8 Stumpfhausen

Als Kitiara mühsam wach wurde, kam sie sich vor, als hätte man ihr ein Schlafmittel verabreicht. Der klopfende Schmerz, der ihr einen Augenblick später bewußt wurde, weckte in ihr den Wunsch weiterzuschlafen. Dann kehrte die Erinnerung an ihre häßliche Auseinandersetzung mit Ursa zurück.

Der Zorn riß sie so abrupt auf die Beine, als würde sie am Seil hochgezogen. Als sie ihre Kleider abklopfte, bemerkte Kit ein langes, schmales Bündel, das zu ihren Füßen lag. Becks Schwert, registrierte sie. Ursa mußte es zurückgelassen haben. ›Wenig genug für meinen Einsatz‹, dachte sie. Das Gesicht von El-Navar mit seinen Augen wie Diamanten und seinen schwarzen Schlangenhaaren kam ihr wieder in den Sinn. Auch das war geschehen, eine Einweihung, der sie nicht länger neugierig oder zögernd entgegensehen mußte.

Das diesige Morgenlicht enthüllte häßliche Blutergüsse, die sich über Kits Kiefer und Hals erstreckten. Sie betastete sie behutsam. Aber, überlegte sie, die Tochter von Gregor Uth Matar läßt man nicht einfach im Staub liegen.

Kit hob das Schwert auf und band es sich auf den Rücken, bevor sie Cinnamon losmachte und, neben ihrem Pferd herhinkend, Ursas Fährte folgte. Wie sie sich hätte denken können, endete die Verfolgung nach einer schmerzhaften halben Stunde an einem Bach, wo die Spuren aufhörten. Ursa war ein zu erfahrener Kämpfer, als daß ihm kein gekonntes Verschwinden gelungen wäre. Kit wußte, daß sie seine Spur nie wiederfinden würde, und selbst wenn, würde sie unterwegs wieder irgendwo verschwinden.

Als sie so dastand, merkte Kit, wie hungrig sie war. Sie hockte sich ans Wasser und trank mit großen Schlucken. Dann munterte sie Cinnamon mit den Worten auf, daß auf sie am Ende des Tages bestimmt ein warmer, gemütlicher Stall wartete, schwang sich mühsam auf ihr Pferd und brach auf, ohne zu wissen, wohin.

Silberloch lag zehn bis zwanzig Meilen nördlich, doch dorthin wagte sie nicht zu gehen. Die Männer, die sie gejagt hatten, würden dort auf jeden Fall nach ihr suchen.

Aber Kitiara nahm an, daß es unweit von hier im Süden und Westen kleinere Siedlungen geben würde, welche die Straßenbauer versorgten.

Gegen Mittag befand Kit sich in den südlichen Vorbergen, wo sie sich sicher fühlte. Silberloch war einen halben Tagesritt entfernt. Sie befand sich in einer Gegend, wo der Wald spärlicher wurde und das Land scharf zu spitzen Graten anstieg. Weiter westlich wurde das Land karg und unwirtlich. Nicht einmal Söldner würden versuchen, in diese Richtung zu entkommen, dachte sie zuversichtlich.

Kitiara näherte sich ein paar Gebäuden. Kein richtiges Dorf, eher eine hastig errichtete Ansammlung von Zelten, Hütten, Baracken und hin und wieder einem Blockhaus. »Stumpfhausen« stand auf einem Schild. Der Name stammte zweifellos daher, daß die Holzfäller alle Bäume im Umkreis gefällt hatten, so daß nur noch die Stümpfe übrig waren. Ein zusammengewürfelter Haufen Bewohner belebte die matschigen, unbefestigten Straßen. Immerhin gab es mindestens ein Lokal, wo man etwas zu essen und zu trinken bekommen konnte, wie die halb verhungerte Kit sah.

Allerdings gab es da das gewisse Problem, daß sie kein Geld hatte.

Als Kit näher kam, sah sie das Schild »Piggotts Gastliches Haus«. Das Haus war gar nicht so klein, auch wenn das Holz verwittert war und die Farbe schon abblätterte. Wo die Fenster nicht gesprungen oder zugenagelt waren, waren sie schmierig. Der einzige Gast jetzt am Nachmittag – ein alter, graubärtiger Zwerg – stieg wacklig die Holztreppe zum Vordereingang hoch. Er sah aus, als käme er direkt aus einem Faß voll Ruß und Asche.

Nicht zu vergleichen mit dem Wohlbehagen und der Gastlichkeit, die daheim in Solace von Otiks Gasthaus ausging, fand Kit, die kurz vom Heimweh überwältigt wurde. Sie schüttelte den Kopf.

»Anscheinend gewinnen mein zerschundener Körper und mein leerer Magen die Oberhand«, murmelte Kit in sich hinein, als sie abstieg und Cinnamon dorthin führte, wo sie den Eingang zur Küche vermutete.

Nachdem sie ihr Pferd an einen Pfosten gebunden hatte, versteckte Kitiara Becks Schwert unter ein paar Büschen. Dann straffte sie die Schultern und klopfte an die Tür. Sie war fest entschlossen, nicht wie eine Bettlerin aufzutreten. Ein fetter Mann mit breitem, schlaffem Kinn und einer Schürze voller Fettflecken machte auf. Gemächlich musterte er Kit von oben bis unten. Sein eines Ohr war blutverkrustet und geschwollen, zweifellos ein Andenken an eine unfreundliche Auseinandersetzung. Es sah aus wie ein Blumenkohl.

»Na, du siehst aber ziemlich mitgenommen aus, Frollein. Streit mit dem Liebsten, hm? Ich mag’s ja keck, aber nicht unverschämt. Ja, und was kann ich für dich tun?«

Der Mann stand breit in der Tür und seine imposante Gestalt blockierte den Eingang. Kit konnte keinen Blick nach drinnen werfen. Die herausdringenden Essensdüfte waren zwar nicht mit Otiks berühmter Kost zu vergleichen, aber immerhin verlockend genug, um Kit den spontanen Ekel vor diesem Rindvieh herunterschlucken zu lassen, damit sie höflich antworten konnte.

»Ich bin auf der Durchreise und habe unterwegs meinen Geldbeutel verloren. Kann ich mir hier mit irgendwelcher Arbeit eine Mahlzeit verdienen?«

Der Mann nahm eine abschätzigere Haltung Kit gegenüber ein. »Kennst dich in der Küche aus, ja?«

Kit, die sich eher körperliche Arbeit erhofft hatte, sank der Mut, aber der Hunger nagte. »Ja, ich kann abwaschen und zur Not auch kochen.«

Überraschend prompt nahm der Mann Kit am Arm und zog sie durch die Tür. »Das Kochen mach’ ich, Madamchen, aber wenn du servieren und abwaschen kannst, dann leg mal gleich los. Die anderen, die bei mir arbeiten, können jede Hilfe gebrauchen. Uns helfen nicht viele Frauen aus, denn die Frauen hier in der Stadt verschwenden ihre Zeit nicht mit Küchendienst. Die haben sich auf lohnendere Tätigkeiten verlegt, falls du verstehst, was ich meine.«

Er legte Kit vertraulich den Arm um die Schultern und schob sie zu einer Ecke eines langen Tisches mitten in der dreckigsten Küche, die Kit je gesehen hatte. Auf jedem freien Plätzchen stand schmutziges Geschirr, Töpfe und Pfannen. Ein riesiger gußeiserner Kessel mit irgend etwas darin blubberte über dem Feuer, so daß es in die Flammen und auf die Herdsteine spritzte. Verschüttetes Wasser, Fett und Essensreste aller Art glänzten auf den Dielen, unter denen ein flacher Kriechboden lag. Durch die Ritzen zwischen den Dielen konnte das meiste von dem Verschütteten nach unten ablaufen. Und aus dem Geraschel unter ihren Füßen schloß Kit, daß nichts davon liegenblieb.

»Ich heiße Piggott, wie in ›Piggotts Gastliches Haus‹. He, Mita, bring der Neuen was von der Suppe, die dir da anbrennt«, brüllte Piggott dem schmalen Halbwüchsigen zu, der sich in der Ecke herumdrückte.

Er wandte sich wieder Kit zu. »Du arbeitest in der Abendschicht; dann sehen wir ja, wie’s klappt. Ein Teller jetzt, und hinterher soviel du essen kannst. Das ist die Grundregel. Falls dir die Arbeit ausgeht, werde ich mir etwas anderes für dich überlegen.« Er sah sie bedeutsam an, bevor er durch die Tür verschwand, die in die Gaststube führte.

»Was ist mit meinem Pferd?« rief Kit ihm nach. »Ich hab’s hinten festgemacht.«

Piggott blieb stehen, um Kit einen Blick über die Schulter zuzuwerfen. »Wenn ich auch noch dein Pferd durchfüttern soll, dann rechne mal damit, daß du auch noch morgen früh bleiben mußt. Ich bin kein Wohlfahrtsverein. Auf die eine oder andere Weise«, er zwinkerte ihr lüstern zu, »mußt du bezahlen, was du kriegst.«

Kit war zu müde, zu ausgelaugt und zu hungrig, um ihm die Schimpfworte an den Kopf zu werfen, die er verdient hatte. Erschöpft sank sie vor dem Tisch auf eine Bank. Der Junge mit dem Namen Mita brachte ihr einen Teller Suppe, den er ihr hinstellte. Kit löffelte sie hungrig in sich hinein, obwohl sie so heiß war, daß sie sich den Mund verbrannte. Immerhin schmeckte es.

Mita hing an der Tischkante herum. Er hatte gelbe Haare, die wie Getreidehalme raschelten, ein pockennarbiges Gesicht und eine rosa Zunge.

»Also«, sagte Kit nach den ersten Löffeln, »wenn du darauf wartest, daß ich dir erkläre, wie gut es schmeckt – es ist gar nicht übel, könnte aber mehr Pfeffer vertragen. Mein Vater hat immer gesagt, im Zweifelsfall mehr Pfeffer. Und Piggott hat recht. Du hast es anbrennen lassen.«

Offenbar enttäuscht zog der Junge seine rosa Zunge ein und drehte sich wortlos um. Als er zum Herd ging, fiel Kit auf, daß er leicht hinkte. Aus irgendeinem Grund erinnerte er sie an Raistlin, wodurch er Kit sofort sympathischer wurde. Es war besser, hier einen Verbündeten zu haben als einen Feind, überlegte Kit ganz vernünftig.

»Ich heiße Kitiara«, rief sie ihm etwas umgänglicher nach. »Du bist doch nicht etwa der Sohn von diesem Deppen? Ich hoffe nicht. Ich wäre lieber seine Sklavin als mit ihm verwandt.«

Mita drehte sich zurück und verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. Er war fast so schmierig wie die ganze Küche, aber sein Lächeln war offen und herzlich. »Ich bekomme ein bißchen Lohn und mein Essen. Schlafen tue ich in der Scheune.«

»Heute nacht«, sagte Kit, die sein Lächeln erwiderte, »schlafe ich auch in der Scheune.«

Sie widmete sich wieder ihrer Suppe, von der sie jetzt den Rest herunterschlang. Mita ging nach draußen, um sich für sie um Cinnamon zu kümmern, und als er wiederkam, hatte sich Kit bereits an die Arbeit gemacht und stapelte das Geschirr in einem leeren Holzbottich.

»Hol erst mal Wasser aus dem Brunnen im Hof«, befahl sie. »Bring gleich zwei Eimer, wenn’s geht. Wir müssen hier mal richtig aufräumen.«

Mita zögerte einen Augenblick, als ob er mit sich ringen würde, ob er die Autorität akzeptieren sollte, die Kitiara sich anmaßte. Er war ungefähr so alt wie sie, eher ein oder zwei Jahre älter.

Langsam wurde das Stimmengemurmel im Gastraum lauter, denn die Leute kamen zum Abendessen. Mita zuckte mit den Schultern, nahm zwei Eimer und lief nach draußen.

Bald schrie Piggott Zahlen hinein, und Kit und Mita gaben sich alle Mühe mitzuhalten. Es gab jeden Abend nur ein Gericht, immer irgendeine Suppe, und die Zahlen sagten ihnen, wieviel Teller sie auftischen sollten. Schon kurz darauf waren Mita und Kit damit beschäftigt, die Teller zu füllen, ob sie nun vorher gespült worden waren oder nicht.

»Keine Sorge, keiner erwartet Reinlichkeit, wenn er bei Piggott ißt«, erklärte Mita Kit gutgelaunt, während er mit einem gebrauchten Teller hereinfegte, ihn mit einem schmutzigen Tuch auswischte, welches ihm an der Hüfte hing, und eine Portion für den nächsten Gast auflud.

»Jedenfalls nicht die Leute von hier. Die, die sich beschweren, sind meist Durchreisende und kommen sowieso kein zweites Mal. Das hier ist meilenweit der einzige Ort, wo man etwas Warmes zu essen kriegt.«

Während Kit mit leeren und vollen Suppentellern zwischen Küche und Gaststube hin und her flitzte, hatte sie kaum Zeit, sich vorne umzusehen. Am einen Ende des Raums, bei der Küchentür, stand der Schanktisch, wo Piggott Getränke ausgab und Bestellungen annahm. Unten am Boden standen dicht an dicht bunte Flaschen, und in Augenhöhe waren billige, gerahmte Malereien von verschneiten Berggipfeln und rauschenden Wasserfällen aufgehängt.

Die Kundschaft bestand größtenteils aus Zwergen, und dazu kamen ein paar schmutzstarrende Menschen. Zum größten Teil waren es Bergarbeiter oder Holzfäller; ein paar gehörten zu den Straßenbauern, wie man an ihren reichbestickten Kleidern, den Rucksäcken und den Werkzeuggürteln erkennen konnte. Die Stimmen waren schrill, und wenn Kitiara an den Tischen vorbeikam, konnte sie nur Fetzen der aufgeregten Gespräche auffangen.

»Das war ein abgekartetes Spiel, ein verdammter Trick, wenn du mich fragst… «

»Es heißt, Sir Gwatmeys Sohn selbst wäre umgekommen…«

»Ich glaub’s trotzdem nicht und werde es erst glauben, wenn ich auf den Beweis spucken kann…«

»Trink lieber noch einen von dem Zeug da, dann schläfst du ein und machst dir gleich hier in die Hosen…«

»Gehst du wieder an die Arbeit…?«

»Wofür hältst du mich, du Gossenzwerg? Ich laß mich doch nicht an der Nase herumführen…«

Kitiara spitzte die Ohren, während sie sich unbefangen zwischen den schimpfenden Gästen hindurch schlängelte, denn ihr schenkte niemand große Aufmerksamkeit. Und niemand versuchte, die junge Frau mit dem Verbrechen – oder dem miesen Trick, wie manche sagten – in Verbindung zu bringen, das sie alle in Aufruhr versetzt hatte: dem Überfall auf die Boten mit der Lohntruhe für die Straßenbauer.

»Irgendwer hat sich mit einem Vermögen abgesetzt«, erzählte Mita, als der größte Andrang vorbei war und sie Zeit zum Reden hatten. »Die Zwerge glauben, daß alles getürkt ist, damit sie noch etwas länger umsonst arbeiten. Zwerge sind von Natur aus schlau und mißtrauisch«, fügte er wissend hinzu, »und sie lassen sich nicht gern zum Narren halten.«

»Gab es Verletzte?« fragte Kitiara unschuldig – zumindest hoffte sie, daß die Frage unschuldig klang.

»Nur ein junger Edelmann«, meinte Mita schulterzuckend. »Die Räuber haben ihn gleich umgebracht, allerdings so, als wenn es ein wildes Tier war, was einer der Gründe ist, warum den Zwergen das Ganze verdächtig vorkommt. Eins steht fest: Zwerge arbeiten nicht auf Pump, und diese Straße wird jetzt nie zu Ende gebaut.«

»Wird da nicht Piggotts Wirtschaft drunter leiden?« fragte Kit.

»Ein bißchen«, räumte Mita ein. »Am Anfang. Aber es gibt anscheinend endlos viele Zwerge und Wanderer. Und wer in dieser Gegend eine warme Mahlzeit, harte Getränke und« – er senkte seine Stimme etwas entschuldigend – »weibliche Gesellschaft will, der muß nach Stumpfhausen kommen.«

Kit und Mita hatten Suppe serviert, bis der gußeiserne Kessel fast leer war und Piggott die Küche für geschlossen erklärte. Zu diesem Zeitpunkt war die Zahl der Gäste im Schankraum bereits beträchtlich zusammengeschrumpft.

»Nach dem Essen bleiben nicht viele Gäste«, vertraute Mita ihr an, der in der Küche herumhinkte und leere Teller zum Abwaschen auftürmte. »Piggott tut Wasser ins Bier, und das machen sie auf der anderen Seite vom Dorf nicht.«

»Auf der anderen Seite?« fragte Kit. »Ich dachte, du hättest gesagt, daß es nur hier etwas Warmes zu essen gibt?«

»Das stimmt auch«, sagte Mita, während er abermals die Stimme senkte, »das Wirtshaus da drüben ist… na, du weißt schon… wovon Piggott es vorhin hatte. Frauen, die sich an Männer verkaufen. Sogar an Zwerge, wenn sie bezahlen können.«

Mita lief rot an. Kit warf ihm einen verächtlichen Blick zu, denn sie war nicht im geringsten beleidigt oder beschämt. Mita machte sich am Feuer zu schaffen. Piggott war vorne in der Gaststube eingenickt. Es waren nur noch ein oder zwei Gäste da, die über ihren Krügen hockten. Piggott hing durchdringend schnarchend ausgestreckt über einem Tisch.

»Kümmer dich nicht um den«, sagte Mita zu Kit, die an der Tür zu dem großen Raum stand und den fetten Wirt anstarrte. »Meistens wacht er in dem Moment auf, wo der letzte Gast geht, und schließt dann zu. Wir können jetzt verschwinden. Wir haben einen Zwerg, Paulus Zugbrücke, der morgens normalerweise aufräumt. Heute früh ist er nicht gekommen, deshalb sah es hier schlimmer aus als sonst. Komm schon, ich zeig’ dir, wo du dich hinlegen kannst.«

Mita führte Kit nach hinten, wo ein kleines, niedriges Gebäude stand, das mehr einem Schuppen als einer Scheune glich. Darin war Cinnamon untergebracht, und neben der Stute war noch etwas Platz. Cinnamon wieherte leise, als sie Kitiara witterte. An der Wand lag ein Haufen frisches Heu, und Kit sah, daß Cinnamon reichlich Wasser hatte. Sie war dankbar, daß Mita an alles gedacht hatte.

»Da sind wir. Ich schlafe in der Ecke da. Ich habe noch ein paar Lagen an die Wand gelegt, um den Wind besser abzuhalten.« Mita wühlte im Heu herum und zog etwas heraus. »Wie ich sehe, hast du eine Decke. Hier ist noch eine. Ist nicht viel, aber du wirst beide brauchen, damit dir warm ist.«

Zum Umfallen müde nahm Kit die alte Decke und warf sie dankbar zu ihrer eigenen. Sie war zu erschöpft, um sich noch Gedanken darum zu machen, wo sie schlafen sollte. Darum trottete sie einfach zu der Ecke gegenüber von Mitas, häufte etwas Stroh zusammen und schlief ein, noch bevor ihr Kopf den Boden berührte.Kitiara war auf einen Baum geklettert. Von ihrem. Versteck aus sah sie gebannt zu, wie El-Navar in seiner Panthergestalt den Körper von Beck Gwatmey zerriß. Plötzlich hielt der geschmeidige schwarze Panther inne und sah nach oben, genau zu Kit. Seine leuchtenden Diamantaugen luden sie ein, herunterzukommen und mitzumachen…

Sie fuhr hoch. In ihrer Nase hing Staub vom Heu. Mita kniete neben ihr und rüttelte sie sanft. »Ich habe dich so lange wie möglich schlafen lassen, aber jetzt steht Piggott bald auf, und wenn du bleiben willst, müssen wir uns fertigmachen, damit wir Frühstück auftischen können«, erklärte er.

Kitiara schüttelte den Traum ab, rieb sich den Schlaf aus den Augen und reckte sich gemächlich. Als sie hinter Mita durch den Eingang blickte, erkannte sie, daß es erst kurz nach Sonnenaufgang war. Mißmutig stand sie auf und klopfte sich das Stroh von den Kleidern.

»Schnell!« drängte Mita, der zur Hintertür hinkte.

Kit beschloß, wenigstens zum Frühstück zu bleiben. Sie hatte kein Geld und noch keine Idee, was sie jetzt machen sollte. Piggotts Haus schien Straßentreibgut aller Art anzuziehen, und vielleicht konnte sie hier neue Gefährten finden. Sie würde versuchen, mit dem gräßlichen Mann eine Art Vertrag zu schließen.

Fast hätte Kit ihre Meinung geändert, als sie in die Küche kam und Piggotts schlechte Laune erlebte. Er fluchte in allen möglichen Dialekten, schmiß Geschirrstapel um und trat gegen den Tisch. Ein junger Zwerg – in Zwergenaugen jung – versuchte, den Wutausbruch des Gastwirts nicht zu beachten, während er systematisch Töpfe, Pfannen und Teller außerhalb von Piggotts Reichweite auftürmte.

Piggott bemerkte Kit und wollte wohl etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders. Lieber verschwand er schäumend in den Hinterhof, wo man hören konnte, wie er die Hühner anbrüllte.

Mita schlüpfte einen Augenblick später mit einem Armvoll Feuerholz durch die Hintertür in die Küche. Kit ging hin, um ihm zu helfen.

»Was war denn da eben los?« fragte sie gedämpft, als sie gemeinsam die Flammen anfachten.

»Der Straßenbau ist offiziell abgeblasen«, flüsterte Mita zurück. »Die meisten Zwerge sind nach Thorbardin zurückgekehrt. Genau, wie ich gesagt habe.«

»Der Meister hatte eine gesalzene Rechnung offen, für sich und seine acht Vettern«, warf der Zwerg, der am Geschirrspülen war, über die Schulter ein. »Ist mitten in der Nacht abgezogen und hat schlauerweise vergessen, sie zu begleichen. Heißt Ignius Cinnabar. Ein richtiger Schluckspecht. An seinem einzigen freien Abend säuft er ein halbes Faß leer, und seine Vettern genausoviel – jeder.«

Der Zwerg steckte in einem gefütterten Arbeitsanzug und hatte sich ordentlich mit Spülwasser bespritzt. Seine langen, silbernen Haare waren im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Er hatte hellbraune Augen. Obwohl er dick und arrogant war, wirkte er für einen Zwerg ganz hübsch.

»Früher oder später kommt er zurück«, meinte der Zwerg. »Ignius ist ehrlich; seine Fehler liegen anderswo. Der bezahlt seine Schulden, wenn auch vielleicht erst in ein paar Monaten. Bis dahin kann Piggott schimpfen, soviel er will.«

Kit starrte den Zwerg an, und Mita nahm dies als Hinweis, sie bekanntzumachen.

»Das ist Paulus Zugbrücke. Er ist schon länger hier als ich, und ich bin bald fünf Jahre hier.«

Kit schüttelte dem Zwerg kräftig die Hand. Sein Griff war fester, als sie erwartet hatte, paßte aber zu der Stärke, die aus seinem Gesicht sprach.

»Ich war drüben in Silberloch, als sie das Lager aufgelöst haben«, fügte Paulus erklärend hinzu. »Sie haben auf ihr Geld gewartet, darum konnten sie nichts mehr bezahlen, selbst wenn sie wollten. Aber versucht mal, das Piggott zu erklären. Der glaubt, die ganze Welt wäre nur darauf aus, ihn zu betrügen. Besonders«, er spuckte auf den Boden, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, »Zwerge.«

Dann wusch er weiter ab und räumte das Geschirr zusammen, redete jedoch bei der Arbeit über die Schulter weiter mit Kit und Mita.

»Haben sie einen von den Räubern gefaßt?« fragte Kitiara so unbeteiligt wie nur möglich, während ihr Herz klopfte.

»Nie«, sagte Paulus, »und das werden sie auch nicht. Die sind längst aus dieser Gegend verschwunden. Und auch die, die sie gesehen haben und vielleicht wiedererkennen würden, sind weg. Die Wachen und Arbeiter haben sich schleunigst verzogen. Sie werden für ihr Versagen zur Rechenschaft gezogen, und die Tochter, die den jungen Edelmann nach Abschluß des Straßenbaus heiraten sollte, hat eine hohe Belohnung auf alle Beteiligten ausgesetzt, tot oder lebendig. Es heißt, sie hätte sich irgendwo in einem Turm eingeschlossen und wäre völlig verrückt vor Trauer.«

»Genug geschwatzt!« fauchte Piggott, der unbemerkt durch die Hintertür hereingekommen war. Wütend sah er Paulus an. »Mach du das Geschirr fertig und hör mit dem Gefasel über Zwerge auf. Mita und Kitiara – wenn ich euch heute gnädigerweise ein Frühstück spendieren soll, dann macht euch an die Arbeit. Die Gäste sind schon im Anmarsch.«

Tatsächlich hörte man in der Gaststube Getrampel, das die Ankunft der Gäste verkündete. Paulus setzte angesichts von Piggotts Feindseligkeit eine gleichgültige Miene auf und widmete sich seiner Arbeit. Mita und Kit fingen an, in der Küche herumzurennen und Essen vorzubereiten.

Innerhalb weniger Minuten war alles besser organisiert, teilweise weil Kit sich nicht scheute, den anderen Befehle zu geben. »Paulus, stell das Geschirr nicht so weit vom Bottich weg«, sagte sie zu dem Zwerg. » Und sieh zu, daß du einen zweiten Bottich für die Töpfe und Pfannen findest.«

Der junge Zwerg mit dem Pferdeschwanz tat, was man ihm sagte, obwohl er sie dabei leicht belustigt musterte.

»Mita, so mußt du den Keksteig schlagen.« Kit nahm dem Küchenjungen die Schüssel weg und lieferte eine gekonnte Vorführung. »Und vergewissere dich, daß der Ofen heiß genug ist, bevor du sie reinschiebst, sonst ist es egal, ob du sie richtig vorbereitet hast; dann kommt trotzdem nichts dabei raus.«

Kit haßte diese Art von Arbeit, aber in den Jahren, in denen sie für den Haushalt der Majeres praktisch allein verantwortlich gewesen war, hatte sie gelernt, wie man die Arbeit am besten einteilte und wie man kochte. Auf jeden Fall würde weniger zu tun sein, wenn hier alles vernünftig lief.

In diesem Moment rauschte Piggott in die Küche, den die große Zahl Frühstücksgäste etwas besänftigt hatte.

Trotzdem hatte er rein aus Gewohnheit lospoltern wollen.

Seine Augen verrieten seine Überraschung. Kit nahm den fetten Wirt beiseite.

»Nach dem Frühstück würde ich gern mit Euch reden, ob ich ein Weilchen hier bleiben sollte – gegen Bezahlung.«

Als Piggott sah, wie gut es in der Küche lief, nickte er.

Mita, der die Bemerkung mitbekommen hatte, lächelte in sich hinein.


Piggott erklärte sich einverstanden, Kit zusätzlich zu freier Kost und Unterkunft für sich und Cinnamon jede Woche einen kleinen Betrag zu zahlen.

Etwas Ordnung in die chaotische Küche zu bringen, war für Kit nicht allzuschwer. Mita erwies sich als bereitwilliger und lernfähiger Küchenjunge. Und Paulus Zugbrücke, der ungerührt seine Pflicht tat, leistete gute Arbeit. Mit einem Lächeln und einem Scherz auf Piggotts Kosten konnte Kit die beiden Helfer bei Laune halten, während sie sie zu schnellerer Arbeit antrieb.

Nur langsam konnte Kit etwas Geld sparen, doch falls sie gezwungen wäre, nach Solace zurückzukehren, würde sie sich wenigstens nicht ohne einen Heller zurückschleichen müssen.

Nach einem anstrengenden Tag erwischte sich Kit, wenn sie abends in der Scheune lag, häufig dabei, wie sie an ihr Zuhause und besonders an ihre Zwillingsbrüder dachte. Sie fragte sich, ob Raist in der Zauberschule gut zurechtkam und ob Caramon auch gut auf ihn aufpaßte. Sie genoß diese Woche ohne ihre Geschwister, aber eigentlich war sie schon fast entschlossen zurückzukehren.

Wenn Kit eine Ahnung gehabt hätte, wo ihr Vater steckte, wäre sie dorthin gezogen oder zumindest in die Richtung. Während ihrer ersten Tage im Gasthaus hatte Kit viele Entschuldigungen gefunden, in den Wirtsraum zu gehen, wo sie stets die Anwesenden genau betrachtete. Vielleicht würde sie ein bekanntes Gesicht entdecken – Gregors oder sogar Ursas. Aber nie tauchte jemand auf, den sie kannte.

Hin und wieder kamen grauhaarige Krieger oder umherstreifende Ritter von Solamnia vorbei. Kit drängte sich dann darum, an ihren Tischen zu bedienen. Und wenn sie ein paar Worte wechseln konnte, fragte sie stets, ob sie je von einem gewissen Gregor Uth Matar gehört hätten, dem berühmten Söldner.

Manche hatten von Gregor gehört, jedenfalls glaubten sie es, aber keiner konnte ihr zuverlässig sagen, wo er sich befand.

Nach eine Weile fragte Kit nicht mehr.

Anfangs wurde viel über den Überfall auf Sir Gwatmeys Lohnkistentrupp geredet. Das Wenige, was bekannt war, und die auf nichts basierenden Gerüchte erregten sowohl die Gemüter der Reisenden als auch die der Ansässigen. Aber letztendlich hatte man keinen von den Räubern erkannt, festgenommen oder erwischt. Die Verlobte des jungen Mannes, jenseits der Berge, hatte eine schwindelerregend hohe Belohnung auf die Mördern ausgesetzt – angeblich dreimal so hoch wie der Betrag in der Kiste. Hinter vorgehaltener Hand hieß es, Lady Mantilla hätte sich der schwarzen Magie zugewandt und würde eine ansehnliche Zahl Spione und Zauberer beschäftigen, wenn auch bisher erfolglos.

Kit blieb meistens in Piggotts Haus, denn sie hatte wenig Lust, in Stumpfhausen herumzulungern. Sie hielt es für klüger, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Becks Schwert blieb unter ein paar Büschen liegen, wohin sich keiner freiwillig begab.

Einige Zeit später legte sich das Gerede, bis schließlich niemand mehr über den Raubüberfall sprach. Kit gab die Hoffnung auf, Ursa jemals aufzuspüren und den ihr zustehenden Teil der Beute zu bekommen. Die ganze Sache schien ihr immer ferner. Da sie zum ersten Mal seit Jahren nicht für ihre Halbbrüder zu sorgen hatte und sogar etwas Geld in der Tasche hatte, genoß Kit ihre Unabhängigkeit.

Auch Mitas Gesellschaft trug dazu bei, ihr die Zeit angenehm zu machen. Für sie war der Junge wie ein weiterer kleiner Bruder, auch wenn sie gleichaltrig waren. Obwohl sie den Verdacht hegte, daß Mita ihr gegenüber romantischere Gefühle hegte, war Kit dankbar, daß er nie etwas in dieser Hinsicht äußerte. Rein platonisch schliefen sie jede Nacht wenige Meter voneinander entfernt und fühlten sich sehr wohl dabei.

An einem trüben Nachmittag, als sie zusammen im Hof die Eier von Piggotts Hennen suchten, fragte Kitiara Mita, warum er hinkte.

»Weiß ich eigentlich nicht genau«, sagte er mit gesenkten Augen, weil sie ein unangenehmes Thema angeschnitten hatte. »Hab’ ich schon immer getan. Früher habe ich gar nicht weit von hier bei meiner Großmutter gewohnt. Sie hatte eine Ziegenherde. Wenn ich sie fragte, wie es passiert ist, hat sie mir nicht geantwortet. Sie hat nur den Kopf geschüttelt und irgendwie traurig zur Seite geguckt. Piggott hat vermutet, daß mir bestimmt mal eine große Ziege von ihr aufs Bein getreten ist, und zwar deswegen.«

Mita zog sein Hosenbein hoch, um ihr eine rundliche Narbe an dem verkürzten, rechten Bein zu zeigen, das er schonte. Kit betrachtete die Narbe, war aber kaum davon überzeugt, daß sie von einem Huftritt stammte.

»Was haben deine Eltern gesagt, wenn du sie gefragt hast?«

»Ich hab’ sie nicht gefragt. Hab’ sie nie gekannt. Ich kann mich nur daran erinnern, wie ich bei meiner Großmutter gelebt habe.«

Kit stand dicht neben Mita, und als ihre Augen sich trafen, hatte sie das merkwürdige Gefühl, er würde gleich versuchen, sie zu küssen. Aber der Moment verstrich. Welch ein Unterschied zu El-Navars dreister Selbstsicherheit, mußte Kit unwillkürlich denken.

Piggott war lange nicht so zurückhaltend wie Mita. Mehr als einmal hatte sich der fette, schmierige Wirt lüstern direkt vor Kit aufgebaut und etwas Unverschämtes von sich gegeben. Aber Piggott drängte nie weiter, wenn Kitiara ihn abblitzen ließ. Er wußte, daß sie stets ein kleines Messer dabei hatte, das sie in ihrer Tunika verbarg.

Das eine Mal, wo Piggott ihr doch zu nahe auf die Pelle gerückt und sein heißer Bieratem ihr ins Gesicht geschlagen war, hatte Kit das Messer gezogen und ihm die Spitze gegen seinen gewölbten Bauch gehalten. »Meine Güte, sind wir aber zugänglich«, hatte Piggott gekrächzt, doch er hatte nicht mehr bedrohlich geklungen, seine Stimme und seine Augen schweiften nervös herum, weil er eine Möglichkeit suchte, sich ohne Gesichtsverlust zurückzuziehen.

Piggott hatte gewöhnlich schlechte Laune. Hin und wieder schlug er Mita auf den Hinterkopf und schimpfte ihn aus. Oder wenn der Zwerg, der zu ihrer Mannschaft gehörte, einen Teller fallen ließ oder zu spät kam, kürzte Piggott allen den Lohn.

Eines Morgens im Spätsommer wachte Kitiara mit dem Entschluß auf zu gehen. Eigentlich nicht wegen Piggott – mit dem wurde sie fertig –, eher weil die Aussichten auf Abenteuer in Stumpfhausen mager waren. Sie hatte genug Geld; sie war lange genug von Solace fortgewesen – jetzt konnte sie nach Hause zurückkehren.

Sie erzählte es gleich Mita, und der überraschte sie mit der Erklärung, daß er mitkommen würde. »Ich habe Piggotts Schikanen satt«, meinte er. »Ich habe eine ganze Stange Geld gespart und gehe mit dir.«

»Was ist mit deiner Großmutter?« fragte Kit. »Wird sie dich nicht vermissen.«

»Ach, die ist vor drei Jahren gestorben«, sagte Mita wie selbstverständlich. »Darum habe ich damals überhaupt bei Piggott angefangen und bin hier eingezogen.«

Kitiara erklärte ihm, sie gehe schließlich nach Hause, um sich um ihre kleinen Brüder zu kümmern, und Mita könne nicht mitkommen und bei ihr bleiben, und in Solace würde es ihm sowieso nicht gefallen. Mita antwortete, daß er sie dann eben einen Teil des Weges begleiten und irgendwo unterwegs nach Süden in Richtung Haven abbiegen würde. Kit zuckte mit den Schultern. Mita wurde so aufgeregt, daß Kitiara sich von seiner Stimmung anstecken ließ und auch ganz begeistert war. Gemeinsam eilten sie in der Scheune herum und packten gleich ihre wenigen Habseligkeiten zusammen.

Als Kitiara und Mita später in der Küche vor der eigentlichen Frühstückszeit herumtuschelten und lachten, landete plötzlich auf Kitiaras Rücken klatschend eine Hand. Sie drehte sich um; Paulus starrte sie ungewöhnlich grimmig an.

»Weiht mich in euer großes Geheimnis ein«, sagte der Zwerg mit dem Zopf, dessen Blick zwischen Kitiara und Mita hin und her wanderte.

Sie erzählten ihm von ihrer beabsichtigten Kündigung, und Paulus überraschte Kit seinerseits durch die Mitteilung, daß auch er kündigen und mitgehen würde. Und wenn Mita sich von Kitiara trennen würde, würde Paulus mit dem Jungen nach Süden ziehen. »Ich kann gar nicht erwarten, was der fette Gauner für ein Gesicht machen wird, wenn wir ihm das sagen«, grinste Paulus.

Schon Minuten später konnten die drei das erleben, als sie Piggott umringten und ihm erklärten, daß sie nach dem Frühstück gehen würden. Der beleibte Wirt wurde puterrot und brüllte sie an, und sie warfen ihm ebenfalls Beleidigungen an den Kopf. Dann änderte Piggott seine Taktik und bat sie flehentlich, wenigstens noch ein paar Tage zu bleiben, bis er neues Küchenpersonal gefunden hatte.

»Wie könnt ihr heute gehen?« bettelte er. »Du, Mita. Wie willst du denn reisen? Du hast doch gar kein Pferd!«

»Ich kauf mir eins«, sagte Mita stolz. »Ich habe genug Geld gespart, um drei oder vier zu kaufen.«

»Nein«, sagte Paulus großzügig. »Laß mich dir eins kaufen, mein Freund. Ich habe genug Geld für ein Dutzend!«

»Kit, ist das dein Dank? Mita, ich war doch wie ein Vater für dich. Paulus – «

Ihr Lachen schnitt sein vergebliches Betteln ab.

Piggott änderte wieder die Taktik. Diesmal nahm sein Gesicht einen verschlagenen Ausdruck an. Er zupfte an seinem vernarbten Ohr. »Ich sag’ euch was«, bot er an. »Ich gebe euch zwei ganze Wochenlöhne, wenn ihr noch zwei Tage bleibt. Mehr nicht. Nur damit ich ein paar Vorbereitungen treffen kann. Zwei Wochenlöhne. Dann sind wir quitt.«

Kit, Mita und Paulus sahen einander an. Das Angebot war zu gut, um es auszuschlagen, und sie konnten die Zeit auf jeden Fall nutzen, um Vorräte einzukaufen und ihre Reise vorzubereiten.

»Abgemacht!« sagte Kit und streckte Piggott die Hand hin. Der nahm sie kühl an, wischte seine hinterher an der Schürze ab und befahl ihnen allen dann in knappem Ton, wieder an die Arbeit zu gehen.

Zwei Tage später, am Abend vor dem Aufbruch, zählte Piggott jedem von ihnen zwei Wochenlöhne in die ausgestreckte Hand, einen ordentlichen Haufen Münzen. Der unversöhnliche Mann hatte während der letzten zwei Tage kaum noch mit ihnen geredet und kam auch nicht heraus, als die drei am nächsten Morgen noch vor Sonnenaufgang aufbrachen.

Kit tat es gut, nach all der Zeit wieder auf Cinnamon zu sitzen. Sie hatte nur die paar Dinge dabei, mit denen sie damals aufgebrochen war, dazu den Geldbeutel mit ihren Ersparnissen und Becks Schwert, das sie aus seinem Versteck geholt hatte. Das Schwert war immer noch eingepackt, doch Paulus’ Blick verriet, daß er vermutete, daß Kit eine wertvolle Waffe auf dem Rücken trug.

Mita ritt einen Palomino, den er einem alten Förster abgekauft hatte, und Paulus saß auf einem kleinen Pony. Beide Pferde waren mit Bündeln und Taschen beladen, von denen sich einige ausbeulten, während andere verdächtig klimperten. Wo Mita sein ganzes Zeug gehamstert hatte, als sie noch zusammen hinten im Schuppen gewohnt hatten, konnte Kit sich nicht vorstellen. Sie merkte, daß sie ihre zwei Freunde anstarrte.

»Alles gespart«, strahlte Paulus, der ihre großen Augen registrierte. Mita nickte mit breitem Grinsen. Kit schüttelte den Kopf und spornte Cinnamon an.

So beladen kamen sie nur langsam voran. Sie waren erst zwölf oder dreizehn Meilen von Stumpfhausen entfernt, wobei sie durch die Berge und den dichten Wald ungefähr nach Südwesten geritten waren, als sie noch früh am Abend das Nachtlager aufschlugen.

Die drei stritten sich, wer das Abendessen zubereiten sollte, und Paulus – der unwahrscheinlichste Kandidat – gewann. Zu Kits und Mitas Überraschung kochte der gescheite Zwerg in der Bratpfanne ein köstliches Mahl aus beidseitig gebratenen Eiern und Wurstscheiben zusammen. Die anderen beiden waren erstaunt, daß Paulus bei Piggott die ganze Zeit nur Teller gespült und in der Küche geholfen hatte, anstatt seine heimlichen kulinarischen Talente zur Sprache zu bringen.

Alle waren voller Übermut und erzählten sich Geschichten. Lunitari kam hinter einer Wolke hervor. Der Wind drehte und frischte etwas auf, und Cinnamon wieherte. Die drei waren so wenig auf einen Überfall gefaßt, daß keiner von ihnen etwas bemerkte, bis Kit aufsah und drei bewaffnete Gestalten genau außerhalb des Feuerscheins stehen sah.

Augenblicklich sprangen Kit und Paulus auf. »Keine Bewegung!« rief eine irgendwie bekannte Stimme. Sie kam von der größten der drei Gestalten, die am schlechtesten zu sehen war. Trotz des Mondlichts konnte Kit nicht viel von diesem Mann in Mantel und Kapuze erkennen. Wenigstens hatte er eine Männerstimme gehabt.

Der eine von den zwei anderen glitt vor, in der Hand ein Kurzschwert. Seine Kapuze war nach hinten gerutscht und enthüllte pechschwarze Haare, spitze Ohren und ein exotisch anmutendes Gesicht. Kit dachte, daß es sich um Wildelfen handeln mußte. Sie hatte bisher erst sehr wenige gesehen und war gegen die ganze Elfenrasse eher voreingenommen, weil sie fand, sie waren weder so geradlinig wie Zwerge, noch so harmlos wie Kender.

Der Kagonesti mit dem Kurzschwert klopfte eilig die drei Wanderer ab. Bei Paulus fand er einen Dolch und einen kleinen, beschlagenen Knüppel, bei Kit ihr verstecktes Messer. Das Bündel mit dem Schwert übersah er, denn Kit hatte es abgenommen und unauffällig unter Cinnamons Satteldecke festgebunden. Bei Mita, der ganz benommen aufgestanden war, fanden sich keine Waffen.

Der andere Räuber lief zu den Pferden, wo Mita und Paulus ihre angesammelten Schätze abgeladen und auf einen Haufen gelegt hatten. Auch er war ein Kagonesti. Die beiden Elfen redeten in ihrer eigenen Sprache miteinander, die Kit unbekannt war, während die dritte, größere Gestalt schweigend – in Kits Augen nervös – im Hintergrund blieb.

Paulus sah Kit an, doch die zuckte mit den Schultern, weil sie nicht recht wußte, was sie machen sollten. Kitiara begann, sich langsam zu ihrem Pferd zurückzuziehen.

Der Kagonesti mit dem Kurzschwert rief Kit offenbar eine Warnung zu, so daß Mita erschreckt zu ihr hin schaute. Doch die Gestalt im Hintergrund rief den Kagonesti in schlechtem Elfisch etwas zu. Für Kit klang es eindeutig nach: »Kümmert euch nicht um sie.«

Der Kagonesti mit dem Schwert wich zu dem anderen Elf zurück, wobei er die drei Freunde genau beobachtete und sein Schwert auf sie richtete. Kit konnte noch ein paar Schritte rückwärts zu Cinnamon machen. Als der Kagonesti seinen Mitstreiter erreichte, drehte er sich halb von den Gefangenen weg, um dem anderen bei der Durchsuchung der Satteltaschen zu helfen.

Jetzt war Kit am Zug. Sie sprang hinter Cinnamon, zog das versteckte Schwert heraus und mühte sich fieberhaft ab, es aus seiner festen Umhüllung zu zerren. Sie hörte den dritten Mann – inzwischen war sie davon überzeugt, daß er kein Kagonesti war – etwas rufen, bevor er mit einem gefährlichen, gekrümmten Messer losstürmte. Kit spähte über den Rücken ihres Pferdes, während sie das Schwert auspackte, so schnell sie konnte; deshalb bekam sie mit, daß der große Mann auf sie zu raste und ihm ein Kagonesti folgte. Paulus hatte sich auf den Boden geworfen. Mita stand wie gelähmt vor Schreck mit offenem Mund da.

Kitiaras Angriff verblüffte sie. Nachdem sie das Schwert endlich frei hatte, kam sie ihnen auf der anderen Seite von Cinnamon entgegen. Der große Mann keuchte laut und trat zurück. Der Kagonesti rannte weiter, so daß Kit von ihrem Pferd weg ins Freie sprang.

Diese Handlung brachte Mita in Bewegung, der mit einem schrillen Kriegsgeheul, das alle überraschte, lossprang. Trotz seines Hinkens gelang es ihm, auf dem Rücken der großen Gestalt mit Kapuze zu landen, die vor Schreck das Messer fallen ließ. Nachdem sein Arm um den Hals des Mannes lag und ihn würgte, riß Mita die Kapuze herunter, wodurch er niemand anderen als ihren fetten, vernarbten, bisherigen Brötchengeber enthüllte.

»Piggott«, spuckte Kit abgestoßen aus. Das hätte sie sich denken können.

Seine Zunge hing heraus, und Piggott gab sich größte Mühe, sich herumzuwerfen, um seinen Angreifer abzuschütteln. Doch Mita hielt sich hartnäckig fest und war klug genug, mit seinem freien Arm auf das verstümmelte Ohr des dicken Wirts zu schlagen. Piggott schimpfte und fluchte unverständliches Zeug.

Dann ging alles so schnell, daß Kitiara es später schwerfiel, alles zusammenzusetzen.

Der erste Kagonesti hatte sie erreicht, und sie wehrte ihn mit Finten und kurzen, schnellen Ausfällen mit dem Schwert ab. Er war ein geübter Kämpfer, doch Kitiaras blanke Klinge schüchterte ihn ein. Sie reflektierte das Mondlicht und funkelte in ihrer Hand, und Kitiara wußte genau, daß der Kagonesti davor Angst hatte, auch wenn er kaum zurückwich.

Der andere Elf war ebenfalls vorgestürmt, um seinen beiden Gefährten zu helfen. Als er die geradezu komisch kämpfenden beiden, Piggott und Mita, erreicht hatte, fuhr der Wirt herum. Der Kagonesti sprang vor und stach den armen Mita in die Seite. Der Junge schrie auf, verlor den Halt und fiel zu Boden.

Kitiara bekam all das nur aus dem Augenwinkel mit, denn sie hatte eigene Sorgen. Der Kagonesti, der ihr zu schaffen machte, erwies sich als zäh. Es war ihm gelungen, sie rücklings gegen einen Baum zu drängen und gleichzeitig ihren immer wilderen Hieben aus dem Weg zu gehen. Jetzt konnte sie nicht mehr weiter zurück, und er kam näher.

Der andere Kagonesti kam ihm zur Hilfe und rief etwas in ihrer unverständlichen Sprache.

Piggott richtete sich gerade auf, um Luft zu holen, als ihm von unten sein eigenes Messer fest und tief in den dicken Wanst gestoßen wurde. Der gräßliche Mann schrie auf vor Pein. Als er sprachlos nach unten sah, schlitzte ihm sein bestes Küchenmesser den Bauch bis hinauf zum Brustbein auf. Paulus umklammerte den Griff.

Der erste Kagonesti beging den Fehler, sich nach dem Geschehen hinter sich umzusehen, und ehe er sich versah, war Kitiara vorgesprungen und hatte ihn tief und tödlich ins Herz getroffen.

Jetzt kam Paulus angerannt, in der einen Hand einen großen Stein vom Lagerfeuer, in der anderen das Messer. Sein Gesichtsausdruck war furchterregend.

Der zweite Kagonesti hatte innegehalten, sich leicht gedreht und hielt jetzt sowohl die junge Frau als auch den Zwerg auf Abstand, indem er sein Schwert mit der Spitze nach vorn vor sich hielt. Er war eindeutig in Panik.

Langsam kamen Kitiara und Paulus näher. Überraschend plötzlich schoß der Elf mit drohend erhobenem Schwert auf sie zu. Als sie den nötigen Schritt rückwärts machten, wirbelte er herum und verschwand so schnell im Gebüsch, daß sie kaum reagieren konnten.

Eine kleine Ewigkeit lang standen Kit und Paulus da und sahen ihm nach, doch sie sahen und hörten nichts mehr. Schließlich ließ der Zwerg seine Waffen fallen.

Nachdem sie den Leichen alles Wertvolle abgenommen hatten, ließen Kitiara und Paulus Piggott und den Kagonesti für die wilden Tiere liegen. Mita hingegen begruben sie so gut wie möglich unter einem flachen Hügel aus Zweigen und Blättern.

»Er war dumm«, meinte Paulus, als er mit vor Trauer zitternder Stimme am Grab stand.

»Nein, er war mutig«, sagte Kitiara.

Sie ritten noch zwei Tage nach Süden, wobei sie Mitas Pferd und all seinen Besitz mitnahmen. Auf einem hohen Paß, wo die Berge sich teilten und zwei Straßen in verschiedene Richtungen abgingen, beschlossen sie, sich zu trennen. Kit hatte Paulus bedrängt, alle Sachen von Mita mitzunehmen, doch der wollte nichts davon hören. Sie war ihrerseits nicht auf das aus, was ihr Freund hinterlassen hatte, so daß sie dort oben dem Palomino des Jungen alles abnahmen und dann das Pferd freiließen.

Von hier aus konnte man in eine enge, tiefe Schlucht sehen, in die Paulus Stück für Stück all die sorgfältig gepackten Taschen und Bündel hinunterwarf, immer so weit wie möglich über die steilen Wände des Abgrunds. Sie konnten sie nicht aufschlagen hören.

»Irgendwie Verschwendung«, sagte Kit.

»Sein ganzes Leben war verschwendet«, antwortete Paulus, der zur Seite sah.

»Wo willst du hin?« fragte Kit, als sie wieder zu Cinnamon zurückging und den Aufbruch vorbereitete.

»Weiß nicht«, sagte Paulus, der bereits aufstieg. »Irgendwo anders hin, das steht fest.«

»Tust du mir einen Gefallen?« fragte Kit ernst. »Erzähl niemandem von, ähm, dem Ganzen hier… aber vor allem nicht von meinem Schwert.« Sie griff nach unten und tätschelte die wertvolle Waffe. Die eingewickelte Klinge hing an dem Sattel, den sie Piggotts Pferd abgenommen hatte.

»Mach ich«, sagte Paulus und sah ihr ins Gesicht. »Und ich frage auch nicht, warum.«

»Viel Glück«, sagte sie.

»Viel Glück!«

Paulus ritt als erster los. Sein Verhalten war so unverbindlich wie bei ihrer ersten Begegnung. Kit saß auf Cinnamon da und sah zu, wie der gutaussehende Zwerg mit dem Zopf auf den schmaleren Pfad nach Westen, zur Hauptstraße, verschwand. Nach einer Weile galoppierte sie dann in Richtung Solace los.

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