3 Fest des Roten Mondes

Dank Gilon hatten sie immer genug langbrennende Eichenscheite, die sie nachts aufs Feuer legen konnten. Aber gewöhnlich waren die Flammen irgendwann mitten in der Nacht heruntergebrannt, und besonders in den schlimmsten, eisigsten Nächten wollte keiner aufstehen und über den kalten Boden tappen, um das Feuer wieder anzufachen.

Kitiara schlief lieber in ihrem eigenen Kämmerchen, auch wenn das von der Wärme weiter entfernt war. Eine Etage höher und vom Rest der Hütte durch einen dünnen Mousselinvorhang abgetrennt, war der Speicher für sie ihr privates Reich. Der Preis für dieses eigene Reich konnte ziemlich hoch sein. In den langen Wintern wachte sie morgens meist zitternd zu einer Kugel zusammengerollt auf.

Es gab ein Gnomensprichwort über die grundsätzlich harten Winter von Solace: »Drei Schichten reichen nicht, und immer guckt die Nase raus.« Die Winter schienen unendlich lang, aber wenn es wirklich keiner mehr ertragen konnte, brach praktisch über Nacht der Frühling an und überraschte selbst die aufmerksamsten Bewohner von Solace.

An diesem speziellen Morgen schlief die zwölfjährige Kitiara noch. Sie hatte sich nicht zusammengerollt – ein gutes Zeichen für das anrückende Wetter. Statt dessen war sie sogar lang auf ihrem Strohlager ausgestreckt. Die Füße hingen über das Ende hinaus, ein Zeichen, daß sie langsam aus ihrer Nische herauswuchs. Im Schlaf war ihr Gesicht kindlich, fast sanft, und ganz anders als der kühle, angelernte Ausdruck, den sie – wenn auch nicht immer überzeugend – grundsätzlich als Teil ihres Panzers gegen die Welt aufsetzte.

Alle Weichheit war schlagartig verschwunden, als sie unerwartet grob in die Seite gepiekst wurde.

Aus Kits Mund kam ein ziemlich phantasievolles Gemurmel, und ohne die Augen aufzuschlagen, drehte sie sich zur Wand und zog die Steppdecke fest um sich. Nach einer Pause ging das Pieksen wieder los, diesmal ins Kreuz.

»Geh weg, Caramon«, murmelte sie verdrossen.

Pieks, pieks.

Langsam drehte sie sich zu dem zudringlichen Quälgeist um, immer noch halb im Schlaf und mit trüben Augen.

»Oh.« Ihre Augen flogen etwas überrascht auf, als sie erkannte, daß die kleine Gestalt nicht Caramon, sondern Raistlin war. Dünn und blaß stand der Kleine, dessen ovales Gesicht von hellbraunen Haarsträhnen umrahmt war, an ihrem Bettrand. Er lächelte geheimnisvoll. Lächeln war selten bei Raistlin, diesem ausgesprochen in sich gekehrten kleinen Jungen.

»Ich bin früh aufgewacht…«, fing er schrill an.

»Aha.« Inzwischen sperrte Kitiara leider beide Augen auf und wußte, daß es aus war mit dem Schlafen. Sie stützte sich auf einen Ellenbogen und betrachtete ihren ungewöhnlichen kleinen Bruder, den sie wirklich liebte, obwohl sie ihn mitunter am liebsten erwürgen würde – eigentlich sogar an den meisten Tagen, besonders jetzt.

Ein Blick nach unten verriet ihr, daß der unternehmungslustigere Bruder, Caramon, noch fest schlief. Er lag auf dem Rücken, seine Zehen zeigten in die Luft, und er schnarchte leise. Die kleinen Betten der Zwillinge standen nebeneinander, aber Caramon lag meistens quer über beide Betten ausgestreckt. Kit wußte, daß Caramon am Vorabend lange aufgeblieben war, weil er unter Gilons Anleitung Schnitzen geübt hatte. Mit dieser neuerworbenen Kunst wollte er sich seinen ersten Holzdolch machen.

Raistlin war wie gewöhnlich kurz nach dem Abendbrot ins Bett gegangen, und Kitiara mußte vor dem knisternden Feuer eingeschlafen sein. Der gute, verläßliche Gilon hatte sie wahrscheinlich die Leiter hoch und in ihr Bett getragen.

Kitiara seufzte. Wie spät war es überhaupt? Pieks, pieks.

»Hörst du jetzt auf damit, Raist?«

Er hatte immer noch dieses komische Lächeln auf dem Gesicht. Was machte ihn heute so fröhlich?

»Ich sagte gerade«, meinte er unnötigerweise, nachdem er sich ihrer Aufmerksamkeit wieder sicher war, »daß ein Vogel mit mir geredet hat… «

Kitiara zog mißtrauisch eine Augenbraue hoch. Die Geschichte kam ihr unwahrscheinlich vor – aber bei Raistlin konnte man nie wissen. Das Kind hatte etwas Eigenartiges an sich, etwas Besonderes. Da er nicht viel mit anderen Kindern redete, sprach er vielleicht wirklich mit Vögeln. Aber ob die ihm antworteten? Und was für Vögel gab es überhaupt zu dieser Jahreszeit in Solace?

»Was für ein Vogel?« fragte sie ungeduldig.

»Brauner Vogel«, erwiderte Raistlin achselzuckend, als wäre das völlig nebensächlich. »Weiße Flügelspitzen«, meinte er nach kurzer Pause. »Ist bloß durchgezogen, irgendwo anders hin.«

»Schön. Und was hat der braune Vogel gesagt?« drängte Kitiara, die sich allmählich aufrichtete.

»Hat gesagt, es wird ein ganz besonderer Tag.«

»Ach«, machte sie wenig beeindruckt. »Ganz besonders gut oder ganz besonders schlecht?«

»Hmm«, meinte Raistlin nachdenklich. »Wahrscheinlich gut. Er hörte sich glücklich an.« Seine ältere Schwester fing an, sich die Stiefel anzuziehen. »Allerdings, bei braunen Vögeln«, setzte er dozierend an, »da weiß man nie so recht. Die finden jeden Tag besonders. Sind leicht zu beeinflussen.«

»Optimisten«, sagte Kit trocken.

»Mhm«, stimmte Raistlin zu.

Sie musterte ihn kurz und kritisch. Sein Gesichtsausdruck war eindeutig raffiniert, fast engelhaft. Nun, Raistlin war der phantasievollere Zwilling.

Gähnend griff sie nach ihrer Tunika und zog sie über den Kopf. Caramon – das war der Berechenbare. Wenn der einen braunen Vogel sah, würde er nicht versuchen, mit ihm zu reden. Er würde versuchen, ihn mit einem Netz zu fangen oder mit einem Stein zu treffen. Wenn es irgendwo laut und wild zuging, wußte man, wo Caramon war.

Sie war todmüde, nachdem sie fast fünf Jahre lang hinter den Zwillingen hergerannt war, sich um sie gekümmert und gesorgt und so gut wie möglich erzogen hatte – sie war praktisch ihre Mutter gewesen. Jetzt kam es Kitiara so vor, als brauchte sie einen ganzen Monat Schlaf. Ihr Körper rebellierte, und ihr Geist war oft wie benebelt. Sie haßte den Gedanken daran, wie sie sich nach fünf weiteren Jahren mit solchen Pflichten fühlen würde.

Ihre Mutter hatte sich von der traumatischen Geburt der Zwillinge nie wieder richtig erholt. Rein körperlich schien Rosamund eigentlich nichts zu fehlen, doch sie war mehr im Bett als auf. Seit fünf Jahren aß sie wenig und war nur noch Haut und Knochen. Ihr blaßblondes Haar war gespenstisch weiß geworden. In Rosamunds eingefallenem Gesicht lagen riesige, unheimliche, graue Augen, die in eine unbestimmte Ferne schauten, jenseits dieser Welt.

Nach der Geburt der Zwillinge hatte Yarly Rosamund eine kurze Weile versorgt. Aber Yarly war unerfahrener und noch weniger entgegenkommend als ihre Schwester Minna. Schon bald fand sogar Gilon sie lästig. Sie schuldeten den beiden Hebammenschwestern noch immer eine Stange Geld, und es verging keine Woche, wo Minna nicht vorbeischaute, um das zu erwähnen. Der gutmütige Gilon stotterte die Schuld ganz allmählich ab.

Yarly hatte jedenfalls nicht viel tun können, um Rosamunds geheimnisvolles Leiden zu lindern. Darum behalf sich die Familie jetzt seit langem mit den Mittelchen des Heilers von Solace, einem dicken, vertrauenswürdigen Mann mit stinkendem Atem.

Dieser Mann, Bigardus, kannte Rosamund schon viele Jahre und schien sie wirklich gern zu haben. Als einfacher – Kit neigte zu der Einschätzung »einfältiger« – Heiler hatte er nichts von Minnas Hochmut oder ihren Ansprüchen, was »unerläßlich« war. Er gab zu, daß er keine Ahnung hatte, was Rosamund fehlte, und prahlte nicht mit Allheilmitteln. Aber er versorgte die Familie Majere mit diversen Beuteln und Gläschen mit exotischen Mittelchen, die auf einem kleinen Regal neben Rosamunds Bett aufgereiht standen. Sie schienen ihre wiederkehrenden Schmerzen zu lindern. Hin und wieder kam Bigardus vorbei, um nach Rosamund zu sehen oder einen ihrer Anfälle zu beobachten. Kit mochte ihn. Sie hätte fast sagen können, daß sie sich auf seine unterhaltsamen Besuche freute.

Rosamund konnte monatelang am Rande des Halbschlafs verbringen. Zeitweise wirkte sie fast heiter, wenn sie mit ihren großen Augen alles so ruhig betrachtete, daß man fast vergaß, daß sie da war. Manchmal überraschte sie alle, indem sie sich plötzlich im Bett aufsetzte und die Zwillinge zu sich rief, um ihnen eine Geschichte zu erzählen. So begannen gewöhnlich die seltenen Abschnitte, in denen Rosamund fast normal erschien. Vielleicht stand sie sogar auf, um ihre Sonnenblumenbrötchen zu backen, die Caramon und Raistlin liebten. Mitunter traute sie sich sogar zum Einkaufen oder zu einem Spaziergang in den Wald, jedoch nur, solange Gilon bei ihr war.

Während dieser scheinbar normalen Zeiten widmete Rosamund den größten Teil ihrer kostbaren Kraft den Zwillingen und Gilon. Selten – Kitiara war sicher, daß sie die Male an einer Hand abzählen konnte – verbrachte Rosamund Zeit mit ihrer Tochter. Es war, als wäre sie unsicher, wie sie sich diesem unabhängigen Mädchen gegenüber verhalten sollte, das die meiste Zeit als Ersatzmutter des Hauses auftrat. Zuerst war Kit wegen der scheinbaren Gleichgültigkeit ihrer Mutter verletzt gewesen, doch das hatte sich inzwischen gelegt.

Rosamunds wache Augenblicke endeten ohne Vorwarnung. Kitiara oder Gilon oder einer der Jungen fanden sie auf dem Boden liegend vor und mußten ihr ins Bett helfen. Dann erlitt Rosamund für kurze Minuten oder endlose Wochen einen ihrer Anfälle, in denen sie qualvolle, entsetzliche Visionen erdulden mußte, die jedermann befremdeten.

Eigentlich gebrauchte nur Bigardus das Wort »Visionen«. Woraus sie bestanden und was ihre Mutter tatsächlich sah, konnte Kit kaum erraten. Die Anfälle kamen aus heiterem Himmel. Ganz plötzlich verzerrte sich Rosamunds Gesicht, und sie fuchtelte mit den Armen herum. Manchmal sprang sie sogar erstaunlich kraftvoll aus dem Bett und rannte im Zimmer herum, wobei sie mit einer unverständlichen Wut Möbel umwarf und Sachen kaputtmachte. Die Worte, die sie hervorbrachte, waren wirr und sinnlos. Warnungen, die sie Gregor, den Zwillingen oder Kitiara zubrüllte. Unsinnige Warnungen.

Einmal hatte die verwirrte Rosamund Kitiara mit ihrem Holzschwert gesehen und die Tochter für deren Vater gehalten. Sie hatte senkrecht im Bett gesessen, die Hände ausgestreckt und mit bemitleidenswerter Freude ausgerufen:

»Gregor, du bist zu mir zurückgekommen!«

Als Kit daran dachte, rümpfte sie die Nase. Gregor war schon vor sechs Wintern ohne ein Wort verschwunden.

Wenn Rosamund zu aufgeregt wurde, mußten sie sie manchmal ans Bett binden. Und wenn ihre Mutter – nach Stunden, Tagen oder Wochen – aus einem ihrer Anfälle aufwachte, konnte sie sich an nichts erinnern. Sie sank völlig kraftlos auf ihr Kissen zurück, und ihr schweißnasses, weißes Haar klebte strähnig um ihr Gesicht. Nach einem solchen Anfall, das wußte Kitiara aus Erfahrung, war ihre Mutter noch nutzloser und noch unwichtiger für das Alltagsleben der Familie.

Kitiara hatte sich alles selbst beigebracht – wie man kochte, wie man nähte und flickte, wie man auf die Jungen achtgab und sie erzog. Abgesehen vom Kochen gelang ihr das alles vielleicht nicht allzu gut, aber – bei den Göttern – sie tat es. Und Kit war stolz auf das, was sie getan hatte, stolz auf ihr Überleben, auch wenn sie die Haushaltspflichten haßte.

Kit erinnerte sich, daß sie ihrer Mutter vor langer Zeit eine Art Liebe entgegengebracht hatte. Es mußte Liebe gewesen sein. Was sollte es sonst gewesen sein? Aber heutzutage fühlte sie ihr gegenüber nichts als Mitleid. Mitleid und wachsende Distanz.

»Ein Vogel!« rief Kitiara aus, die überrascht in die Gegenwart zurückkehrte. Wieder sah sie Raistlin an, der sie von der Leiter aus beobachtete, als versuchte er, ihre Gedanken zu lesen. Sie griff hin und knuffte ihn liebevoll ans Ohr. »Du hast mit einem Vogel geredet! Das heißt… «

Sie stürzte an ihm vorbei und schwang sich nach unten. Nachdem sie durchs Zimmer gelaufen war, riß Kit einen Fensterladen auf. Sonnenstrahlen strömten durchs Fenster herein.

Frühling! Sonnenschein, blauer Himmel, duftender Wind und wirklich: Vögel, überall Vögel.

»Frühling!« Zufrieden lehnte sie sich auf die schmale Fensterbank.

»Das versuche ich dir doch die ganze Zeit zu sagen«, meinte Raistlin ernsthaft, der ihr gefolgt war. »Was glaubst du denn, wovon ich geredet habe?«

Sie schaute aus dem Fenster. Der Schnee, der gestern nachmittag noch stellenweise gelegen hatte, war praktisch verschwunden. Der Boden war naß, und überall lugten Knospen und Blümchen heraus. Die Welt war hell und bunt. Von etwas weiter entfernt hörte sie Musik und Gelächter, den Auftakt zu einem Fest. Da fiel ihr ein, daß heute der erste Morgen des jährlichen Marktes des Roten Mondes war.

Begeistert machte sie sich daran, Hosen und Stiefel anzuziehen. Sie stellte fest, daß Gilon bereits aufgebrochen war, zweifellos zum Holzfällen. Jeden Morgen stand ihr Stiefvater bei Tagesanbruch auf und ging an die Arbeit, immer in Begleitung der treuen Amber. Gilon war ein Eigenbrötler und Geheimniskrämer, was sein Holzfällen anging – wie ein Fischer, der seine Lieblingsfangplätze hütet. Er hatte Kitiara nie gebeten, ihn zu begleiten. Darüber war sie allerdings froh. Als einziges von den Geschwistern war der kräftige kleine Caramon einmal eingeladen worden, mitzukommen. Als er von dem Tag im Wald zurückkam, sagte er nicht viel. »Menge Arbeit«, vertraute er Kit und Raistlin an. »Langweilig.«

Rasch durchquerte Kit mit Raistlin im Schlepptau den Raum. Sie spähte durch den handgewebten Vorhang, den Gilon im Eingang zu dem Kämmerchen aufgehängt hatte, das ihm und Rosamund als Privatraum diente. Ihre Mutter schlief noch, stellte Kit nach einem forschenden Blick fest. Gut. Soll sie schlafen. Sie wies Raist an, ruhig zu sein.

Dann schlich sie sich zu Caramon, der immer noch friedlich schnarchte. Raist folgte ihr wie immer. Caramon rührte sich nicht einmal, als sie näher kamen. Dieser kleine Kobold könnte sogar einen Bergrutsch verschlafen, dachte Kitiara.

Sie nahm das Kissen fest in die Hände und beugte sich vor, um nah an sein Ohr zu kommen. Als Kit ihrem kleinen Bruder das Kissen unterm Kopf wegzog, stieß sie einen wilden Schrei aus: »Von Feinden umzingelt!«

Caramons Augen flogen auf, als sein Kopf auf das Kopfteil knallte. Im nächsten Moment war er vom Bett gesprungen und hatte eine kindliche Kampfstellung angenommen. Sein benommener Blick nahm einen etwas dümmlichen Ausdruck an, als er Kitiara auf dem Boden liegen sah, wo sie sich den Bauch hielt. Raistlin lächelte immerhin.

»Aua«, sagte Caramon. »Ich war mitten in einem Traum.«

»Vielleicht träumst du zuviel«, sagte Raist kühl.

Caramon warf ihm einen beleidigten Blick zu.

»Erster Frühlingstag!« verkündete Kitiara. »Der Markt geht los.« Sie war bereits aufgestanden und hielt auf die Tür zu, Raistlin hinterher.

»Was ist mit Mutter? Sollten wir nicht auf Vater warten?« fragte Caramon weinerlich.

Aber Kit und Raist waren schon aus der Tür gelaufen, und Caramon, der mit seinen Kleidern kämpfte, mußte sich beeilen, wenn er sie einholen wollte.


Später am Vormittag brannte die Sonne schon heiß vom Himmel, und jede Erinnerung an den Winter war verflogen. Für jemanden, der während der kalten Monate in Solace festsaß, ganz zu schweigen von denen, die dort ihr ganzes Leben festsaßen –, war dieses erste Frühlingsfest die schönste Zeit im Jahr. Es war ein Tag, an dem sich die Tore des Städtchens wirklich öffneten und an dem es so aussah, als würde der ganze Rest der Welt eintreten und sich fröhlich vorstellen.

Alles Leben in der Stadt spielte sich nicht mehr auf den hohen Hängebrücken, sondern in den unteren Ebenen ab, wo der Marktplatz und die Schmiede lagen. Die Bewohner von Solace liefen auf dem Platz herum, begrüßten Freunde und bildeten Grüppchen, die zu den Nordfeldern außerhalb der Stadt aufbrachen, wo der Markt des Roten Mondes stattfand. Kitiara und ihre beiden Brüder kundschafteten erst den Platz aus, bevor sie sich denen anschlossen, die zum Markt hinüberliefen.

Wo die dicht stehenden Vallenholzbäume aufhörten und der Markt des Roten Mondes begann, blieben Kit und die Jungen einen Augenblick stehen, um alles in sich aufzunehmen – was sie sahen, was sie hörten, die Fremden…

Händler, die ihr ganzes Leben damit verbrachten, auf Ansalon von Fest zu Fest zu reisen, hatten Zelte mit bunten Wimpeln aufgestellt. An Verkaufsständen wurden Wandbehänge, Glasgefäße und Schmuck, unförmige Möbel, Heilkräuter, Kupfergeschirr und Schuhe, Leinen und Kleider feilgeboten – einfach alles. Notare standen mit Wachs und Pergament bereit, um Verträge zu besiegeln; Musikantengruppen drängten sich durch die Menschenmenge; es gab Vorstellungen mit abgerichteten Tieren und Seiltänzern. Überall herrschte Gedränge.

Es war wirklich die Honigseite des Menschenlebens und einiger, die eindeutig keine Menschen waren. Unter den Reisenden, die zu diesem Fest hergekommen waren, befanden sich viele Kinder, ein paar Elfen, dazu Zwerge, die zumeist für sich blieben, und sogar ein einzelner, hochmütiger Minotaurus, von gewaltiger Gestalt, dem überall, wo er hinkam, eine breite Gasse freigemacht wurde.

Caramon war stehengeblieben, und sein Blick klebte auf ein paar Eisensachen. Er hörte zu, wie der Handwerker die Güte seiner Ware anpries, während er sie an seine Zuhörer verkaufte. Da er unterhalb der Blickhöhe des Mannes sicher war, langte Caramon hin, um die kunstvoll gearbeiteten Schnallen und Sporen zu betasten.

Kitiara und Raistlin warteten ein paar Schritte weiter geduldig auf ihn. Kitiara war inzwischen etwas hungrig geworden und durchsuchte ihre Taschen nach Münzen. Skeptisch sah sie einen Stand an, der gebratene Möwe oder Hase und ein grünes Getränk anbot, in dem gehackter Diptam, Gartenraute, Gänsefingerkraut, Minze und Levkojen zusammengemengt waren. Kein Geld. Egal. Sie reckte ihr Kinn in die Luft und atmete mit tiefen Zügen die Gerüche um sie herum ein.

Dann fiel ihr eine Gruppe Männer in kunterbunter Aufmachung auf, die am Rand des Festplatzes standen. Von einem ihrer Pferde rutschte der Sattel herunter, und ein Mitglied der Gruppe, ein dicker, muskulöser Kerl, gab seinem Knappen eine Ohrfeige. Aber es war mehr ein gutmütiger Klaps gewesen, und die anderen Männer lachten lauthals, als der Knappe sich sputete, alles in Ordnung zu bringen. Die Männer achteten nicht auf das bunte Markttreiben. Sie waren zu wichtigeren Abenteuern unterwegs.

Einen Augenblick lang fragte sich Kit, ob sie sie ansprechen und nach ihrem Vater fragen sollte. Vielleicht hatten sie etwas von Gregor Uth Matar gehört oder ihn sogar einmal getroffen. Sie sahen aus wie Halunken, die viel herumgekommen waren. Aber sie zauderte zu lange, und bevor sie sich ein Herz fassen konnte, waren sie bereits wieder aufgebrochen, wobei sie immer noch lachten und herumbrüllten.

Weil sie so versunken in das war, was um sie herum vorging, überhörte Kitiara die dummdreisten Späße und Sprüche der Kinder hinter ihr zunächst. Aber jetzt wurden ihr einige der Kommentare bewußt.

»Na, wenn das nicht Fräulein Holzfäller ist!«

»Bißchen von der mütterlichen Sorte!«

»Nicht gerade eine Schönheit, soviel steht mal fest!«

Sie drehte sich zu einer Horde Jungen und Mädchen ihres Alters oder etwas älter um. Ein paar von ihnen, die sich mit den Ellenbogen anstießen und einander neckten, kannte sie aus der Schule, auch wenn sie sie eine Weile nicht mehr gesehen hatte. Wegen ihrer häuslichen Pflichten und der Erziehung der Zwillinge hatte Kitiara nur wenig Zeit für die Schule gefunden. Um genau zu sein, hatte sie nur überhaupt sehr wenig Zeit für sich selbst, gerade genug für ein paar Augenblicke Tagträumen oder für ihr geliebtes Schwerttraining. Im letzten Winter hatte sie Gilon erklärt, daß sie nicht mehr in die Schule gehen würde. Ihr Stiefvater wußte nur zu gut, daß Einwände nutzlos waren, wenn Kit ihm etwas sagte und dabei auf diese Weise ihre Hände in die Hüften stemmte und die Lippen aufeinanderpreßte.

Einen der Jungen, den Fetten mit dem rosa Gesicht, das von braunen Sommersprossen übersät war, kannte sie schon von früher her gut – ein zudringlicher Kerl namens Bronk Wister. Bronk war der geborene Unruhestifter, Sohn eines Gerbers, mit dem Gilon hin und wieder Tauschgeschäfte machte. Bronks Vater lächelte Kit immer freundlich an, aber sein Sohn hatte es sich in den Kopf gesetzt, daß er ihr überlegen war. Er reizte sie gern mit Anspielungen auf Gilon, Rosamund und die Zwillinge. Um es ihm heimzuzahlen, rief Kit ihn »Flecki«, aus offensichtlichen Gründen.

»Na, das ist doch unser Flecki«, erwiderte sie und stützte in der für sie typischen Weise die Hände in die Hüften.

Der kleine Raistlin neben ihr beobachtete die Gegner wachsam.

»Heute schon ein paar gute Bäume gefällt?« Bronks höhnisches Lachen klang rauh und mißtönend wie der Schrei eines Esels.

»Mal wieder ein paar Spiegel zerbrochen mit deiner häßlichen Visage?« gab sie zurück.

Die jungen Leute jubelten. Sie wollten ihren Spaß haben, und es war ihnen egal, wer die Zielscheibe des Spottes war. Bronk trat mit verächtlicher Miene vor und krempelte die Ärmel hoch. »Ich sollte dir mal eine Lektion erteilen. Was du brauchst, ist eine ordentliche Tracht Prügel. Genau wie jeder Junge.«

Raistlin schaute sich nervös um, konnte Caramon aber nicht entdecken. Instinktiv wich er einen Schritt zurück.

Im gleichen Moment trat Kitiara vor ihn, um ihren kleinen Bruder abzuschirmen.

Kitiaras Lächeln war abschätzig. Flecki vor seinen blöden Freunden zu verhauen, würde den Morgen so richtig abrunden. Ob sie gewann oder verlor, der Kampf würde sich auf jeden Fall lohnen.

Die Jungen und Mädchen feuerten Bronk an, als er langsam vortrat und dabei mit den Fäusten wie mit kleinen Schilden vor seinen Augen kreiste. Kit suchte sich einen guten Stand und erwartete seinen Angriff.

Plötzlich wurde sie von hinten geschubst und, als sie ihr Gleichgewicht verlor, beiseite geschoben. Ein neuer Kämpfer war galanterweise an ihre Stelle getreten.

»Laß meine Schwester in Ruhe!« schrie der fünfjährige Caramon, der seine kleinen Fäuste phantasievoll erhoben hielt. In der einen Hand schwang er einen dicken Ast, der fast so lang war wie er selbst. Kits kleiner Bruder reichte ihr erst gerade bis zur Brust, aber er war stämmig – und mutig – für sein Alter. Seine braunen Augen – kaum zu sehen hinter den strubbeligen, goldbraunen Haaren, die ihm in die Stirn hingen – blitzten vor Wut.

Den Zuschauern gefiel die Wende. Sie brachen erneut in Gelächter, Gejohle und Anfeuern aus. Bronk jedoch starrte sie ungläubig an. »Ach, sie braucht Hilfe von ihrem kleinen Brüderchen. Wie niedlich!«

»Pssst!« flüsterte Kitiara, allerdings nicht besonders leise. »Zurück, Caramon. Das hier ist mein Kampf.«

»Das wäre nicht ehrenhaft«, fing Caramon ernsthaft an und versuchte, sich dabei wie ein großer Krieger anzuhören. Der Robustere der beiden Majerebrüder stapfte vor, um sich Bronk zu stellen, der stehengeblieben war, weil er nicht recht wußte, mit wem oder mit wie vielen er jetzt kämpfen sollte.

Dann kam wieder ein Schubs von hinten, und diesmal stolperte Caramon Hals über Kopf nach vorn, prallte gegen einen Gemüsekarren und brachte diesen gefährlich ins Schwanken. Der Besitzer, der mitten aus einem vielversprechenden Verkaufsgespräch gerissen wurde, stieß einen Fluch aus. Er packte den Jungen am Kragen seiner Tunika und hob ihn hoch, bis Caramons Beine in der Luft baumelten. Das war wirklich das Spaßigste bisher, fand die wachsende Zuschauerzahl.

»Ich werd’ dir schon beibringen, was ehrenhaft ist und was nicht, kleiner Bruder«, schalt Kitiara. »Besonders wenn es um meine Ehre geht.«

Caramon riß sich von dem Gemüsehändler los und klopfte sich würdevoll den Staub ab. Rachsüchtig funkelte er Kitiara an.

»Ich wollte ein Kav… Kav…«

»Kavalier!« flüsterte Raistlin, bevor er sich auf ein Stück Felsen setzte. Er sah mit seinen wäßrigen Augen lange nicht so fasziniert zu wie der Rest der Gruppe.

»Kavalier sein!« rief Caramon mit einem dankbaren Blick zu seinem Bruder. Wild entschlossen baute er sich vor Kitiara auf – die Nase in ihrer Brusthöhe.

»Dann versuch doch, woanders Kavalier zu sein«, schlug Kitiara einlenkend vor. Sie stieß ihn zur Seite.

»Undankbare!« sagte Caramon, der wieder vortrat.

»Hosenscheißer!« gab sie mit blitzenden Augen zurück.

Inzwischen hatten die anderen Bronk vergessen, und der Streithahn hatte sich – etwas erleichtert – in der Menge in Sicherheit gebracht. Alle Augen hingen an Caramon, als dieser den ersten Angriff führte, indem er seinen Stock hochschwang und Kit fest gegen den rechten Arm schlug. Auf diese schnelle Attacke folgte eine zweite, die sie an den Knien traf. Keuchend krümmte sie sich zusammen.

Von den Zuschauern – jetzt genausoviel Erwachsene wie Kinder – kamen anfeuernde Rufe, während sie sich zu einem Halbkreis um die streitenden Geschwister scharten. Caramon gelang es irgendwie, über Kitiaras zusammengekauerte Gestalt zu springen und ihr dabei mit dem Griff seiner Spielwaffe einen Schlag gegen den Rücken zu verpassen. Für ein so kleines Kind zeigte er eine beeindruckende Körperbeherrschung.

Doch noch während Caramon sich umdrehte, um zufrieden in die Menge zu grinsen, richtete Kit sich auf und fuhr auf ihn los, packte den Jungen am Bauch und warf ihn sich über die Schulter wie einen Sack Kartoffeln. Sie wirbelte ihn einmal im Kreis, um ihn dann in hohem Bogen rücklings in das brackige Wasser eines nahen Trogs zu schmeißen.

Die Menge explodierte vor Schadenfreude. Diese Schreie brachen ab, als Caramon aus dem Trog sprang und sich – triefnaß und verschmiert – auf seine Schwester stürzte. Dabei stieß er etwas aus, was er für einen solamnischen Kriegsruf hielt. Caramon erinnerte sich vage daran, mal so etwas gehört zu haben, doch in Wahrheit war es eher der Spottruf eines Kenders.

Zack! Diesmal fing Kitiara seinen Schlag mit dem ausgestreckten Arm ab und den nächsten mit der Hand, so daß Caramon sich einmal im Kreis drehte – wo hat er denn das gelernt? fragte Kit sich beiläufig –, um dann von hinten ihre Schulter zu treffen.

Kitiara rieb sich betreten die Schulter, war aber trotz des Schmerzes amüsiert. Sie hatten schon oft auf diese Weise im Wald gerauft. Gut, daß der Stock nicht besonders dick oder schwer war, fand sie. Caramon hingegen wurde allmählich richtig munter. »Autsch!« schrie sie auf, als sie etwas am Ohr traf. »Das hat jetzt weh getan!«

»Tschuldigung«, sagte Caramon keuchend. Er grinste wie ein betrunkener Kender und amüsierte sich offensichtlich ebenfalls.

Kitiara fuhr herum, duckte sich und erwischte die Beine des Dreikäsehochs. Während Caramon Schlag um Schlag auf ihren Kopf niedersausen ließ, warf Kit ihn auf die Erde. Er ließ den Stock fallen, und sie schaffte es, diesen fortzutreten.

Dabei nagelte sie Caramon an den Boden, schnappte sich eins seiner Beine und bog es nach hinten.

Gleichzeitig allerdings konnte er hinter sich greifen und ihren Kopf festhalten. Sie waren fast miteinander verknotet, grunzten und stöhnten, während sie sein Bein verbog und er an ihrem Hals zog.

»Gib auf!« forderte Kit, die sein Bein so dicht an seinen Rücken drückte, daß die Menge vor Mitleid mit dem Jungen aufstöhnte.

»Niemals!« brüllte Caramon.

Die Zuschauer bestärkten ihn noch in seinem trotzigen Hochmut. Kit bog Caramons Bein weiter zurück, bis sie schon bald die Knochen knacken hörte. Im Gegenzug hielt er ihren Kopf noch fester. Während sein Gesicht gegen den Boden gedrückt wurde, wurde ihres so weit zurückgebogen, bis sie den Himmel sah.

»Los, gib auf!«

»Gib du doch auf!«

»Ich habe gewonnen!«

»Ich hab’ zuerst gewonnen!«

»Soll Raist doch entscheiden!«

Pause. »Na gut.«

»Raist? Raist?«

Kitiara schaffte es, ihren Hals so weit herumzudrehen, bis sie sehen konnte, daß Raistlin verschwunden war. Caramons Zwillingsbruder hatte dieses unterhaltsame Schauspiel in seinem kurzen Leben schon ein paarmal zu oft mitangesehen und langweilte sich schnell dabei. Und so war Raist einfach weitergelaufen.

Kitiara sprang auf. »Raistlin!«

Auch Caramon sprang auf und rieb sich das Gesicht. Seine Tunika war stellenweise zerrissen. An Kitiaras Ohr lief ein dünner Blutstreifen herunter. »Oh, Mann«, maulte Caramon, »wo kann er denn bloß hin sein?« Kitiara fuhr wütend zu ihm herum. »Wie oft muß ich es dir noch sagen? Du bist sein Bruder! Du bist genauso für ihn verantwortlich wie ich!«

Caramons Miene war nicht nur zerschlagen, sondern auch zerknirscht. »Mann, wieso soll ich mich eigentlich immer um ihn kümmern? Du bist doch die große Schwester, oder? Außerdem habe ich – «

Kitiara spie die Worte regelrecht aus. »Du bist sein Zwillingsbruder, sein Zwilling. Ihr seid zwei Hälften vom gleichen Ganzen. Und er ist nicht so stark wie du. Das weißt du. Ich werde nicht den Rest meines Lebens für euch zwei den Babysitter spielen. Also such ihn, und zwar schnell!«

Sie wollte Caramon einen Tritt versetzten, der ging jedoch knapp daneben. Der kleine Bruder hatte sich ihre Worte zu Herzen genommen und fegte bereits los, um seinen verschwundenen Zwilling zu suchen.

Erschöpft sank Kitiara zu Boden. Da sie erkannt hatten, daß der Spaß vorbei war, waren die meisten Zuschauer verschwunden. Anscheinend beachtete sie keiner mehr. Kit betastete ihr Ohr und griff dann nach vorn, um ihren einen Stiefel wieder richtig anzuziehen, den sie irgendwie fast verloren hatte.

»Du hättest dich von ihm besiegen lassen sollen!«

Sie sah hoch, und vor ihr stand ein Mädchen in ihrem Alter mit blauen Augen und rotblonden Haaren, die ihr lockig über die Schultern fielen. Aurelie Damark, die kokette Tochter eines Möbeltischlers aus Solace, war eine der wenigen Freundinnen von Kit. Sie waren eigentlich völlig gegensätzlich, aber Kitiara mußte zugeben, daß Aurelie sie zum Lachen brachte.

»Von Caramon?« schimpfte Kit, während sie ihre Freundin mit einem Lächeln begrüßte.

»Nein, von Flecki!« antwortete Aurelie ernsthaft. »Was glaubst du, warum er immer auf dir herumhackt?«

»Wahrscheinlich aus lauter Bosheit und Dummheit«, erklärte Kit prompt.

Aurelie setzte sich neben Kit und streckte ihre schlaksigen Beine aus. »Ganz und gar nicht«, rügte sie Kit. »Auch wenn ich über seine Dummheit keinen Streit anfangen würde.« Sie kicherte. »Er mag dich!«

Kitiara blickte ihrer Freundin fest in die Augen, weil sie glaubte, daß Aurelie sie aufziehen wollte.

»Flecki?«

»So häßlich ist er doch gar nicht«, sagte Aurelie nachdrücklich, während sie ihr rosaweißes Kleid zurechtzupfte, damit es sich wie eine Korallenmuschel über dem dreckigen Boden ausbreitete. Mit ihren rosigen Wangen und den langen Wimpern war Aurelie der Inbegriff von Weiblichkeit. »Jungen mögen es, wenn Mädchen sich hart zeigen, sagt Vater. Allerdings«, sie hielt inne und dachte einen Augenblick nach, »Mutter sagt, sie ziehen ein weichherziges Mädchen vor. Außen hart, innen weich. Was sagt dein Vater?«

Kitiara seufzte. Sie konnte Aurelies Geplapper nie nachvollziehen. »Hat gesagt… hat gesagt. Ich habe meinen Vater fast sechs Jahre nicht mehr gesehen, Aurelie. Das weißt du doch.«

»Natürlich weiß ich das«, sagte Aurelie verteidigend. »Ich meine Gilon, deinen Stiefvater, wenn du es so genau nehmen willst. Was sagt der denn?«

»Der redet nicht viel, ein Glück«, meinte Kitiara. Sie schaute ihre Freundin zornig an. »Es geht im Leben sowieso nicht nur darum, einen Mann abzukriegen«, erklärte sie.

»Oh, das finde ich aber doch«, sagte Aurelie und schüttelte den Kopf anmutig. »Meiner Meinung nach mag dich Bronk, weil du dich stark und hart zeigst. Aber es wäre besser, ihn gewinnen zu lassen, wenn’s ums Raufen und Kämpfen geht. Männer haben ihren Stolz, und bei Jungs ist das schlimmer.«

Damit griff sie in eine Rockfalte und holte ein dickes Stück Früchtebrot heraus, das sie in der Mitte durchbrach, um Kit dann die eine Hälfte anzubieten.

Kit mußte lächeln. Die beiden Mädchen verzehrten flüsternd und lachend die Köstlichkeit. Die Jahrmarktbesucher strömten um sie herum.

»Fräulein Kitiara…«Kit sah auf und blickte diesmal Minna ins Gesicht.

Die alte Hebamme ihrer Mutter fixierte sie mit berechnender Miene. Kit hatte die alte Schachtel monatelang nicht gesehen. Aurelie sprang höflich auf, und Kitiara folgte widerstrebend ihrem Beispiel.

»Wie geht es denn deiner lieben Mutter im Moment?« fragte Minna.

»Danke, gut«, meinte Kit mit leiser Stimme.

»Ich habe sie lange nicht gesehen«, fuhr Minna fort und kniff die Augen zusammen.

Nein, und das wirst du auch nicht, du alte Hexe, hätte Kit am liebsten gesagt, brachte jedoch kein Wort hervor, und ihr Blick klebte am Boden.

»Ja, aber sie läuft doch auch hier auf dem Markt herum und amüsiert sich«, mischte sich Aurelie mit unschuldiger Stimme ein.

»Was? Hier?« Minna war ganz perplex bei dieser Nachricht.

»Aber ja«, bestätigte Aurelie keck. »Sie ist mit uns gekommen, und dann… Ihr wißt, wie das ist, sie mußte mit diesen beiden unmöglichen Knirpsen irgendwohin. Sie haben sie an Armen und Beinen gezogen – das sah so komisch aus –, und sie hat die ganze Zeit so gelacht.«

»Wo? Wo sind sie hin?« Minna starrte über die Köpfe der Menge hinweg, weil sie auf neuen Klatsch brannte.

»Oh, Ihr werdet sie drüben bei den Spielen finden, wenn Ihr sie begrüßen wollt, Madame«, erklärte Aurelie honigsüß.

»Das sollte ich wohl tun«, entgegnete Minna mißtrauisch.

Sie musterte Kit durchdringend, doch deren höfliche Miene verriet gar nichts.

»Und wenn Ihr sie seht, dann sagt ihr bitte, daß wir nachkommen«, sagte Aurelie.

»Ja, ja, mach’ ich«, meinte Minna geschäftig mit einem letzten Blick über die Schulter, während sie durch die Menge davoneilte. Die Hebamme war davon überzeugt, daß sie an der Nase herumgeführt wurde, aber da man nie wissen konnte, wollte sie wenigstens versuchen, Rosamund aufzuspüren.

Als Minna außer Sichtweite war, fielen sich die Mädchen in die Arme. Sie lachten und lachten und konnten eine ganze Weile überhaupt nicht mehr aufhören.

»Das war genau das richtige«, sagte Kit schließlich japsend.

Sie kicherten wieder. »Ja, Madame, und sie hat soviel Spaß gehabt, wirklich!« Aurelie äffte sich selber nach.

Auf einmal hörte Kitiara auf und holte tief Luft.

»Oh, ich muß die Zwillinge suchen«, murmelte sie.

»Keine Sorge«, tröstete Aurelie, »die sind bestimmt…«

»Trotzdem«, meinte Kitiara, die sich zum Gehen wandte.

»Na, schön«, maulte Aurelie, die ihr folgte. »Ungezogene Bengel, alle beide.«Während Kitiara mit Caramon kämpfte, schob sich ein großer, dünner Mann mit stechendem Katzenblick, weißen Wimpern und ledriger Haut durch die Menge um Raistlin und verteilte Karten. Automatisch streckte Raistlin die Hand aus, und der Mann legte eine Karte in seine kleine Handfläche. Es stand eine merkwürdige Inschrift darauf. Der kleine Junge konnte noch nicht sehr gut lesen, aber er konnte ein Symbol auf dem Stück Papier erkennen – eines der vielen speziellen Symbole eines umherziehenden Zauberers.

Als der Mann ging, stand Raistlin auf und folgte ihm. Geschmeidig bahnte sich der Mann einen Weg durch die Menge, an verschiedenen Ständen vorbei, um ein paar Felsen und Bäume herum, einen Pfad hinunter, an dessen Rand Leute saßen und ihr Mittagessen verzehrten, bis zu einer kleinen Lichtung, die als Bühne für eine Vorstellung hergerichtet war. Der schlurfende Mann nickte Raist verschwörerisch zu und teilte unterwegs weiter Karten aus. Die Menge schien für ihn auseinanderzuweichen und ihn dann zu verschlucken.

Raistlin betrachtete das Zentrum der Lichtung. Dort hatte sich bereits ein Kreis von Leuten um einen Mann geschlossen, der eine Aufführung vorbereitete. Als der Mann einen Moment aufsah, kam es Raistlin so vor, als hätte er ihn schon einmal gesehen. Er sah sich nach hinten um, wo der Mann mit den Karten zuletzt gewesen war, und dann wieder nach vorn zu dem anderen. Der Mann, der die Vorstellung aufbaute, glich dem anderen, nur daß dieser hier eine etwas verblichene gelbe Robe trug.

Zwillinge! sagte sich Raistlin, wie Caramon und ich. Weil dieser Zufall ihn fesselte, ging der Junge näher. Bald gehörte er zu dem guten Dutzend Leute, die herumstanden, sich unterhielten und darauf warteten, daß der reisende Zauberer mit seiner Vorstellung begann.

Der Mann sortierte Behälter, Schriftrollen und kleine Gegenstände auf einem Gestell, das er aufgebaut hatte.

Dabei murmelte er in sich hinein und nickte und zwinkerte aber gelegentlich Leuten aus der Menge zu. Besonders eine von den Zuschauerinnen, ein junges Mädchen mit langen Zöpfen und zarter Haut, schien ihn zu interessieren. Als er sich räusperte, um anzufangen, ruhten seine Augen einen Moment auf ihm.

Er fischte eine kleine Münze aus seinem Gewand, hielt sie in die Höhe und trug sie dann zum Rand der Lichtung, wo er sie einem krummbeinigen Bauern, der ihn mit offenem Mund anstarrte, auf die Stirn drückte. »Denk gut nach«, fing der Magier an. »Denk an etwas, das dir wichtig ist. Ein Wort oder zwei. Versuch nicht, einen schlauen, alten Zauberer reinzulegen…«

Der Bauer runzelte gewaltig die Stirn, denn das Denken war für ihn offenbar genauso mühsam wie das Pflügen. »Neue Kuh«, gab der Zauberer mit großer Geste bekannt, und über das Gesicht des Bauern ging ein erstaunter Ausdruck, der darauf hinwies, daß der Zauberer es richtig erraten hatte.

Dieser ging die Reihe weiter durch und kam zu dem Mädchen, das er beobachtet hatte. Ihr drückte er die Münze sanfter auf die Stirn und schaute ihr tief ins junge Gesicht. Im Gegensatz zu dem Bauern blieb ihre Miene unbeschwert. Der Zauberer schien gut zu überlegen, bevor er ausrief: »Ein junger Mann namens… Artis!« Sie klatschte entzückt in die Hände, als er etwas stirnrunzelnd weitermachte, als wäre er etwas enttäuscht über das, was ihre Gedanken verrieten.

Raistlin sah überrascht, daß die Hand mit der Münze sich nach ihm ausstreckte. Während er den Mann fest ansah, drückte der ihm die magische Münze auf seine verschwitzte Stirn. »Jetzt ein Kind. Kindergedanken sind leicht zu durchschauen«, verkündete der Magier, der sich vorbeugte, als würde er mit einem Ohr auf die Ansage der Münze lauschen. Raistlins Gesicht war entsetzt. Er wand sich ein bißchen, blieb aber wie angewurzelt stehen, weil er auf die Enthüllung wartete.

Wahrscheinlich bemerkte niemand außer Raistlin die Überraschung, die das Gesicht des Mannes kurz ausdrückte, als der sich um einen Einblick bemühte, der nicht kommen wollte. Der Magier in der gelben Robe beugte sich weiter vor, und die Zuschauer, die auf seine Worte warteten, folgten seinem Beispiel. Es gab eine Pause von mindestens einer Minute.

»Bonbons!« erklärte der Magier, der sich mit eindrucksvoller Geste aufrichtete. Die Zuschauer jubelten und klatschten. »Bonbons«, wiederholte der Zauberer, der sich wieder seinen anderen Utensilien zuwandte und einen weiteren vergeblichen Blick auf das hübsche, junge Mädchen warf.

Keiner achtete viel auf Raistlin. »Ich habe gar nicht an Bonbons gedacht«, sagte der leise vor sich hin. Aber er mußte zugeben, daß der alte Fuchs die Menge im Griff hatte. Der Junge kam näher, denn der Illusionist war bereits zu seinem nächsten Trick übergegangen.

Diesmal bewegte der Mann geschickt die Hände und sang ein paar Worte. Er zog Schubladen auf, aus denen Tauben herausflogen, machte Taschen auf, in denen er funkelnde Trinkbecher fand, riß buntes Papier in Fetzen und setzte diese dann wieder zusammen. Irgendwo in seinem Innersten wußte Raistlin, daß das alles nur Hokuspokus war, nichts Schwieriges und auf jeden Fall keine großartige Magie. Aber mit seinen fünf Jahren hatte der Junge noch nie eine so erstaunliche Vorstellung gesehen. Die Menge schaute ehrfürchtig schweigend zu. Raistlin selbst war wie gebannt.

»Da bist du ja, Raist!« Caramon tauchte neben ihm auf und tat furchtbar wichtig. »Kitiara hat gesagt, ich soll dich suchen und sofort zurückbringen.« Er sah sich etwas verloren um. »Obwohl ich nicht so genau weiß, wo ›zurück‹ jetzt eigentlich – «

»Schsch!« Raistlin warf ihm einen strengen Blick zu und beachtete seinen Bruder dann nicht weiter.

Caramon war gerade rechtzeitig zum Höhepunkt der Vorführung des Wanderzauberers aufgetaucht, wahrscheinlich dem Gipfel seiner gesamten Kunst. Soweit Caramon das beurteilen konnte, jonglierte der große, dünne Zauberer mit mehreren Lichtkugeln. ›Na, toll‹, dachte er. Alles in allem interessierten Zauberkunststückchen Caramon etwa ebensosehr wie Raistlin die Ringkämpfe seines Bruders.

Caramon sah sich um, weil er nach Kitiara Ausschau hielt, als ein lautes Hurra aus der Menge aufstieg. Er sah zurück, es war aber schon zu spät. Der Höhepunkt war vorüber, und der Magier packte seine Sachen zusammen. Ein anderer Mann – fast ein Doppelgänger des Zauberers, dachte Caramon stirnrunzelnd – lief bereits mit einem Korb für Spenden herum.

»Was hat er gemacht?« fragte Caramon Raistlin. »Was hat er gemacht?«

Aber Raistlin sagte nichts, und sein Gesichtsausdruck war fast glückselig.

»Da seid ihr zwei ja!« meinte eine kräftige Stimme, und jedem fiel eine Hand auf die Schulter. »Ihr solltet längst zu Hause sein. Und wo ist Kitiara?«

Es war Gilon, und Amber stand an seiner Seite. Er drückte seine beiden Söhne an sich und setzte sich dann Raistlin mühelos auf seine breiten Schultern. »Komm schon!« rief er Caramon zu. »Wo ist Kit?« fragte er wieder, wobei er sich zögernd umsah.

»Äh«, machte Caramon, der nach hinten schaute. »Da hinten. Oder irgendwo da. Wir wurden getrennt, weil Raist – «

Gilon schimpfte liebevoll mit Caramon. »Du hast deine Pflichten, und ihr solltet eure Mutter nicht zu Hause allein lassen. Das wißt ihr.« Er sah sich wieder um. »Nun«, meinte er achselzuckend, »Kit wird schon kommen.«

Gilon schlug ein rasches Tempo an. Caramon mußte rennen, um Schritt zu halten. Raistlin, der auf den Schultern seines Vaters auf und ab hüpfte, verrenkte sich den Kopf, um einen letzten Blick auf den Magier in der ausgeblichenen gelben Robe zu erhaschen. Aber er und sein Doppelgänger waren bereits verschwunden.

Hinter einem Zelt hervorspähend hatten Kitiara und Aurelie ihren Abzug beobachtet. Aurelie dachte nach und kaute dabei auf ihrem Daumennagel herum.

»Ich sollte wirklich gehen«, setzte Kit an.

Aurelie hielt einen ihrer bestickten Beutel hoch und schüttelte ihn, so daß Kitiara die Münzen darin klimpern hörte. »Ich habe genug für uns beide«, sagte sie einladend. »Es gibt Bratwürstchen und Kuchen und…«

Kitiara runzelte die Stirn, denn die häuslichen Pflichten riefen sie.

»Und da drüben«, erklärte Aurelie durchtrieben, »bauen sie gerade alles für die Wettkämpfe auf. Es dürfen auch Mädchen teilnehmen!«

Kit brauchte nicht lange überredet zu werden. »Na gut, nur für ein paar Stunden!« sagte sie.


Mehr als einer der jungen Burschen mußte an diesem Frühlingstag in Solace heftig schlucken, als ein Mädchen, das einige Jahre jünger war als die meisten teilnehmenden Jungen, den ersten Platz im Lianenklettern, Barfußrennen und beim Wildwasserfahren davontrug.

Aurelie versuchte noch einmal, Kitiara zu erklären, daß sie es sich angewöhnen sollte, gelegentlich einen Jungen gewinnen zu lassen, wenn sie später jemals einen für sich erobern und glücklich verheiratet sein wollte.

Aber Kit hatte gute Laune. Aurelie konnte ihr die nicht verderben.

Bronk Wister hing mit seinem kleinen Bruder Dune herum und schaute den Wettkämpfen nur zu. Immer wenn Kits Name angesagt wurde, lachten sie höhnisch. Aurelie, die ja schließlich Kits Verstärkung war, fing mit der Zeit an, ihre Freundin vom Rand her anzufeuern.

Anschließend teilten sie sich ein Täschchen mit Gutscheinen, die Kit für ihre Siege bekommen hatte. Man konnte sie gegen Essen oder Eintrittskarten umtauschen. Die beiden Mädchen stopften sich mit Zuckerzeug voll, bis ihnen der Bauch weh tat. Dann spielten sie ein paar Glücksspiele, die von zwielichtigen Kerlen in Zelten veranstaltet wurden, hatten aber kein Glück. Aurelie vermutete, daß es dabei wahrscheinlich nicht mit rechten Dingen zuging.

Sie sahen sich die Auslagen der Händler an, und Aurelie feilschte um ein blankes Kupferarmband, während Kit einen Beutel Magneten erstand, deren geometrische Formen ihr gefielen.

Nach einigen Stunden streckten sie sich erschöpft in einer Ecke des Platzes im Gras aus. Kit fiel ein Schild an einem kleinen, gestreiften Zelt auf, das sie bisher übersehen hatte: »Die berühmte Madame Dragatsnu sagt die Zukunft voraus!« Ein dicker, wichtig aussehender Mann verließ gerade mit zufriedener Miene das Zelt.

Kit war Feuer und Flamme, aber als sie die Gutscheine in ihrer Hand zählte, wurde ihr klar, daß sie nur noch für einen Blick in die Zukunft reichten.

»Na, geh schon«, sagte Aurelie. Sie hatte Kits Gedanken gelesen. »Meine Zukunft ist im Moment genau hier.«

Als Kit sich unter der Zeltklappe hindurch duckte, landete sie genau vor der alten Madame Dragatsnu, einer kleinen, dunkelhäutigen Frau mit graumeliertem Haar, der am Kinn und aus der Nase Haare wuchsen.

Die Zukunftsdeuterin trug ein einfaches braunes Kleid und saß auf einem Webteppich.

Sie wirkte nicht besonders beeindruckend. Als Kit sich umsah, entdeckte sie keines der geheimnisvollen Hilfsmittel, die man gewöhnlich mit einem Blick in die Zukunft in Verbindung brachte – keine Kristallkugel, keinen Becher mit Knochen, keine Gläser mit Teeblättern oder so.

»Setz dich, Kind«, sagte Madame Dragatsnu, deren belegte Stimme leichte Verärgerung verriet. Kit konnte ihren seltsamen Akzent nicht einordnen.

Kit setzte sich im Schneidersitz der Hellseherin gegenüber. Madame Dragatsnus glitzernde Augen schienen die Entfernung zu ihr zu überwinden und sie zu überwältigen.

»Es geht nicht um mich«, sagte das Mädchen leise und sah plötzlich verlegen nach unten. »Das Schicksal, meine ich.«

»Also deinen Liebsten?«

Kit sah trotzig hoch. »Nein.« Sie legte die Gutscheine hin, die sie fest in der Hand gehalten hatte, und schob sie der alten Frau hin. Die nickte.

»Hast du etwas, das dieser Person gehört?«

Kit griff in ihre Tunika und zog ein Stück Pergament heraus – das solamnische Wappen ihres Vaters. Sie hatte es heute eingesteckt, weil sie gehofft hatte, Leute aus jener Region zu sehen, die ihr vielleicht Auskunft über Gregor oder seine Familie geben konnten, wenn sie ihnen das Wappen zeigte.

»Es ist – «

»Dein Vater«, schnitt Madame Dragatsnu ihr das Wort ab.

Kit sah die Wahrsagerin hoffnungsvoll an. Madame Dragatsnu drehte das Pergament immer wieder in den Händen und betastete regelrecht sinnlich seine Oberfläche, als wäre es ein seltener Stoff. Während sie das tat, starrte sie nicht Gregors solamnisches Symbol, sondern Kit selbst an. Ihr undurchschaubarer Gesichtsausdruck verriet Kit überhaupt nichts, aber wie ihre Augen glühten!

»Ich hatte gehofft«, sagte Kit wieder leise, »daß Ihr mir vielleicht sagen könnt, wo er ist.«

»Ich sage nichts über die Gegenwart«, sagte Madame Dragatsnu in scharfem Ton. »Zukunftsvorhersagen. Das steht auf dem Schild.«

Kit lief rot an. »Könnt Ihr mir etwas über seine Zukunft sagen?«

»Schsch!«

Es folgte minutenlanges Schweigen, währenddessen die Hellseherin weiter das Pergament befühlte und Kit anstarrte, der es schwerfiel, still zu sitzen.

»Wie lange hast du ihn nicht mehr gesehen?« fragte die Wahrsagerin unerwartet. Die Frage war weniger überraschend als die Art, in der sie gestellt wurde. Madame Dragatsnu hatte ihren geschäftsmäßigen Ton abgelegt und ließ unmißverständlich Mitleid durchklingen.

»Über fünf Jahre.«

»Mhmmm. Ich kann dir nicht besonders viel sagen. Norden, glaube ich. Ja. Irgendwo im Norden.«

»Er hat Verwandte im Norden, ich glaube, in Solamnia«, meinte Kit aufgeregt.

»Woanders«, erklärte Madame Dragatsnu. Wieder folgte langes Schweigen, als sie Gregors grobe Tintenzeichnung des Wappens mit dem Finger nachfuhr. »Eine Schlacht«, fuhr sie wie in Trance fort. »Eine große Schlacht, viele Männer – «

»Wird er in Gefahr sein?« Kit konnte sich kaum halten.

»Ja.«

Kitiara sog mit klopfendem Herzen rasch den Atem ein. Gregor in Gefahr!

»Aber nicht in der Schlacht«, sagte Madame Dragatsnu mit Nachdruck. »Die Schlacht wird er gewinnen.«

»Wie dann?« drängte Kit.

Madame Dragatsnu machte eine Pause. »Hinterher.«

»Wann?« forderte Kit. »Wann?«

Madame Dragatsnu starrte sie an. »Bald. Sehr bald.«

»Was kann ich tun? Was könnt Ihr mir noch sagen?« Kit schrie die alte Hexe vor Aufregung fast an.

Die Wahrsagerin blieb ungerührt. Sie ließ sich viel Zeit mit ihrer Antwort, und bevor sie diese äußerte, faltete sie Gregors Zeichnung wieder zusammen und händigte sie Kitiara aus.

»Nichts. Die Antwort auf beide Fragen lautet: Nichts.«

Wutentbrannt sprang Kit auf und rannte aus dem Zelt. Sie flüchtete sich hinter einen abseits stehenden Baum, denn in ihren Augen standen Tränen. Das war alles so eine blöde Lügenzukunft. Solche Wahrsager waren auf Jahrmärkten so allgegenwärtig wie Stechfliegen. Die alte Schrulle hatte kein Ahnung von Gregors Zukunft. Es war nur ein blindes Raten gewesen, als Madame Dragatsnu behauptet hatte, die Tintenzeichnung hätte etwas mit ihrem Vater zu tun.

Kit brauchte eine Weile, bis sie sich davon überzeugt, sich beruhigt und ihre Augen getrocknet hatte. Dann kehrte sie zu Aurelie zurück, die auf dem Rücken liegend eingeschlafen war und mit einem Lächeln auf den Lippen schlummerte.

»Gute Nachrichten?« fragte ihre hübsche Freundin, nachdem Kit sie geweckt hatte.

»Hokuspokus«, erklärte Kit mit fester Stimme und einem Kopfschütteln. »Reine Verschwendung. Komm, es ist spät. Ich muß nach Hause.«Eine ganze Weile nach Sonnenuntergang öffnete Kit leise die Tür zu ihrer Hütte und schlüpfte hinein. Ihr Gesicht war müde und dreckverschmiert, ihre Kleider schmutzig und zerrissen. Aber sie hatte die Vorhersage der Zukunftsdeuterin verdrängt und war ungewöhnlich glücklich. Sie brauchte einen Moment, bis sich ihre Augen von der Dunkelheit der Nacht an das merkwürdige Licht drinnen gewöhnt hatten.

»Psst!« Gilon ergriff ihren Arm und zog sie neben sich auf den Boden herunter.

»Wo bist du gewesen?« wollte Caramon wissen. Er saß neben seinem Vater.

Ehe sie antworten konnte, flüsterte Gilon: »Ist schon gut.« Mit der Hand strich er sanft Kits schwarze Haare zurück. »Sieh nur!«

Jetzt sah sie, was vor sich ging. Raistlin stand in der Mitte des Raums und gab eine Art Vorstellung. Zaubertricks? Ja, Raistlin machte Zaubertricks.

»Ich weiß nicht, wie er sie gelernt hat«, vertraute ihr Caramon an, der sich zu ihr lehnte, »aber er macht das schon den ganzen Abend. Er ist echt gut!«

Raistlins Gesichtsausdruck war ernst und konzentriert. Der Junge hielt seine Hände hoch. Dazwischen hing – wie, wußte Kitiara wirklich nicht – ein Ball aus weißem Licht. Raists Hände bewegten sich langsam und flatternd, während aus seinem Mund ein leiser Singsang von kaum verständlichen Worten kam, falls es überhaupt Worte waren. Einen Augenblick lang stellte Kit unbehaglich fest, daß sie sich wie Rosamunds Geplapper während ihrer Trancen anhörten.

Raistlin bewegte die Hände. Der Lichtball teilte sich in mehrere Lichtkugeln, mit denen er zu jonglieren begann. Er machte eine schnelle Bewegung. Die Kugeln teilten sich erneut, diesmal in Dutzende kleinerer Lichtkugeln. Noch eine Bewegung, und sie wurden zu Hunderten von Kügelchen, die wie Schneeflocken glitzerten, dabei aber wie lebendig pochten und zuckten und sich in einem kunstvollen Muster bewegten.

Schließlich wurden Raistlins Worte und Gesten langsamer. Auch die Lichter kamen fast zum Stillstand. Gilon, Caramon und Kit beobachteten schweigend Raistlins Gesicht, das jetzt einen beinahe schmerzhaft konzentrierten Ausdruck zeigte. Plötzlich murmelte Raist etwas und machte eine rasche, gezielte Geste.

Die Lichtbälle begannen zu rotieren, zu wachsen und in hellen, kräftigen Farben zu erstrahlen. Dann explodierten sie schneller, als man wahrnehmen konnte, in kleine Figuren: Feuerblumen, Muschelblüten, kometenhafte Schmetterlinge. Es war ein Trommelfeuer leiser Knallgeräusche, dem als Höhepunkt eine weiße Lichtexplosion folgte, die alle kurzfristig sprachlos und geblendet dasitzen ließ.

»Was ist los? Was ist passiert?« fragte Rosamund mit vor Schreck zitternder Stimme. Mit ängstlich verzerrtem Gesicht klammerte sie sich an den Türrahmen ihrer Kammer.

Gilon sprang eilig auf, um sie zurück ins Bett zu bringen und wieder zu beruhigen.

Jetzt war wieder alles normal. Raistlin kam und setzte sich. Er streckte Bruder und Schwester die Hände entgegen, und beide nahmen sie. Kitiara und Caramon lachten vor lauter Freude, und – was wirklich ungewöhnlich war – Raistlin lachte mit.

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