Für Caramon war es ein schöner Tag. Den ganzen Morgen buk seine Mutter Sonnenblumenbrötchen, und er half dabei. Naja, sozusagen. Er hing Rosmund am Rockzipfel, und jedesmal, wenn sie einen Rührlöffel nicht mehr brauchte, leckte er die Geräte sauber. Sein Gesicht und die kleine Tunika waren voller Teigspritzer; sogar in den Haaren hatte er die honigfarbene Masse verschmiert. Und als die Brötchen fertig waren, aß er ganz freiwillig so zwölf bis siebzehn Stück. Caramon zählte nicht mit – er war sowieso nicht gut im Zählen.
Nach dieser gewaltigen Anstrengung fühlte sich sein Magen etwas voll an.
»Puuuhhh«, sagte er, wobei er sich seinen runden Bauch rieb. »Mutter, findest du nicht, daß es mir gut täte, jetzt spielen zu gehen?« Er grinste seine kränkliche Mutter an, die strahlend zurücklächelte. Rosamund hatte beste Laune.
»Sicher, Liebling, aber lauf nicht zu weit weg. Ich muß noch ein bißchen nähen und flicken.«
Weil er sich an sein Versprechen erinnerte, sich um sie zu kümmern, warf Caramon noch einen Blick über die Schulter, um sich zu versichern, daß es seiner Mutter gutging. Dann eilte er los. Rosamund summte vor sich hin, während sie die Töpfe und das Geschirr abwusch.
Draußen kletterte der Sechsjährige eine Strickleiter zu dem Platz direkt unter ihrer Hütte hinunter, wo er und Raist manchmal in Rufweite der Mutter spielten. Außer einem gelegentlichen Wanderer auf der Hauptstraße, den er durch die Vallenholzbäume sah, war niemand da. Also stampfte Caramon herum und trat Äste und Steine beiseite, um einen Platz zum Graben frei zu machen.
Beim Herumsuchen fand er mehrere dicke Stöcke, die er zum Hacken, zum Schaufeln und als Keile brauchbar fand. Er wußte, daß er einen größeren Vorrat brauchte, weil sie leicht brachen.
Eine gute Stunde lang buddelte Caramon höchst zufrieden nach vergrabenen Schätzen (sein Vater hatte ihm erzählt, daß man Schätze manchmal an den unwahrscheinlichsten Stellen fand). Anschließend stand der kleine Junge schweißgebadet, zerkratzt und schmutzig bis zum Bauch in einem Loch, das fast zwei Fuß tief war. Zufrieden betrachtete er sein Werk. Er hatte noch keinen Schatz gefunden, aber er war weiterhin zuversichtlich.
Als Caramon gerade weitergraben wollte, kam eine Horde Jungen in seinem Alter, von denen er einige aus der Schule kannte, laut rufend vorbeigerannt.
»Wo lauft ihr hin?« rief Caramon einem zu, den er erkannte.
»Holzapfelkrieg!« erwiderte der Junge, ein sommersprossiger Achtjähriger, der die Gelegenheit nutzte, um keuchend eine Pause einzulegen. »Komm mit!«
»Au ja! Aber laß deinen schlappen Bruder hier!« fügte ein anderer hinzu, der rutschend zum Stehen kam und fast den ersten über den Haufen gerannt hätte.
Caramon kletterte die Strickleiter hoch, um nach Rosamund zu sehen. Er fand sie auf der kleinen Veranda vor der Hütte sitzen, wo sie neben einem Stapel Kleider die Sonne genoß, während sie ein Kleid säumte. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht winkte ihm seine Mutter sorglos zu, daß er ruhig gehen sollte.
Eilig rannte er der Bande Jungs hinterher, die sich etwa zehn Minuten von Caramons Haus entfernt bei einer kleinen Baumgruppe versammelt hatten. An den tief herunterhängenden Zweigen hingen kleine, feste, grüne Holzäpfel, die die Jungen zu Dutzenden pflückten und auf dem Boden zu Stapeln aufschichteten. Mit dieser »Munition« stopften sie sich Taschen, Beutel und Rucksäcke voll und trugen darüber hinaus so viele wie möglich in jeder Hand.
»Da bist du ja, Caramon. Mach schnell! Du bist unser Anführer«, schrie eine Gruppe der Jungen. Sie hatten sich bereits in zwei Armeen aufgeteilt.
Caramon, der – im Gegensatz zu seinem Zwillingsbruder – sehr beliebt und bei Kriegsspielen sehr gefürchtet war, wurde zum »General« gewählt, obwohl mehrere Acht- und sogar Zehnjährige in Betracht kamen. Der andere General, ein breitschultriger Zehnjähriger namens Ranelag, war volle zwei Köpfe größer als Caramon.
Nachdem sie an entgegengesetzten Enden des Holzapfelwäldchens Stellung bezogen hatten, stürmten die gegnerischen Parteien beim vereinbarten Zeichen aufeinander los. Caramon rannte kreischend vor seiner Armee her, die etwa ein halbes Dutzend Jungen zählte, und kommandierte sie herum.
»Willem, du läufst da lang. Lank, paß auf, was hinter dir los ist. Wolf, nimm ein paar Holzäpfel und kletter auf den Baum da.«
Er führte den Angriff an und warf die kleinen Äpfel, so schnell und fest er konnte. Caramon traf gut, und er wich geschickt dem Apfelhagel aus, der ihm entgegengeprasselt kam. Der Sinn des Spiels war, so viele Treffer wie möglich zu erzielen und sich dann zurückzuziehen, bevor man an die Schulter, am Schienbein oder – noch schlimmer – am Schädel angeschlagen wurde. Es war kein Spiel für Muttersöhnchen.
Der Holzapfelkrieg zog sich fast den ganzen Nachmittag hin. Hin und wieder mußte einer die Seite wechseln, weil ein anderer nach Hause mußte, und hin und wieder gab es Pausen, in denen sich alle ausstreckten und in die sauren Früchte bissen. Doch die meiste Zeit hieß es Angriff und Rückzug, Angriff und Rückzug, Angriff und Rückzug, immer wieder, bis die Sonne unterging.
Caramon hatte sich als fähiger, mutiger Taktiker erwiesen. Er konnte mehr Beulen und blaue Flecken von gut gezielten Holzäpfeln vorweisen als die anderen, ganz zu schweigen von den Fruchtfleischresten und den Saftflecken. Während der Pausen hatte der Anführer ein paar Holzäpfel zuviel verschlungen, so daß er leichtes Bauchgrimmen hatte.
Er und Ranelag, der einem von Caramons besten Würfen eine deutlich sichtbare, blutige Beule auf der Stirn zu verdanken hatte, erklärten den Krieg für unentschieden. Zum Zeichen des Waffenstillstands schüttelten sie sich die Hand.
»Das war ein guter Kampf. Auf daß wir eines Tages wieder gegeneinander kämpfen«, sagte Caramon mit dem Ernst, den ein echter Krieger seiner Meinung nach verspüren mußte, wenn ein heftiger Zweikampf zu Ende ging. Dann stieß er einen Juchzer aus, was ihm lauten Jubel von den Überlebenden beider Seiten einbrachte.
Es war schon fast Abendbrotzeit, und Caramon bemühte sich, halb hüpfend, halb rennend, schnellstens nach Hause zu kommen. Er war ausgepumpt und voller Blessuren und verspürte, ehrlich gesagt, schon wieder leichten Hunger. Seine Kleider waren zerrissen, die goldbraunen Haare klebten ihm an der Stirn. Angetrockneter Teig, Dreck, Holzapfelstückchen, Kratzer, Risse und lila Beulen erzählten von seinem ereignisreichen Tag.
Als Caramon in Sichtweite der hohen Vallenholzbäume, auf denen sein Zuhause stand, um eine Ecke bog, hörte er einen Hilfeschrei. Augenblicklich dachte er an seine Mutter, aber der Schrei kam aus der anderen Richtung, von einer niedrigeren Baumgruppe, nicht aus der Hütte.
Als er hinlief, sah er ein Mädchen in seinem Alter, das dastand und in die höheren Äste eines Baums blickte. Sie war niedlich und hatte kleine Grübchen, aber ihr Gesicht war tränenüberströmt. Nachdem auch Caramon hochgeschaut hatte, sah er ein kleines Kätzchen in den Zweigen ganz oben im Baum hocken.
»Mein Kätzchen!« klagte das Mädchen und zeigte für Caramon nach oben. »Mein Kätzchen sitzt da oben im Baum fest!«
Caramon sah wieder stirnrunzelnd nach oben. Er war schrecklich müde, und der Baum sah schrecklich hoch aus.
»Es ist so ein hoher Baum«, fuhr das Mädchen fort, das sich umdrehte, um Caramon besser flehend ansehen zu können. »Ich würde ja selbst hochklettern, aber ich komm’ nicht an die ersten Zweige dran. Mein Kater heißt Zirke. Ich fürchte, er sitzt da oben für immer fest.« Sie begann zu weinen und schluchzte und schniefte. Caramon stand verlegen neben ihr, weil er sie trösten wollte, aber nicht wußte, was er machen sollte.
»Du siehst aus, als wenn du gut klettern kannst. Glaubst du, du kannst ihn runterholen?«
Angesichts ihres Bettelblicks warf sich Caramon leicht in die Brust und vergaß vorläufig Hunger und Müdigkeit. Wieder sah er zu dem maunzenden Kätzchen hoch. Dann zog er sich mannhaft die Hosen zurecht, griff fest nach einem der unteren Äste und begann hinaufzuklettern.
Nachdem Kitiara und Gilon gegangen waren, folgte der Zaubermeister Raistlin in den kleinen, spartanischen Anbau und wies ihn an, sich auf einen der Stühle zu setzen. Dann rief Morat einen jungen Mann in einfachen Arbeitskleidern her, dem er erklärte, daß der Zaubermeister den Vormittag über nicht gestört werden dürfe. Der Mann – anscheinend eine Art Diener – nickte und ging, wobei er die Tür zur Bibliothek hinter sich zumachte.
Hinter dieser Tür vernahm Raistlin hin und wieder das leise Kommen und Gehen von Morats Schülern, die Zugang zu den Schätzen der Bibliothek hatten. Ihre Gespräche fanden im Flüsterton statt. Zweifellos waren sie nicht gerade darauf aus, den Zaubermeister zu stören. Raistlin nahm an, daß das meiste Lernen in den Räumen entlang des langen Korridors stattfand.
Der Raum, in dem sich Morat und Raistlin aufhielten, war völlig unauffällig. Kalksteinwände ohne Fenster, Farbe oder Wandschmuck. Selbst Klein-Raist begriff, daß es darum ging, möglichst jede Ablenkung auszuschalten, um eine bessere Konzentration zu erreichen. Morat befragte ihn mehrere Stunden lang bis in den frühen Nachmittag hinein. Er fragte nicht gerade Wissen ab, sondern eher philosophische Dinge, was die Antworten nicht leichter machte.
Vielleicht gab es auch keine richtigen Antworten.
Auf jeden Fall schien Morats Interesse an Raists Reaktion auf die Fragen fast ebenso groß zu sein, wie sein Interesse an der möglicherweise richtigen Antwort. Die schwarzen Augen des Zaubermeisters durchbohrten den kleinen Jungen gnadenlos. Raistlin, der kein Mittagessen bekommen hatte, wurde regelrecht schwindelig vor Hunger, aber er kämpfte darum, hellwach zu bleiben.
»Dafür, daß du bloß ein Kind bist, sagst du schlaue Dinge«, gab Morat irgendwann einmal widerwillig zu, »aber laß uns noch ein wenig über Gut und Böse reden. Ein Zauberer muß beides lernen und verstehen. Nicht nur das Offensichtliche – die Unterschiede –, sondern auch das Ähnliche. Was ist beiden gemeinsam? Wie würdest du, Raistlin, das Böse beschreiben?«
Jeder andere Sechsjährige hätte sich bei einer solchen Fragestellung bestimmt verwirrt am Kopf gekratzt. Doch Raist war ein Einzelgänger, der körperlich nicht der kräftigste war und wenig Spielkameraden hatte, so daß er viele Stunden allein verbracht hatte, in denen er über genau solche Dinge hatte nachdenken können. Besonders seit dem letzten Jahr, als er auf dem Markt des Roten Mondes zum ersten Mal ein bißchen einfache Zauberei gelernt hatte.
Zuerst hatte sich der kleine Junge vorgestellt, er würde ein guter Zauberer werden, der Banditen und wildgewordene Unholde bekämpfte, indem er seinen Kopf und seine Begabung genauso leicht benutzte wie Caramon die körperliche Geschicklichkeit, die ihn zum geborenen Kämpfer machte. Zauberer, die sich der Neutralität verschrieben, faszinierten Raistlin, obwohl er bis jetzt wenig über sie wußte. Und über das Böse als Feind des Guten hatte er schon viel gehört.
»Ich glaube, es wäre ein Fehler, das Böse zu genau oder zu einfach zu definieren«, erklärte Raistlin nachdenklich. Trotz seiner Bemühungen klang seine Stimme dünn und müde. »Aber was es auch ist, es ist das Gegenteil vom Guten. Um es also zu kennen, müssen wir auch das Gute kennen.«
»Eine kluge, durchdachte Antwort«, meinte der Zauberer kurz. »Aber jetzt sag mir, wie definieren wir es in Abwesenheit des Guten?«
»Hm«, sagte Raist, »es kann einfach keine echte Abwesenheit des Guten oder des Bösen geben. Das eine kann nicht ohne das andere sein. Sie sind ständig in einer Art Gleichgewicht, die ganze Zeit. Das eine kann mal überwiegen, während das andere schläft, aber keins kann je wirklich fehlen.«
»Kannst du dir kein Beispiel für das Böse vorstellen?« fragte der Zaubermeister.
»Kein reines Beispiel… außer natürlich den Göttern der Finsternis«, fügte der Junge eilig hinzu.
Morat wirkte zufrieden. »Wie erkennen wir also das Böse?« hakte er nach.
»Seine Masken sind unzählbar.«
»Aber ein Magier muß sich bemühen, das Böse zu erkennen und zu entlarven, sowohl bei sich und seiner Zauberei als auch bei anderen.«
»Ja«, stimmte Raist zu. »Man muß seine verschiedenen Gestalten lernen. Mehr als alles andere« – er hielt inne, und suchte nach den richtigen Worten – »lernt ein Magier, das Böse zu erkennen. Wer die Weiße Robe trägt, erkennt es als Gegensatz. Eine Schwarze Robe würde es als Verbündeten ansehen.«
»Und eine Rote Robe?«
»Hmm«, meinte Raistlin mit erbärmlich dünner Stimme. »Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube, ich würde sagen, daß eine Rote Robe es als Teil von sich selbst betrachten würde.«
Die letzten paar Minuten hatte Morat gespannt die Augen zusammengekniffen. Der Zaubermeister hatte sogar zum ersten Mal seit Beginn seiner stundenlangen Befragung aufgehört, auf und ab zu laufen, und sich auf einen Holzstuhl gesetzt. Jetzt beugte er sich vor und stieß ein kurzes, bellendes Lachen aus.
»Hah!« rief Morat aus. »Sehr pfiffig. Oberflächlich, finde ich, aber ungeheuer pfiffig für einen Sechsjährigen!«
Raistlin nutzte den kurzen Anflug von Freundlichkeit, um um eine Pause zu bitten. Er war zwar auf das Wohlwollen des Magiers versessen, doch er spurte, daß er es sowieso nicht bekam. »Bitte, Herr«, sagte Raist respektvoll, »könnte ich jetzt wohl etwas Wasser bekommen und meine Brote essen?«
Augenblicklich kehrte Morats unzugängliche Haltung wieder. Er stand schroff auf und ging vom Tisch fort. Dann drehte er sich um, verschränkte die Arme und blitzte den hungrigen, kleinen Buben an.
»Zauberer müssen dazu fähig sein, sich stundenlang ihren Studien zu widmen, ob sie nun hungrig sind oder nicht«, belehrte ihn Morat. »Wenn du nicht mal einen Tag einfache Prüfungen durchhältst, dann bist du noch zu jung, zu sehr Kind, um mit dem Lernen anzufangen.«
Raist war vor Erschöpfung und Hunger schon ganz in sich zusammengesunken. Sein kleines Gesichtchen war fahl und übermüdet, seine Augen tränten. Doch er entschuldigte sich nicht. »Wenn das Eure Antwort ist«, erklärte er hartnäckig, »dann laßt uns fortfahren. Ich nehme an, daß Ihr es mir nicht nachtragen werdet, einfach nur gefragt zu haben.«
Eigentlich war Morat selbst ein bißchen hungrig, auch wenn er das nur ungern zugegeben hätte. Normalerweise machte er mittags eine Pause und nahm ein bescheidenes Mahl mit seinen Lieblingsschülern zu sich. Aber er war fest entschlossen, diesen kleinen Kerl kleinzukriegen, der auf jede Frage eine Antwort hatte. Selbst wenn die Antworten teilweise ungewöhnlich waren, mußte der Zaubermeister zugeben, daß sie wohlüberlegt klangen. Er war gleichermaßen beeindruckt wie verstimmt über den Ernst und den Trotz des Jungen, seine Selbstkontrolle und seine Weigerung, sich unterzuordnen.
»Vielleicht ist jetzt ein guter Zeitpunkt für eine Pause«, lenkte Morat schließlich ein. »Ich lasse dir ein Tablett mit dem bringen, was du aus Solace mitgebracht hast. In der Zwischenzeit muß ich dich allein lassen und mich um meine Schüler kümmern.«
Der Zaubermeister machte die Tür zur Bibliothek auf. Bevor er ging, verharrte er kurz und drehte sich zu Raistlin um. »Du hast zehn Minuten Zeit«, sagte er. »Mehr nicht.«Raistlin aß hastig sein Mittagessen. Er schaffte gerade noch, es mit dem kalten, schäumenden Getränk herunterzuspülen, das ihm der Mann in Arbeitskleidung gebracht hatte, ehe Morat wiederkam.
Der Zaubermeister stand naserümpfend in der Tür, um Raistlin dann mit einer Geste in die eigentliche Bibliothek zu winken. Als der Junge dem Zauberer nach all den Stunden in dem engen Nebenzimmer in diesen großen, kreisrunden Raum mit dem Licht des Teichgrunds und den Bücherregalen folgte, fühlte er sich wie neu belebt und spürte plötzlich eine ungeheuere Aufregung.
Sein Herz klopfte wie wild. Diese wundervolle Bibliothek, die so anders war als alles, was er aus Solace kannte – wie sehr es ihn drängte, all diese Bücher zu lesen und hier die alten Künste zu lernen! Raistlin starrte die Bücher so verlangend an wie andere Kinder Süßigkeiten.
Morat zeigte auf einen Stuhl. Dann ging er zu einem Regal und suchte mehrere Bände heraus, von denen er drei vor Raist hinlegte. Einen anderen, in Leder gebundenen Band legte er gegenüber von Raist neben seinen eigenen Stuhl.
»Öffne das Buch mit der Goldprägung und schlag Seite fünfundzwanzig auf.«
Raistlin sah enttäuscht, daß das fragliche Buch anscheinend grundlegende mathematische Gleichungen enthielt.
Pflichtbewußt begann er zu lesen. Die Minuten zogen sich hin. Morat sagte nichts, sondern saß nur dem Jungen gegenüber und beobachtete ihn genau. Während Raist über die Seiten hinwegflog, schien der Zaubermeister fast zu dösen.
Sein Blick war jedenfalls ausgesprochen verhangen.
Ein leises Klopfen an der Tür riß Morat aus seinen Tagträumen. Unwirsch vor sich hinmurmelnd, stand der Zaubermeister auf und ließ den Klopfenden ein. Die Tür ging auf, doch Raist war sich wieder nicht sicher, ob sie nun mechanisch oder magisch funktionierte. Auf jeden Fall sollte das dem Jungen egal sein. Er hatte zu lesen, also waren alle seine Blicke nutzlos.
Ein dicker Junge in Kitiaras Alter, der die graue Robe eines Zauberlehrlings trug, kam herein. Anscheinend einer der Schüler, denn er schien große Ehrfurcht vor dem Zaubermeister zu haben, während er um die rechten Worte rang.
»Meister«, fing der Junge zögernd an. »Alekno hat, ähem, Probleme mit dem Unsichtbarkeitszauber. Er konnte seine Beine verschwinden lassen, aber das ist leider auch alles. Jetzt sieht es so aus, als wenn er sie nicht wieder zurückzaubern kann. Wir haben versucht, ihm zu helfen, aber wir kriegen nicht raus, was er falsch macht. Würdet Ihr es uns bitte sagen?«
»Alekno paßt nie richtig auf, wenn man ihm etwas sagt, und dann kommt genau so etwas dabei heraus. Am liebsten würde ich ihn mal für ein, zwei Tage halb unsichtbar lassen. Das wird ihn lehren, nächstes Mal besser zuzuhören.«
Der dicke Junge trat unruhig von einem Bein aufs andere, weil er nicht wußte, was er darauf erwidern sollte. Auf seinem Gesicht lag ein flehender Ausdruck.
»Na schön«, meinte Morat wütend. Er stand auf und ging murrend und schimpfend zur Tür. Auf der Schwelle drehte er sich zu Raist um. »Mach weiter. Ich bin bald zurück.«
Raistlin las weiter, wie man es ihm gesagt hatte. Fleißig blätterte der Junge die Seiten um, las von links nach rechts und von oben nach unten, immer mit dem Finger auf den Zeilen, und gab sich größte Mühe, die ganzen Tabellen zu verstehen und sich einzuprägen. Es waren mathematische Grundlagen und Maßeinheiten, aber auch komplizierte Gleichungen, Winkel und Grade und Teilungen. Raistlin las fast eine Stunde lang weiter, doch der Zaubermeister war immer noch nicht zurückgekehrt.
All die Übungen machten den Jungen schläfrig. Für bestimmte Zauber und Situationen würde es wohl hilfreich sein, etwas von Zahlen zu verstehen, aber Raist mußte gähnen, als er die letzte Seite des Buches umblätterte und den vergoldeten Einband schloß.
Immer noch keine Spur von Morat und kein Ton hinter der Bibliothekstür, durch die er verschwunden war. Die Spätnachmittagssonne, die von oben hereindrang, war nicht mehr so hell, und das Licht in der Bibliothek war fahl und gelblich geworden. Zusammen mit der Stille hatte das eine richtig unheimliche Wirkung.
Seufzend griff Raistlin nach einem der anderen beiden Bücher, die der Zaubermeister ihm herausgelegt hatte, dem mit dem abgegriffenen Einband und den krümelnden Seiten. Sofort erkannte er, daß es sich um ein Geographiebuch handelte. Es war voller detaillierter Karten von den vielen bekannten und auch weniger bekannten Teilen von Ansalon. Es gab grobe Klimakarten und Hinweise auf Bodenbeschaffenheit und Höhen, alles ganz exakt von Hand gezeichnet und farbig ausgemalt.
Obwohl dieses Buch lange nicht so dick war wie das Zahlenbuch, war auch dies harte Arbeit, und Raist blätterte die Seiten mit der Zeit immer langsamer um, doch der Zaubermeister kam immer noch nicht zurück. Nach einer weiteren Stunde hatte Raistlin das zweite Buch zu Ende gelesen. Raist sah sich in dem jetzt dämmrigen Zimmer um und griff pflichtbewußt nach dem dritten und letzten Buch vor sich.
Dieses hatte einen schweren Rindsledereinband mit Eisenbeschlägen, so daß Raist beide Hände nehmen mußte, um es aufzuschlagen. Das Pergament der Seiten war sehr dünn und von zarter Struktur und erzählte in winziger, eleganter Schrift die frühe Geschichte der Silvanesti-Nation. Kalligraphien bedeckten die Seitenränder, und die lange, detaillierte Chronik war auf jeder Seite in drei gleichlange Spalten geteilt.
Der kleine Junge, dem langsam die Augen zufielen, begann, die alte Geschichte zu lesen. Doch sein Interesse wuchs, je weiter er kam.
Er wußte nicht viel von der tragischen Geschichte der Elfenrasse, und es waren wirklich nicht so viele Seiten. Aber die Schrift war so winzig und die Tinte so verblichen, daß er in dem nachlassenden Licht seine Augen sehr anstrengen mußte. Es dauerte nicht lange, bis ihm der Kopf auf den Tisch sank. Er war eingeschlafen.
Feuchter, klebriger Nebel umwaberte Raistlins Stuhl. Er war nicht mehr in der Bibliothek. Gerade außer Hörweite von ihm schienen Stimme zuflüstern. Plötzlich erschien seine Mutter. »Komm mit, mein Schatz«, lud ihn Rosamund ein. »Ich werde dich führen.«
Der Junge griff eifrig nach ihrer ausgestreckten Hand. In dem Moment, wo sich ihre Finger berührten, verwandelte sich Rosamund jedoch in ein schreckliches, schleimiges Wesen, das Raistlin mit unwiderstehlicher Gewalt an seine Brust zog. Er geriet in Panik, denn er wurde von Geifer eingehüllt. Verzweifelt kämpfte er gegen das Erstickungsgefühl, rang nach Luft, schluckte aber immer wieder einen Mundvoll von dem ekelerregenden Zeug. Er ertrank in Schleim!
Ebenso plötzlich war der Spuk vorbei. Jetzt war Raistlin wieder zu Hause und hockte auf dem Bett seiner Mutter. Nein, eigentlich teilte er ihren Körper, sah mit ihren Augen, atmete ihre zitternde Atmung.
Kitiara bereitete das Abendessen zu. Caramon warf müßig Zweige ins Feuer. Gilon kam herein. Doch es war gar nicht Gilon. Dieses Wesen hatte Hörner und einen riesigen Kopf. Es überragte Kitiara, streifte die Decke. Ein Minotaurus, erkannte Raist erschauernd.
Der Minotaurus stürmte zu Rosamund hinüber.
Sie schrie und versuchte, den Tiermenschen abzuwehren, der sie – und Raist in ihrem Körper – geschickt in die Laken wickelte. Kit und Caramon schien das weder zu kümmern, noch schienen sie es überhaupt zu bemerken. Während Rosamund ihren Protest laut herauskreischte, schleppte der Minotaurus sie unter dem Arm zur Vordertür hinaus.
Plötzlich hatte Raist den Körper seiner Mutter verlassen und zog sich am Fensterbrett hoch, um in die Hütte zu spähen. Er sah, wie der Minotaurus und Kit einander verschwörerisch zunickten. Als Raist seine ältere Schwester genauer ansah, merkte er, daß sie sich verändert hatte. Sie trug eine Rüstung aus schimmernden, blauen Schuppen. Wenn sie den Mund aufmachte, schossen Flammen heraus. Um den Bauch trug sie einen Gürtel mit dem Holzschwert, das ihr Vater ihr vermacht hatte. Aber als sie es zückte, war es nicht mehr aus Holz.
Der harte Stahl glänzte im Feuerschein. Mit ihrem schrecklichen Schwert näherte sich Kit dem nichtsahnenden Caramon.
Raist klammerte sich wie gebannt ans Fensterbrett, ohne etwas unternehmen zu können. Schließlich begann er mit einer Hand gegen das Fenster zu schlagen und seinem Bruder eine Warnung zuzuschreien. Caramon sah nicht auf, als Kit das Schwert über seinem Kopf schwang. Rosamunds Kreischen war immer noch hinter ihm zu hören. Voller Entsetzen sah Raist zu, wie Kit das Schwert herunterfahren ließ und Caramon den Kopf abschlug. Der blutige Schädel rollte zum Fenster, und da sahen seine weitaufgerissenen Augen endlich Raist. Ruhig und traurig, doch ohne Vorwurf, fragte Caramons Kopf: »Bruder, warum hast du mich nicht gewarnt?«
Die Worte durchbohrten Raistlins Herz. Schluchzend brach er auf dem Boden zusammen.
Raistlin fuhr hoch. Er war eingeschlafen! Rot vor Scham suchten Raistlins Augen das Zimmer ab, doch er erkannte mit einiger Erleichterung, daß er immer noch allein war.
Es mußte bald Zeit zum Abendessen sein, und in Kürze würden Gilon und Kitiara kommen, um ihn abzuholen. Es waren mindestens drei Stunden vergangen, ohne daß er eine Ahnung hatte, wo der Zaubermeister steckte. Wo mochte Morat so lange stecken? Und was sollte Raist jetzt tun?
Alles war still. Die Bibliothek war jetzt praktisch dunkel, nur ein blasser Lichtschein fiel noch von oben herein und erleuchtete die Mitte des Raums.
Gegenüber von Raistlins Platz beschien das Licht neben Morats Stuhl das Buch, das der Meister für sich selbst herausgesucht und bereitgelegt hatte.
Als Raist dieses Buch anschaute, fragte er sich, welche Weisheiten es wohl enthielt. Mit den Fingern trommelnd, griff der kleine Junge über den Tisch, mußte sich jedoch auf seinen Stuhl stellen, um an das Buch zu gelangen.
Dann konnte er die Worte auf dem Einband lesen.
Die Geschichte der Gegenwart bis zum heutigen Zeitpunkt, niedergeschrieben von Astinus, lautete der verheißungsvolle Titel auf der Vorderseite.
Die Geschichte der Gegenwart! Raist fragte sich, was in diesem ungewöhnlichen Buch stehen mochte. Er brannte vor Neugier.
Aber er blieb noch weitere zehn Minuten bewegungslos sitzen.
Als er dann immer noch niemanden hörte oder sah, stellte sich Raistlin wieder auf den Stuhl und lehnte sich über den Tisch, um den Einband zu berühren. Er betastete den Buchrücken, befühlte die herausgehobenen Buchstaben des Titels und strich über die scharfen Kanten der Seiten. Auf seinem Gesicht stand ein drängender, fast gieriger Ausdruck, als ob er sich darauf konzentrieren würde, irgendeine Mitteilung durch die Fingerspitzen zu erhalten.
»Ähem.«
Die Stimme hinter ihm ließ Raist hochschrecken und herumfahren. Vor ihm stand der Zaubermeister und runzelte die Stirn.
Raistlin hatte weder gehört, wie die Türen der Bibliothek sich geöffnet und geschlossen hatten, noch wie Morat hereingekommen war. Der Zaubermeister hatte eine flackernde Kugel dabei, die die Bibliothek in tanzendes, gelbes Licht tauchte. Er glitt um seinen Stuhl und setzte sich, wobei er die Kugel abstellte. Dann griff er betont herüber, um die Geschichte der Gegenwart wieder auf seine Seite des Tisches zu ziehen.
»Was hast du gemacht?« fragte Morat barsch.
»Nun«, begann Raist verlegen, während er wieder auf seinen Stuhl rutschte und Morat in die ärgerlichen, schwarzen Augen schaute, die ihn anstarrten. »Mit dem Buch mit den ganzen Zahlen und Rechenbeispielen war ich vor zwei Stunden fertig, darum habe ich mit den anderen beiden angefangen, die Ihr mir herausgesucht habt, die über Geographie und Elfengeschichte. Die habe ich auch ganz gelesen, und dann« – Raist versagte fast die Stimme – »ich glaube, dann bin ich ein paar Minuten eingeschlafen.«
»Eingeschlafen!« polterte Morat wütend.
»Nur ein paar Minuten«, wiederholte Raistlin leise.
Unheilvolles Schweigen machte sich breit, während jeder wartete, daß der andere noch etwas sagte.
»Ich glaube«, sagte Raist nach langer Pause, »daß ich mir eine ganze Menge aus allen drei Büchern merken konnte. Sicher kann ich fast jede Frage über den Inhalt beantworten. Wenn das das Ziel der Aufgabe war…« Seine Stimme brach ab, weil ihn unter Morats starrem Blick das Selbstvertrauen verließ.
»Nein«, sagte Morat, der ihm grob ins Wort fiel. »Ich meine, was hast du mit diesem Buch gemacht?« Er wies erzürnt auf die Chronik von Astinus. »Dieser überaus kostbare Band ist nur für weitsichtige Augen und nachdenkliche Gelehrte gedacht – nicht für Schüler, und ganz gewiß nicht für Kinder. Dieses Buch hast du deshalb nicht bekommen, weil es nur für mich ist.«
Morat starrte ihn mißbilligend an, und Klein-Raist senkte – endlich sichtlich eingeschüchtert – den Blick.
»Ich habe es nicht aufgeschlagen«, meinte Raist entschuldigend.
»Du hast es gelesen!« beschuldigte ihn Morat.
»Hab’ ich nicht«, erwiderte Raist, der erstaunt aufsah.
»Komm schon, Junge. Was hast du denn dann gemacht?« fragte der Zaubermeister zynisch. Seine Augen beobachteten Raist.
»Ich habe es angefaßt«, sagte Raist, der dem Blick des Meisters wieder standhielt.
»Angefaßt!« höhnte Morat.
»Ja«, sagte Raist etwas sicherer. »Mehr nicht!«
»Darf ich fragen, warum?«
Pause. »Ich weiß nicht, warum«, meinte Raistlin schließlich. »Ich wußte, daß Ihr es für Euch selbst bereitgelegt hattet und daß ich es nicht lesen sollte, aber ich wollte es wenigstens anfassen. Ich wußte nicht, daß das etwas schadet.«
»Du hattest nichts damit zu schaffen«, beharrte Morat.
Raist biß sich wütend und tief enttäuscht auf die Lippe. Nach der ganzen, stundenlangen Anstrengung so zu versagen, bei dieser unerwarteten Prüfung der Selbstbeherrschung! Er hätte am liebsten losgeheult, doch er wollte sich – wie sein Schwester Kitiara – keine Blöße geben, nicht vor diesem hartherzigen Zaubermeister. Diese Genugtuung würde Raist Morat nicht lassen.
»Na schön, Junge, der Tag ist vorbei. Dein Vater und deine Schwester sind da. Ich danke dir, daß du nicht weiter meine Zeit verschwendest.«»Ja, dein Sohn ist begabt, aber ich bezweifle, daß er unser strenges Programm hier körperlich durchsteht. Nach dem Lernen am Nachmittag war der Junge allen Ernstes so erschöpft, daß er über seinen Büchern eingeschlafen ist.«
Morat sprach mit fester Stimme. Er und Gilon saßen am Tisch der Bibliothek, die jetzt ziemlich dunkel war und nur noch von der flackernden Kugel vor dem Zaubermeister erhellt wurde.
Gilon stählte sich. »Er ist vielleicht nicht kräftig«, erwiderte Raists Vater hartnäckig, »aber er hat einen starken Willen, und das hier ist das, was er wirklich will. Um ehrlich zu sein, der Junge würde nicht für einen Beruf taugen, bei dem es auf Körperkraft ankommt. Aber für ihn ist Magie keine Laune. Wenn Ihr ihn nicht nehmt, werden wir anderswo hingehen und versuchen, jemanden zu finden, der ihn unterrichtet. Ich habe mich erkundigt, und soweit ich weiß, gibt es einen Zauberer namens Petrock, der bei Haven eine ausgezeichnete Schule leitet.«
Das war von Gilons Seite her ein Bluff, wenn auch ein geschickter. Er schätzte Morat so ein, daß er bestimmt nicht auf den Ruhm verzichten wollte, der dabei abfiel, wenn er einen so begabten Schüler unterrichtete, und sei er noch so jung.
Das Knistern von Papier unterbrach das Gespräch. Raistlin saß im Schneidersitz mit einem dünnen Buch im Schoß in einer dunklen Ecke vor einem der Bücherregale. Morat schoß hoch, als er sah, was Raistlin tat.
Rasch durchquerte er den Raum und riß Raist das Buch aus der Hand. »Junger Mann, ich dachte, du hättest heute gelernt, daß man nicht mit Büchern spielt, die einem nicht gegeben wurden, besonders mit Zauberbüchern!«
Raistlin sah ihn kalt an. »Ich habe nicht damit gespielt. Ich habe es gelesen.«
Schockiertes Schweigen im Raum.
»Ich habe den ›Zauber, um Wasser in Sand zu verwandeln‹ gelesen«, fuhr der Junge trotzig fort, wobei er befriedigt den erstaunten Ausdruck wahrnahm, der über Morats Gesicht glitt. »Ihr könnt mich als Schüler zurückweisen. Aber ich lasse mir doch nicht die Gelegenheit entgehen, eins Eurer kostbaren Zauberbücher zu lesen!«
Morats Gesicht wurde rot vor Wut. Gilon zeigte in einem seltenen Zornesausbruch auf die Tür. »Das reicht, Raist. Du wartest draußen bei deiner Schwester.«
Als Gilon sich wieder umdrehte, hatte der Zaubermeister seine Wut wieder unter Kontrolle. Morat blätterte ein kleines, reich bemaltes Buch durch und überflog zahlreiche handschriftliche Listen und Pläne.
»Er kann zu Anfang der nächsten Woche herkommen«, sagte der Zaubermeister beiläufig, während er zu einer Schreibfeder griff und Raistlins Namen förmlich auf die Schülerliste setzte.
Gilons Kinnlade klappte nach unten. Trotz gewisser Fähigkeiten von Raistlin war sein Vater sicher gewesen, daß er an dieser angesehenen Schule nicht aufgenommen werden würde. Der Holzfäller bekam kein Wort heraus.
»Wie wirst du zahlen?« fragte Morat, als er aufsah, nachdem er Raistlins Namen in das Büchlein eingetragen hatte.
Zahlen? Das war etwas, womit der Holzhacker etwas anfangen konnte.
»Nun, Eure Lordschaft«, sagte Gilon, der unsicher war, wie man einen Zaubermeister anredete, ihn aber gewiß nicht verärgern wollte. »Ich bin Holzfäller, wie ich heute bereits erwähnte. Und wir verfügen nur über bescheidene Mittel. Ich hatte gehofft, daß ich den, äh, Unterricht zahlen könnte, indem ich Holzscheite für die Schule herbringe. Oder ähnliche Dienste für Euch verrichte, ein faires Geschäft. In Solace wird man Euch bestätigen, daß ich ein ehrlicher Mann bin und meine Rechnungen immer bezahle.«
»Pah!« schnaubte Morat. »Was soll ich mit bündelweise Feuerholz? Ich brauche nur einmal mit den Fingern zu schnipsen« – er hob die Hände, um es vorzuführen – »und schon habe ich alles Holz, das ich brauche. Nicht nur die hiesigen, sondern die seltensten, exotischsten Hölzer von ganz Krynn. Holz!«
Der Zaubermeister funkelte Gilon an, dessen Gesicht rot angelaufen war. Wieder stellte der Holzfäller fest, daß er kein Wort herausbrachte und daß seine Arme nutzlos an den Seiten herunterbaumelten.
»Pah!« wiederholte Morat, der sich wieder an sein Buch setzte und noch etwas zu Raistlins Namen kritzelte. »Ich werde dem Burschen eine Zeitlang ein Stipendium geben«, fügte der Zaubermeister verstimmt hinzu. »Dann werden wir sehen, ob er die Mühe wert ist.«
Bevor Gilon eine Antwort formuliert hatte, war Morat aus dem Raum gefegt und durch eine Tür, die Gilon bisher völlig übersehen hatte, hinter den hohen Regalen verschwunden.
Weil er die flackernde Kugel mitgenommen hatte, war die Bibliothek sofort in trübe Finsternis getaucht. Etwas benommen von dem, was ihm hier begegnet war, wich Gilon zu den Doppeltüren zurück, die zu dem langen Eingangskorridor führten, wobei er sich für alle Fälle ein paar Mal in Richtung des verschwundenen Zauberers verbeugte.
Klein-Raist war so ausgelaugt, daß Kit seinem erschöpften Gesicht nicht ansehen konnte, ob er alles begriff, was Gilon ihm berichtete. Statt dessen konnte der zukünftige Zauberer nicht mehr laufen und war schon wenige hundert Meter hinter Teichgrund in den Armen seines Vaters fest eingeschlafen.
Der Heimweg dauerte über eine Stunde, doch Gilon trug seine Last mit Gleichmut, denn sein Herz war zutiefst erleichtert. Es war eine klare Nacht, wie sie selten vorkam, und weder Kit noch Gilon war es danach, zu sprechen und dadurch die Stimmung zu unterbrechen.
In Wahrheit war auch Kit hellauf begeistert. Seit der Nachricht, daß Raist angenommen war, war ihre schlechte Laune wie fortgeblasen gewesen. Während sie ebenfalls müde vor sich hin trottete, überschlugen sich ihre Gedanken.
Raist wachte auch zu Hause nicht mehr auf, und Kit ließ das Abendessen stehen, das Rosamund zubereitet und warmgestellt hatte. Oben in ihrer Nische lag das Mädchen wach und dachte nach. Jetzt wußte sie, was sie tun würde – Ursa nachlaufen und ihn überzeugen, sie mitzunehmen.
Raist war in der Zauberschule untergekommen, und so mußte sie sich nicht mehr um ihn sorgen. Was Caramon anging, so vertraute Kit auf seine Fähigkeiten als Kämpfer.
Bald würde sie aufbrechen können.
Kitiara beschloß, weder Gilon noch Rosamund etwas über ihre geplante Abreise zu sagen, und nach einigem Überlegen entschied sie sich, auch Caramon nichts davon zu verraten.
Als sie am nächsten Morgen über die Ereignisse des Vortags redeten, erzählte Kit Raistlin, wo sie hinwollte. Aber er mußte ihr versprechen, es niemandem zu sagen, auch wenn sie bereits fort war.
Es war, als hätte es Raistlin schon vorher gewußt. »Kommst du irgendwann zurück?« fragte er. Die Stimme des Sechsjährigen klang gefaßt, doch Kit sah in seinen Augen Tränen glitzern. Es kam ihr vor, als würde eine Hand ihr Herz zusammenquetschen.
»Wahrscheinlich«, sagte sie vage. »Ich will doch sehen, wie meine kleinen Brüder zurechtkommen!« Seine Augen klagten sie an. »Ich muß das tun, Raist. Ich kann mein Leben nicht in dieser Hütte, dieser Stadt verbringen. Das will ich nicht. Das verstehst du doch?«
Zwei Nächte später, als das Licht von Solinari und Lunitari durch die Hütte flutete, schlich sich Kit leise die Leiter von ihrem Kämmerchen herunter. Als sie im Wohnraum stand, begrüßten sie die üblichen nächtlichen Geräusche. Aus dem Nebenzimmer kamen Gilons leises Schnarchen und Rosamunds gelegentliches Stöhnen und Seufzen.
Auf Zehenspitzen schlich sie zu den schlafenden Zwillingen. Caramon, das kleine Abbild seines Vaters, schnarchte traumverloren. Raist, dessen Gesicht im Schlaf entspannt wirkte, lag ganz still. Kit kämpfte mit ihren Gefühlen, während sie beiden Zwillingen die Bettdecke unters Kinn schob.
Kitiara sah sich nicht mehr um, als sie zur Tür ging und in die schimmernde Mondnacht trat.