich mit dem Boot dorthin fahren und ihn treffen“, sagte Jenny rasch. „Du bringst Bobs Fahrrad nach Hause, und wenn du magst, kannst du dann bei der Bibliothek auf uns warten. Aber es könnte eine ganze Weile dauern, bis wir dort eintreffen, warte also nicht allzu lange, wenn du noch etwas anderes vorhast.“
„In Ordnung.“ Das braungebrannte Mädchen mit den fast weißgebleichten Zöpfen verschwand ohne ein einziges Widerwort. Jenny wandte sich Bob und dem Jäger zu, sprach jedoch nur zu Bob.
„Steige ins Boot. Ich muß dir etwas sagen.“ Ihr Ton machte es sehr deutlich — selbst für den Jäger —, daß sie äußerst verärgert war. Sie sagte kein Wort mehr, bis das Boot auf dem Wasser und außer Hörweite war. Dann sagte sie: „Du hast mir nichts davon gesagt, daß sich deine medizinischen Probleme auch auf dein Gehirn auswirken. Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, der so begriffsstutzig ist. Willst du wirklich, daß deine Schwester uns ständig auf der Pelle sitzt?“
„Nein, natürlich nicht.“
„Warum hast du mich sie dann nicht überzeugen lassen, daß wir das Ding gefunden haben und sie losgeschickt, um Maetas Vergangenheit zu untersuchen oder was immer sonst sie amüsieren mag — und sie uns von der Pelle hält.“
„Willst du damit sagen, du weißt, daß es nicht die Abdeckung ist?“
„Woher soll ich das wissen? Das Ding paßt auf deine Beschreibung, so weit ich das beurteilen kann, aber ich habe das Original nie gesehen, wie du dem Kind sehr deutlich erklärt hast. Warum hast du nicht das Stichwort aufgeno mmen, das ich dir gegeben habe?“
Bob antwortete ungewohnt schnell und mit ungewohnter Vehemenz.
„Zum Teil, weil du recht hast; ich bin wirklich begriffsstutzig; zum Teil, weil ich, selbst wenn ich erkannt hätte, was du vorhast — oder besser, wenn ich dessen sicher gewesen wäre —, nicht gerne dabei gewesen wäre, wenn Daphne die Wahrheit erfährt. Ich möchte nicht, daß irgend jemand, vor allem nicht ein Mitglied meiner Familie, mich einen Lügner nennen kann.“
„Natürlich nicht.“ Bobs Ernsthaftigkeit schien Jenny zu überraschen. „Natürlich mag niemand eine wirkliche Lüge erzählen, aber sie würde es doch höchstens erfahren, wenn sie erheblich älter ist, und dann könntest du ihr erklären, warum es nötig war, nicht ganz bei der Wahrheit zu bleiben.
Sie würde es dann sicher verstehen. Ist es nicht vor allem wichtig, daß wir in dieser Sache weiterkommen? Falls du nicht auch gelogen haben solltest, Bob, geht es schließlich um dein Leben. Sind ein paar weiße Lügen wirklich wichtiger als das?“
Bob antwortete nicht. Der Jäger hätte ihm eine längere Rede zu diesem Thema halten können, doch Jennys letzte Feststellung brachte ihn zu der Erkenntnis, daß er es nicht unter diesem Gesichtspunkt gesehen hatte. Er selbst hatte sich schließlich dazu bereit gefunden, ein paar Regeln zu brechen, um das Leben seines Gastgebers zu retten — obwohl es andere prinzipielle Dinge gegeben ha tte, die ihm bei diesem Bruch geholfen hatten —, und bei einer so kurzlebigen Spezies wie der Bobs war es vielleicht nicht ganz so schlimm. Er war sich seiner Antwort noch immer nicht sicher, wenn er sich auch dagegen sträubte, eine lebenslange Überze ugung zu verleugnen.
„Wir sollten wohl besser zur Bibliothek gehen“, sagte Bob schließlich. „Hast du dir schon eine Ausrede überlegt, um diese Verabredung mit André zu erklären, die wir angeblich gehabt haben — besonders für den Fall, daß sie ihn getroffen haben und danach gefragt haben sollte?“
„Nein, aber mir wird schon etwas einfallen. Sie ist nicht mißtrauisch.“
„Noch nicht.“ Die letzten beiden Worte klangen ziemlich bitter, und selbst Jenny begriff, was er damit andeuten wollte. Sie sprachen sonst nichts, bis sie in die Nähe des Damms gekommen waren und Daphne am Strand warten sahen.
„Ich vermute, du wirst ihr sagen, daß es nicht das ist, was wir suchen, wenn du es siehst“, sagte Jenny, und ihre Stimme klang mehr resigniert als indigniert.
„Ich werde ihr die Wahrheit sagen“, erwiderte Bob. „Ich bin dir dankbar, daß du dir Sorgen um meine Gesundheit machst, Jenny, aber es gibt gewisse Dinge, die ich nicht tun kann. Ich bin bereit, Silly ein bißchen anzuschwindeln, wenn es sich um Dinge dreht, von denen wir beide wissen, daß sie nicht wichtig sind, aber wirkliche Lügen — nein.
Vielleicht mache ich mir zu viele Gedanken darüber, was sie von mir denken wird, wenn sie es herausfindet, aber ich fühle nun einmal so. Vielleicht habe ich zu lange mit dem Jäger gelebt.“
„Danke“, murmelte der Jäger.
„Warum sollte sie es denn jemals herausfinden?“
fragte Jenny völlig ernsthaft.
„Du kennst den Jäger nicht gut genug“, war Bobs Antwort. Inzwischen waren sie an Land, und das Kind kam über den Sand auf sie zugelaufen.
Bob hatte sich noch nicht völlig erholt, war jedoch wieder so weit in Ordnung, daß er zur Bibliothek gehen konnte, ohne daß Daphne irgend etwas auffiel. Sowohl er als auch der Jäger machten sich Sorgen über die andere Möglichkeit, doch sein Magen war ruhig geblieben, seit sie Apu verlassen hatten, und außerdem war er praktisch leer.
Die Bibliothek war ein überraschend geräumiges Gebäude in dieser Umgebung. Der Grund dafür war ein anderes Prinzip von PFI: Allen Kindern der Angestellten wurde nicht nur eine freie College-Ausbildung angeboten, wenn sie anschließend sechs Jahre für die Gesellschaft arbeiteten, sondern die Gesellschaft bezahlte auch alle Bücher, die sie benötigten, unter der Bedingung, daß diese Bücher nach Abschluß des Studiums auf die Insel gebracht wurden. Thorwaldsen hatte nicht den Ehrgeiz, auf Ell ein College zu gründen, doch wollte er sich und allen anderen Menschen auf der Insel so viel von der menschlichen Kultur zugänglich machen, wie es ihm möglich war. Es wurde behauptet, daß er alles Häßliche gelesen hatte, was über die bösen Kapitalisten geschrieben worden war, und beweisen wollte, daß das nicht unbedingt so sein mußte.
Was immer seine Absicht sein mochte, die Bevölkerung von Ell war eine recht belesene Gruppe, von den wenigen reinblütigen Polynesiern über die Mischlinge, welche die Majorität bildeten, bis zu den ebenfalls wenigen Europäern. Und es war auch eine wohlhabende Bevölkerung: PFI-Öl hatte die Insel zwar für alles außer Nahrung von Importen abhängig gemacht, aber darum machte sich niemand Sorgen; es würde noch sehr lange dauern, bis der Ölmarkt zusammenbrach. Selbst die Menschen, die so weit vorausschauten, um einzusehen, daß die Menschen auf Nuklearenergie umsteigen sollten, weil das Verbrennen von Kohlenstoffen das Erdklima beeinflussen würde, mußten zugeben, daß PFI mindestens so viel Kohlenstoff aus der Atmosphäre entfernte, wie seine Kunden hineinbliesen.
Auf jeden Fall war die Bibliothek geräumig und allen Bewohnern zugänglich. Sie war jeden Tag von Sonnenaufgang bis drei Stunden nach Sonne nuntergang geöffnet.
Die Bibliothekarin, die jetzt Dienst hatte, war eine Frau in mittleren Jahren, die der Jäger nicht kannte, doch Bob schien sie zu kennen.
„Hallo, Mrs. Moetua. Sind meine Bücherkisten schon hergebracht worden?“
Die Frau blickte auf und nickte, ohne die Arbeit an einer Karte zu unterbrechen, die sie mit der Maschine ausfüllte. Dann entdeckte sie Daphne und blickte zu einem der Bücherschränke. Sie war es gewesen, die den Ansturm des kleinen Mädchens vor weniger als einer halben Stunde über sich ergehen lassen mußte und sich deshalb vorstellen konnte, warum sie mit den anderen zurückgekommen war. Sie blickte wieder Daphne an, die jetzt den anderen etwas zuflüsterte und sie zu ihrer Entdeckung führte.
Sie stand ein ganzes Stück über Augenhöhe, selbst für Bob und Jenny, auf einer Reihe von Enzyklopädien, doch aus dieser Entfernung entsprach sie der Beschreibung, die Bob gegeben und seine Schwester modifiziert hatte. Sie war zur Hälfte mit Korallen bewachsen, deren komplexe Verästelungen ihre Verwendung als Dekoration durchaus rechtfertigten.
Es lag jedoch noch genügend von der Metalllegierung frei, um das Objekt wiedererkennen zu kö nnen, und Bob und der Jäger brauchten es nur ein paar Sekunden lang anzusehen. Keiner der beiden bezweifelte seine Identität. Der Jäger hätte es sich jedoch trotzdem gerne etwas genauer angesehen, da etwas, das ihm vor sieben Jahren nicht aufgefallen war, jetzt seine Aufmerksamkeit erweckte, doch entschied er sich zu warten — Bob trat jetzt wieder zum Schreibtisch der Bibliothekarin zurück, und der Alien hielt es für richtiger, ihn erst zu Ende bringen zu lassen, was er jetzt vorhaben mochte.
„Sie haben Daphne gesagt, daß Maeta Teroa das Ding hergebracht hat?“
„Ich habe gesagt, daß ich es glaube“, antwortete die Frau. „So jedenfalls habe ich es in Erinnerung.
Es ist hier, seit dieses Gebäude steht, aber so lange ist auch Maeta hier, und deshalb bin ich nicht absolut sicher. Sie hat heute keinen Dienst, aber ihr solltet sie ohne Schwierigkeiten finden können.
Warum seid ihr daran interessiert?“
„Ich habe etwas, das so ähnlich aussah, vor Jahren auf dem Riff gesehen und frage mich, ob es dasselbe Stück ist. Auf jeden Fall ist es sehr hübsch. Warum ist es nicht ins Museum gegeben worden?“
„Die kriegen doch nicht alles.“ Die Frau lächelte.
„Mache nur keine Andeutungen darüber, wenn du willst, daß Mae dir hilft. Sie sammelt sehr viel fürs Museum, und im Austausch haben wir auch eine ganze Menge von ihnen bekommen — vor allem Bücher.“
„Danke. Ich werde vorsichtig sein. Ich habe es auch nicht als Kritik gemeint; ich besitze ein paar Mineralien, die ich durch Tausch von einem deutschen Museum bekommen habe, als ich meinen Gesteins-Sammeltick hatte. Ich werde Maeta fragen, wenn ich sie treffe. Vielen Dank, Mrs. Moetua.“
Draußen wandte Bob sich an die beiden Mädchen.
„Das erspart uns eine Menge Zeit. Silly, du hast dir eine große Prämie verdient. Mach schon mal eine Liste von den Sachen, die du gerne haben möchtest.“
„Ist es wirklich das Ding?“ fragte Jenny.
„Ja — wenn du mir glauben kannst.“
Das Mädchen besaß soviel Anstand, rot zu werden, stellte aber weiter ihre Fragen.
„Und was jetzt?“
„Wir müssen Maeta dazu bringen, uns so genau wie möglich zu beschreiben, wo sie es gefunden hat, damit wir seinen Weg zurückverfolgen können, so wie wir es geplant haben.“
„Was meinst du damit?“ fragte Daphne, „was wollt ihr zurückverfolgen?“
„Das ist ein Teil des Geheimnisses“, antwortete ihr Bruder. „Vielleicht kann ich es dir später einmal sagen, aber sicher ist das nicht. So, und jetzt geh wieder spielen. Wir können nichts unterne hmen, bevor wir mit Maeta gesprochen haben, also wirst du nichts versäumen. Die Nachbarn haben gesagt, daß sie auf dem Wasser ist?“ Beide Mädchen nickten nachdrücklich. „Okay. Wir könnten natürlich wieder mit dem Boot hinausfahren und versuchen, sie zu finden, aber groß ist die Chance nicht. Sie könnte auf jeder der vielen winzigen Inseln sein, vielleicht sogar auf der Südseite, und nicht nur in der Lagune. Sie könnte auch jenseits des Riffs segeln oder fischen.“
„Aber du würdest nichts versäumen, wenn du nachsiehst — und du könntest mich mitnehmen.“
Daphne blickte hoffnungsvoll zu ihm auf.
Bob blickte Jenny an, die lächelnd die Schultern zuckte.
„Also gut, kleine Schwester, wenn du dich sofort auf dein Rad schwingst, nach Hause fährst und etwas über den kleinen Fetzen ziehst, den du einen Badeanzug nennst. Ab mit dir!“ Das Kind verschwand.
Der Rest dieses Tages wurde recht unproduktiv auf der Lagune verbracht. Daphne amüsierte sich natürlich blendend, und auch die beiden anderen Menschen hatten ihren Spaß, doch der Jäger war ungeduldig und gelangweilt. Trotz seines langen Lebens und einer fast unerschütterlichen Ruhe begriff er nicht, daß Bob dieses Problem, bei dem es schließlich um sein Leben ging, anscheinend auf die leichte Schulter nahm. Zugegeben, das Problem war durch den Jäger verursacht worden, doch es war Bobs Leben. Der Alien überlegte, daß dies vielleicht eine weitere Konsequenz der relativ kurzen Lebensspanne der Menschen sein mochte; aber das konnte nicht alles sein. Die Humanoiden des Castor-Systems, mit denen er sonst zusammenlebte, hatten eine noch kürzere Lebenserwartung, und er bezweifelte, daß einer von denen sich in der gleichen Situation genauso gleichgültig zeigen würde. Auf jeden Fall keiner von denen, die er persönlich gekannt hatte.
Da die meisten Menschen auf Ell ihr Dinner kurz nach Sonnenuntergang einnahmen, waren sie sicher, Maeta in ihrem Haus anzutreffen. Daphne war losgeschickt worden, um Bobs Eltern zu sagen, daß er etwas später kommen würde; er und Jenny gingen zum Haus der Teroas, das in der Mitte eines ausgedehnten Gartens an der Kreuzung der beiden Straßen stand, nur ein paar hundert Yards von der Bibliothek entfernt.
Bob und Jenny wurden sehr freundlich empfa ngen. Charles, der Sohn der Familie, war viele Jahre lang ein enger Freund Bobs gewesen. Er und sein Vater waren auf See, wie meistens, und die ältere Schwester arbeitete im PFI-Büro auf Tahiti; doch Maeta, ihre Mutter, zwei Schwestern der Mutter und ein Schwager waren zu Hause.
Mehr Zeit, als Bob lieb war, ging damit drauf, ihre Frage nach seinem Leben auf dem College zu beantworten — und es waren Fragen, die ein Provinzler aus Boston oder New York von Polynesiern nicht erwartet haben würde. Endlich einmal fühlte sich der Jäger von einem Gespräch nicht gelangweilt, obwohl es in keinerlei Beziehung zu seinem Problem stand.
Es dauerte eine Weile, bevor sie das Thema auf das Objekt in der Bibliothek bringen konnten, doch Bob gelang es schließlich. Maeta nickte, als er berichtete, daß Daphne ihn darauf aufmerksam gemacht habe, und gab, ohne durch seine Frage überrascht zu sein, sofort zu, daß sie es in die Bibliothek gebracht habe. Als er wissen wollte, wo sie es gefunden habe, zeigte sie höfliche Neugier nach dem Grund dieser Frage, und er sagte ihr die Halbwahrheit, die er schon bei anderen Gelegenheiten verwendet hatte.
„Ich glaubte, es vor vielen Jahren im Wasser entdeckt zu haben, habe aber nie versucht, es zu bergen“, sagte er. „Es lag in einer Bucht auf der Außenseite von Apu, und ich wollte mich nicht von den Korallen zu Hackfleisch verarbeiten lassen. Du mußt an einem sehr windstillen Tag dort gewesen sein, oder du bist eine meisterhafte Schwimmerin.“
Eine ihrer beiden Tanten kicherte. „Maeta schwimmt und segelt besser als jeder Mann auf Ell.“ Das Mädchen akzeptierte das Kompliment mit einem Nicken, und Bob erinnerte sich, von Charles vor langer Zeit bereits Ähnliches gehört zu haben. Und es mochte durchaus stimmen; ihre Kraft fiel nicht sofort ins Auge, wohl aber ihre Kondition und Koordination, wenn sie sich bewegte. Bob war nicht bewußt, daß er sie eine Weile anblickte, doch Jenny merkte es und stellte zu ihrer eigenen Überraschung fest, daß sie darüber ein wenig verärgert war. Es war nicht überraschend, daß das Mädchen Bobs Aufmerksamkeit erregte.
Maeta Teroa war vielleicht nicht hübscher als Jenny, die in diesem Punkt eine gerechtfertigt hohe Meinung von sich hatte, doch stand sie im Aussehen dem erheblich größeren, rothaarigen Mädchen um nichts nach. Maeta war nur knapp über fünf Fuß groß und wog fast genau hundert Pfund. Namen ließen auf Ell keine Rückschlüsse auf die rassische Herkunft zu; ihre dunkle Haut und das schwarze Haar verrieten polynesische Vorfahren, doch Europa — Schottland, hatte Charles einmal erwähnt — dokumentierte sich in ihren blauen Augen, der relativ schmalen Nase und dem etwas spitzen Kinn.
„Ich will mich darüber nicht streiten“, sagte sie zu dem Kompliment ihrer Tante. „Man soll seinen Älteren nicht widersprechen, auch nicht um der Bescheidenheit willen, und so bescheiden bin ich nicht. Nein, Bob, es war überhaupt nicht riskant; ich habe es nicht auf Apu gefunden, sondern es von der Haerehaere aus auf dem Grund der Lagune entdeckt — etwa in der Mitte zwischen den Tanks Nummer sieben und zwölf, mindestens eine Meile von Apu entfernt. Ich war ein wenig überrascht, dort eine solche Korallenformation zu sehen — es ist eine Spezies, die eigentlich nur auf dem Riff vorkommt —, also bin ich ins Wasser getaucht und habe es heraufgeholt. Es sah sehr hübsch aus, und deshalb habe ich es nicht ins Museum gegeben, sondern im Haus behalten. Als das neue Bibliotheksgebäude fertig geworden war und ich dort zu arbeiten begann, habe ich es mitgenommen — wir haben alle geholfen, die Räume ein bißchen zu dekorieren. Ich kann mir nicht denken, wie es vom Riff in die Mitte der Lagune gekommen sein kann.
Anfangs nahm ich an, daß jemand versucht hat, es an Land zu bringen und es unterwegs über Bord gefallen ist, aber in dem Fall konnte ich nicht einsehen, warum er es nicht wieder herausgeholt hat.
Es lag schließlich nur knapp zwanzig Fuß tief. Außerdem wäre es einem früheren Eigentümer sicher aufgefallen, als es in der Bibliothek auftauchte; es gibt sicher nur wenig Menschen, die es dort nicht gesehen haben.“
Der Jäger stellte Bob eine Frage, die diesen verwunderte, doch gab er sie als seine eigene weiter.
„Hast du es auf irgendeine Art verändert? Ich meine, hast du Korallenäste abgebrochen, damit es hübscher wirkt, oder ist es genau so geblieben, wie du es gefunden hast?“
„Natürlich ist es so geblieben. Ich kann an einem abgebrochenen Korallenast nichts Hübsches finden, und ich kann mich noch erinnern, wie glücklich ich darüber war, als ich feststellte, daß alle Äste unbeschädigt waren. So weit ich es sagen kann, ist das auch heute noch der Fall, aber ich habe es eine ganze Weile nicht genauer angesehen, muß ich zugeben. Ich wollte Dad oder Charlie fragen, was dieses Metallstück unter den Korallen sein könnte — es muß von irgendeinem Schiff stammen, denke ich — aber ich habe nie daran gedacht, wenn sie hier waren. Weißt du es vielleicht? Du hast es dir doch heute angesehen.“
„Ich habe nicht viel Ahnung von Schiffen“, sagte Bob ausweichend. Der Jäger ließ ihn eine zweite Frage stellen. „Würdest du es einmal mit mir gemeinsam ansehen und dich versichern, daß nichts verändert worden ist?“
„Natürlich.“ Maeta blickte ihn verwundert an, offensichtlich überrascht von seinem Interesse, war jedoch zu höflich, nach einer Erklärung zu fragen, wenn Bob sie nicht von sich aus gab. „Jetzt geht es leider nicht — wir wollen gleich essen — aber sofort danach, wenn du willst, oder wollt ihr mit uns essen?“
Bob und Jenny entschuldigten sich mit dem Hinweis, daß sie zu Hause erwartet würden und gingen, nachdem sie sich für den nächsten Vormittag mit Maeta verabredet hatten. Als sie das Haus verließen, fragte der Jäger Bob, warum er sich nicht an diesem Abend mit ihr treffen wollte.
„Ich glaube nicht, daß sie mit dem Dinner fertig sind, bevor die Bibliothek schließt“, antwortete er,
„und ich wollte sie nicht merken lassen, wie wichtig es mir ist, indem ich sie bat, ihr Dinner zu verschieben, oder sie später vom Tisch wegholen würde.“
Jenny, die natürlich von diesem Gespräch nichts gehört hatte, fragte Bob, warum er so genaue Fragen über den Zustand der Korallen gestellt habe.
„Den Grund dafür kenne ich auch nicht“, mußte er zugeben. „Der Jäger wollte das wissen, und ich habe seine Fragen lediglich weitergegeben.“
„Ohne den Grund dafür zu kennen?“
„Ich hatte keine Möglichkeit, ihn zu fragen, ohne daß es auffallen würde. Ich muß zwar nicht laut sprechen — er kann das Vibrieren meiner Stimmbänder spüren, wenn ich nur unhörbar flüstere — aber ich hätte eine Pause in unserem Gespräch machen müssen, und das wäre den anderen sicher aufgefallen.“
„Aber jetzt könntest du ihn doch fragen.“
„Wie ist es, Jäger?“ sagte Bob. Der Alien hatte keinen Grund, nicht zu antworten.
„Ich glaubte, eine gewisse Regelmäßigkeit in den Korallenformationen erke nnen zu können, als wir in der Bibliothek waren“, sagte er. „Ich bin mir jedoch nicht sicher und wollte nichts weiter dazu sagen, bevor ich mir das Stück nicht noch einmal genauer angesehen und von Maeta erfahren habe, ob es sich in diesem Zustand befunden hat oder nicht, als sie es fand. Außerdem möchte ich auch feststellen, ob einem von euch etwas auffällt, wenn ihr es das nächstemal seht, also wollte ich euch nicht darauf hinweisen, worauf ihr achten sollt.“
Bob gab die Worte des Jägers an das Mädchen weiter. Weder er noch Jenny waren mit der Antwort zufrieden, und das Mädchen versuchte während des ganzen Heimweges mehr aus ihm herauszubekommen. Doch Bob wußte, daß der Jäger sich nicht drängen lassen würde, und so war ihre Unterhaltung steif und gezwungen, bis sie das Haus der Kinnairds erreichten.
Wie vorauszusehen war, hatte er sich am folge nden Morgen völlig erholt. Doch trat jetzt eine neue Komplikation ein, nämlich starke Schmerzen in den Gelenken, besonders in Knien und Schenkeln.
Wie immer konnte der Jäger den Grund dafür nicht finden, auf jeden Fall war es nicht etwas so Normales wie die Ablagerung von Harnsäurekristallen oder Gicht. Der Jäger untersuchte Bob sehr gründlich. Er hatte ihn während der Collegejahre dazu überredet, einen Kurs in menschlicher Physiologie zu belegen, und alle Vorlesungen und die Lektüre seines Gastgebers aufmerksam verfolgt.
Anscheinend war einer der Teller, die er balancierte — sehr wahrscheinlich handelte es sich um ein Hormon — ins Schwanken geraten, doch diese Theorie half ihm nicht weiter. Bob litt unter starken Schmerzen, schien sich jedoch mit seinem Zustand um so mehr abzufinden, je schlechter er wurde. Er war völlig ruhig und machte dem Jäger nicht die geringsten Vorwürfe. Dieser jedoch wurde von einem Gefühl der Schuld und Hilflosigkeit immer mehr in eine Art Panikstimmung versetzt. Er war sich völlig darüber im klaren, daß Panik ihnen nicht weiterhelfen würde, sondern auf einer Ebene angreift, die weit unterhalb der Intelligenz liegt.
Und Bob konnte sich bewegen, wenn auch nur unter Schmerzen, und sah deshalb keinen Grund, seiner Familie etwas von der neuen Komplikation zu erzä hlen. Daphne stellte an diesem Tag kein Problem dar, da sie sich mit Freunden ihrer Altersgruppe verabredet hatte.
Sofort nach dem Frühstück verließen Bob und sein Partner das Haus und fuhren mit dem Rad zur Bibliothek. Es war nicht vereinbart worden, daß Jenny mit von der Partie sein sollte, doch sie wartete vor ihrem Haus, als sie daran vorbeikamen, und schloß sich ihnen an.
Maeta war noch nicht eingetroffen, mußte sie jedoch gesehen haben, als sie an ihrem Haus vorbeigefahren waren; sie mußten nur zwei oder drei Minuten auf sie warten. Sie betraten zusammen das Gebäude, und Maeta sprach ein paar Worte mit der Bibliothekarin, die heute Dienst hatte; es war heute nicht Mrs. Moetua. Dann führte sie die anderen zu dem Bücherschrank, auf dem das korallenbewachsene Metallstück stand, und gab Bob einen Wink, es herunterzune hmen — sie selbst war zu klein, um es erreichen zu können. Es war jedoch Jenny, die aus Gründen, die sie sich selbst nicht erklären konnte, hinauflangte, es herunternahm und, wieder nach Maetas Anweisung, zu einem Tisch in der Nähe der Tür trug, wo das Sonnenlicht direkt darauf fiel. Dann beugten sie sich alle darüber und betrachteten es genau.
Weder Bob noch der Jäger hatten irgendwelche Zweifel daran, daß es dasselbe Objekt war, das sie vor Jahren auf Apu entdeckt hatten. Das war jetzt auch nicht mehr die Frage, die sie interessierte. Bob und Jenny versuchten festzustellen, was am Vortag die Aufmerksamkeit des Jägers hervorgerufen haben könnte. Maeta, die keinen Grund hatte, auf etwas Besonderes zu achten, betrachtete es lediglich mit allgemeinem Interesse.
Etwa ein Drittel der Metalloberfläche lag frei, und ein zweites Drittel war mit einer so dünnen Korallenschicht bedeckt, daß man die darunterliegende Form noch deutlich erkennen konnte. Der Rest war mit bizarr verästelten Korallen überwuchert, die selbst der Alien dekorativ fand; die Äste waren mit unzähligen gerippten Kuppen bedeckt, in denen einst winzige Polypen gehaust hatten.
Auf den nackten Metallflächen befanden sich Muster auf feinen, eingeritzten Linien, die der Jäger natürlich sofort entziffern und lesen konnte, obwohl den Menschen nur ihre essentielle Regularität auffiel.
Die bloße Tatsache, daß der Name des Herstellers, Fabrikationsnummer und verschiedene Montage und Servicehinweise eingraviert waren, war es nicht gewesen, was am Vortag die besondere Aufmerksamkeit des Jägers hervorgerufen hatte.
Das Überraschende war die Uniformität, mit der jede dieser gravierten Flächen frei lag. Es gab keine teilweise überwachsenen Worte, Symbole oder Ziffern. Jedes Zeichen, jede Zeichengruppe war völlig frei von Korallen oder anderem Bewuchs, ebenso Randstreifen von mehreren Millimetern Breite. Die Korallen, die dort gewachsen sein mochten, waren offensichtlich nicht abgebrochen worden, sondern schienen aufgelöst worden zu sein.
Nachdem er seinem Gastgeber einige Minuten Zeit gegeben hatte, um das zu erkennen, versuchte der Jäger Bob durch gezielte Fragen darauf aufmerksam zu machen, doch auch damit gelang es ihm nicht, daß Bob die seltsame Regularität beachtete, und der Alien gab schließlich auf und wies ihn direkt darauf hin. Jetzt war es Bob natürlich völlig klar, und er begriff nicht, daß er es nicht sofort bemerkt hatte.
„Was soll’s, du siehst es ja jetzt“, sagte sein Symbiont. „Nun müssen wir feststellen, ob es sich in diesem Zustand befand, als Miß Teroa es entdeckte, oder ob es sich danach zu dieser Form verändert hat.“ Er überließ es Bob, die Frage weiterzugeben.
Natürlich faßte Bob die Frage so allgemein wie möglich.
„Maeta, bist du absolut sicher, daß sich nichts an diesem Objekt verändert hat, seit du es fandest?“
„Nicht absolut sicher, aber wenn, dann kann es sich nur um sehr geringfügige Veränderungen ha ndeln. Auf jeden Fall sind keine Korallenzweige abgebrochen worden. Ich muß zugeben, daß ich mich weder an die genaue Anordnung der Korallen noch an die Lage der freien Metallflächen erinnern kann, jedenfalls nicht gut genug, um eine Skizze davon anfertigen zu können, aber auch für diese Metallflächen gilt das gleiche: falls sie sich irgendwie verändert haben sollten, so nur äußerst geringfügig.“
„Und das Metall sieht genauso aus wie damals?“
„So weit ich mich erinnere, ja. Aber ich fürchte, Metall sagt mir nicht viel, wenn es nicht eine besondere Färbung hat, wie Kupfer oder Gold.“
Bob sah keine andere Möglichkeit, als deutlicher zu werden.
„Ich frage mich, was das für Kratzer in dem Metall sind. Sie scheinen allein auf die freien Stellen beschränkt zu sein — nirgends verschwinden sie teilweise unter Korallenbewuchs. Natürlich könnten noch andere Kratzer völlig unter ihnen liegen, doch es hat den Anschein, als ob sie gemacht worden wären, nachdem die Korallen gewachsen sind.“
„Ich verstehe, was du meinst.“ Maeta nickte nachdenklich. „Ich kann mich nicht erinnern, diese Kratzer vorher bemerkt zu haben; vielleicht hat sie jemand gemacht, während das Ding hier in der Bibliothek gestanden hat. Aber ich bezweifle es.
Der Bücherschrank ist zu hoch, als daß kleine Kinder hinauflangen könnten, und ich glaube nicht, daß Erwachsene so etwas tun würden.“ Genau wie Jenny hatte auch Maeta auf die Möglichkeit einer College-Ausbildung verzichtet, und ein paar Sekunden lang war Bob über ihre Naivität verblüfft.
Aber er verkniff sich jeden Kommentar, selbst gegenüber dem Jäger.
Sie traten von einer Seite des Tisches zur anderen, betrachteten das Objekt aus verschiedenen Blickrichtungen. Falls irgendwo eine Gravierung verborgen sein sollte, so war sie vollständig verborgen, wie Bob es bereits festgestellt hatte. Das konnte auf gar keinen Fall Zufall sein, entschied der Jäger, und trotz der Panikstimmung dieses Morgens, als Bob mit Gelenkschmerzen erwacht war, fühlte der Jäger sich plötzlich glücklicher als jemals zuvor in den letzten beiden Erdenjahren. Vielleicht war das der Grund dafür, daß er einen Fehler beging.
„Bob“, sagte er, „es gibt keinen Zweifel. Es kann kein Zufall sein. Diese Flächen sind sehr sorgfältig freigelegt worden, wahrscheinlich mit Säure, damit jemand die Gravierungen lesen kann, und nur meine Leute konnten erwarten, dort etwas zu lesen zu finden und wären in der Lage gewesen, es zu lesen, nachdem sie es freigelegt hatten.“
Es war ein verzeihlicher Fehler — nicht in der Logik, die völlig in Ordnung war, sondern in der mangelnden Einsicht, welche Folgen diese Bemerkung nach sich ziehen konnte. Schließlich hatte Bob die neue Entwicklung äußerst ruhig aufgenommen, unglaublich ruhig sogar. Wenn der körperliche Zustand des jungen Mannes normal gewesen wäre, hätte der Jäger vielleicht die emotionelle Spannung seines Gastgebers spüren können, doch da der Alien die meisten der Hormonsysteme, auf die die Gefühlsaufwallungen einen Einfluß ne hmen, mehr oder weniger direkt selbst kontrollierte, spürte er nichts. Deshalb kam Bobs Reaktion völlig überraschend.
„Sie sind also hier!“ rief er glücklich.
Jenny verstand natürlich, was er damit sagen wollte. Maeta verstand es genauso natürlich nicht und war verständlicherweise überrascht.
„Wer ist hier?“ fragte sie. „Willst du damit sagen, du erkennst das Teil und weißt, von welchem Schiff es stammt? Das wird dir leider nicht viel nützen. Erinnere dich daran, daß ich es vor vielen Jahren gefunden habe.“
Bob versuchte hastig, seinen Fehler auszubügeln, und es gelang ihm auch einigermaßen, wenn auch nicht völlig. „Das ist wahr“, stimmte er ihr zu. „Ich habe im Moment nicht richtig überlegt. Kannst du dich noch erinnern, wann das war? Du hast uns recht genau beschrieben, wo du es gefunden hast.“
Maeta schwieg eine Weile, und die anderen sahen sie mit unterschiedlicher Geduld an.
„Laßt mich mal überlegen“, sagte sie schließlich.
„Die Bibliothek ist Anfang 1951 fertiggestellt worden — daran erinnere ich mich noch genau, weil ich sofort nach Schulabschluß hier zu arbeiten begann, sofort, als sie eröffnet worden war, und mein erster Arbeitstag war mein sechzehnter Geburtstag. Ich hatte dieses Ding damals aber schon eine ganze Weile. Ein Jahr? Nein, länger. Ich bin nicht oft mit der Haerehaere draußen gewesen; beim erstenmal war ich erst zwölf, und das war in dem Jahr, als du so früh nach Hause kamst und so lange geblieben bist, und als Charlie seinen ersten Job auf einem Schiff bekam.“
Bob nickte aufmunternd, hielt es jedoch für besser, jetzt nichts zu sagen. Das Jahr, in dem er so lange geblieben war, war das Jahr gewesen, in dem das erste Problem des Jägers gelöst worden war.
„Es muß irgendwann im März gewesen sein“, fuhr Maeta fort, „1948 oder 49… o ja, jetzt erinnere ich mich. Ich habe mich damals recht oft um deine kleine Schwester gekümmert, und sie hatte gerade zu laufen begonnen, also muß es im März 1949 gewesen sein, vor etwas mehr als fünf Jahren.“
„Gut. Herrlich. Vielen Dank Maeta.“
„Also sind sie, wer immer sie sein mögen, damals vielleicht hier gewesen, doch heißt das nicht, daß sie auch jetzt noch hier sein müssen“, schloß Maeta.
Doch Bob und der Jäger waren sicher, es besser zu wissen.