9 Wieder zu Hause

Als Kitiara in Solace ankam, war es Spätsommer, und die Äste der majestätischen Vallenholzbäume formten ein smaragdgrünes Blätterdach über ihr. Die vertrauten Gerüche spornten Cinnamon an. Das Pferd brauchte keinerlei Hilfe, um den Weg zu seinem alten Stall im Schuppen hinter dem Haus der Majeres zu finden. Kit tränkte die Stute und nahm dann im Gedenken an Ursas Warnung Becks Schwert und versteckte es unter einem unverdächtigen Heuhaufen. Später würde sie die Waffe in ihr Dachzimmer hochschmuggeln.

Mit gemischten Gefühlen stieg sie die Wendeltreppe nach Hause hoch.

Es war bald Essenszeit. Kit wußte, daß wahrscheinlich die ganze Familie daheim sein würde. Als sie gerade eintreten wollte, ging die Tür auf, und Caramon stürzte sich auf sie. Er kreischte vor Aufregung.

»Du bist wirklich wieder da! Raist hatte recht! Er hat gesagt, du würdest hier sein, wenn ich die Tür aufmache. Ich habe mit ihm um eine Packung Kandis gewettet, daß du nicht da bist, aber die geb’ ich ihm gern.«

Caramon nahm Kit bei der Hand und zog sie ins Haus. Rosamunds Tür war fast geschlossen, und Gilon war nicht da. Obwohl es ein warmer Spätnachmittag war, hatte Raistlin seinen Stuhl nah an den Herd gezogen. Auf seinem Schoß lag ein aufgeschlagenes Buch. Neugier, Bewunderung, Trotz und eine gewisse Gereiztheit vermengten sich in dem Blick, den er Kit schenkte.

»Ich habe dich nicht so früh zurück erwartet. Hat sich die Reise gelohnt?« fragte Raist sie ernst.

Kit grinste. Der kleine Raist war immer noch derselbe. »Sagen wir mal, sie hat ein paar unvorhergesehene Wendungen genommen. Seht selbst, ob sie sich gelohnt hat.«

Caramon, der ahnte, daß es gleich Geschenke geben würde, begann, neben Kit auf und ab zu hüpfen. »Oh, sie hat uns etwas mitgebracht. Das sollte aber was Gutes sein; schließlich warst du den ganzen Sommer weg.«

Schwungvoll zog Kit zwei kleine Päckchen aus ihrer Tasche. Obwohl Raist kühl und gefaßt erscheinen wollte, sprang auch er vom Stuhl und lief zu Kit. Das erste Päckchen gab sie Caramon. Er riß die einfache Verpackung auf und stieß angesichts des Kurzschwerts, das sie ihm mitgebracht hatte, einen Freudenschrei aus.

»Das muß aber teuer gewesen sein!« krähte Caramon, der es bewundernd hin- und herdrehte.

In Wahrheit hatte Kit das Schwert dem toten Kagonesti abgenommen, aber es gab keinen Grund, Caramon das zu erzählen. »Paß auf, daß du dich nicht schneidest«, ermahnte sie ihn.

Raist packte sein kleineres Paket langsamer aus, wirkte jedoch genauso begeistert über seine Lederfläschchen.

»Und die waren erst mal teuer!« sagte Kit augenzwinkernd zu Raist. Der tote Kagonesti hatte auch sie beigesteuert.

Als die beiden Jungen ihre Mitbringsel untersuchten, kam Gilon mit Kräutern und anderen Lebensmitteln herein. Er wirkte gehetzt. Überrascht sah er Kit an, doch dieser ersten Reaktion folgte sofort ein herzliches, breites Lächeln. Weil er die Hände voll hatte, konnte er die etwas peinliche Entscheidung umgehen, ob sie sich nun umarmen sollten oder nicht.

»Aha, unsere Abenteurerin ist wieder da! Du bist in den letzten paar Monaten bestimmt eine ganze Handbreit gewachsen. Willkommen daheim, Kit.«

Sie war in der Zeit wirklich gewachsen, körperlich und auch sonst. Gilon bemerkte, daß Kit nicht einfach jugendliche Großspurigkeit an den Tag legte, sondern echte Selbstsicherheit. Und während man sie bei flüchtigem Hinsehen immer noch für einen Jungen halten konnte, war das nicht mehr möglich, wenn sie mit ihrem schiefen Lächeln und den strahlenden Augen direkt vor einem stand.

Gilon warf das Essen, das er mitgebracht hatte, auf den Tisch. In diesem Moment schlurfte Rosamund mit trüben Augen aus ihrer Schlafkammer. Ihr Gesicht zeigte keinerlei Regung, weder Kit noch sonst jemandem im Raum gegenüber. Ihre Haare waren ungekämmt, und sie hatte offensichtlich in ihren Kleidern geschlafen.

Kit runzelte die Stirn. Gilon sprang hin und führte ihre Mutter in die Schlafkammer zurück, wobei er beruhigend auf Rosamund einredete. Die Zwillinge, die mit ihren neuen Sachen beschäftigt waren und wahrscheinlich an die geisterhaften Auftritte ihrer Mutter gewöhnt waren, nahmen kaum davon Notiz.

Gilon kam wieder herein. »Ich fürchte, es wird noch etwas dauern, bis wir essen können«, sagte er entschuldigend zu Kit, »und es gibt nicht viel. Ich bin beim Kochen nicht so geschickt wie du.«

Anscheinend hat sich das Schicksal verschworen, mir meinen Platz in der Küche zu erhalten, dachte Kit bei sich. »Setz dich, Gilon«, meinte sie seufzend. »Ich mach’ das. Ich bin nicht aus der Übung gekommen, besonders in den letzten paar Wochen.«

Während sie ein Wiedersehensessen zubereitete, unterhielt Kit Gilon und die Zwillinge mit ausgewählten Geschichten von ihren Abenteuern. Ursa wurde darin zu Trubaugh, denn sie hielt es für klüger, so viel wie möglich von ihm zu verschleiern, einschließlich seines Namens. Er war ein geheimnisvoller Mann, den sie auf dem Frühlingsmarkt kennengelernt hatte und der geschworen hatte, er wüßte, wo ihr Vater wäre. Er wollte sie zu ihm bringen, weit nach Nordwesten, wenn sie für ihn und seine Kumpane kochen würde. Als sich herausstellte, daß er sie für schändliche Zwecke mitgelockt hatte – an dieser Stelle runzelte sie die Stirn, um anzudeuten, daß diese Beweggründe lieber nicht angesprochen werden sollten –, erleichterte sie diesen Trubaugh um einen Teil seiner Börse und ließ ihn und seine unselige Bande mitten in der Nacht zurück.

»Gut für dich!« sagte Caramon bewundernd.

»Ja, er hatte Schlimmeres verdient«, fiel Raistlin ein.

»Was war mit Gregor?« fragte Gilon zögernd. »Wußte Trubaugh wirklich etwas? Oder war alles gelogen?«

»Lüge, wie alles bei Trubaugh«, sagte Kitiara, die betrübt den Kopf schüttelte.

Nachdem sie Trubaugh verlassen hatte, fuhr Kit fort, hatte sie sich über gefährliche Bergpfade bis zu dem Örtchen Drachenkopf durchgeschlagen, das von Bergleuten und Holzfällern bewohnt wurde. Das klang besser als ›Stumpfhausen‹, fand sie und war auf ihren Einfallsreichtum ziemlich stolz.

In dem Gasthaus des Ortes ließ es sich gut leben, und dort fand sie für einige Wochen Arbeit und Freunde. Aus Piggott wurde ein lächerlicher Trunkenbold, und das buntgemischte Publikum, das sein Haus besuchte, bekam lauter passende, komische Rollen zugewiesen. Sie erwähnte die richtigen Namen nicht und ließ ihre schlechten Erfahrungen aus. Gilon und Caramon lachten herzlich über ihre phantasievolle Fassung der Ereignisse, Kitiara merkte jedoch, wie Raistlin sie nachdenklich anblickte.

Caramon, der normalerweise leicht hinters Licht zu führen war, stellte Unmengen von unschuldigen Fragen über die Zeit, in der sie fort gewesen war, und Kit druckste herum, während sie nach passenden Antworten suchte.

»Na los, hast du denn die ganze Zeit nicht gekämpft? Bestimmt doch. Mit wem? Mit diesem komischen Trubaugh oder mit einem aus dem Gasthaus? Was für Waffen hattet ihr? Hast du gewonnen?«

Kit lächelte nur und fuhr ihrem Bruder durchs Haar. »Mal dir nicht soviel aus, Caramon. Habe ich etwa Narben?«

Als sie alles abstritt, wirkte Caramon niedergeschlagen, doch Gilon und Raist sahen sie voller Skepsis an.

»Was ist mit dir?« fragte Kit Caramon, um abrupt das Thema zu wechseln. »Hast du mit deinem Schwert geübt? Und wie ist die Zauberschule, Raist?«

»Naja, ich hatte keinen zum Üben, aber ich hab’s doch ganz ordentlich hingekriegt«, prahlte Caramon. »Weißt du noch, dieser Scheinangriff mit der Parade, den du mir gezeigt hast? Das kann ich jetzt perfekt. Ich zeig’s dir nach dem Essen, ja?«

»Und die Zauberschule?« beharrte Kit.

Raistlin schaute auf seinen Teller. Kit fiel auf, daß Gilon Caramons Zwilling bittend ansah.

»Ich kenne schon die meisten der Jungen, die das erste Jahr bei Morat sind«, antwortete Raist mit leiser Stimme.

»Prima!« rief Kit begeistert aus. »Und was ist mit Freunden? Hast du schon welche gefunden?«

»Ich habe eigentlich nicht viel mit den anderen Jungs dort zu tun«, antwortete er, während er stur seinen Teller anstarrte.

Kits und Gilons Blicke trafen sich. Scheinbar unbeschwert zuckte sie mit den Schultern. »Wahrscheinlich sind das alles verzogene kleine Bücherwürmer«, meinte Kit. In ihren Augen gab es viel wichtigere Dinge, als der Beliebteste aus der Klasse zu sein.

Gilon stand vom Tisch auf, um Rosamund dazu zu bewegen, etwas zu essen. Kitiara blieb sitzen, um mit den Zwillingen herumzuflachsen und ihre Bewunderung zu genießen. Als Gilon unverrichteter Dinge zurückkam, war Kit an der Reihe aufzustehen, jedoch nur für einen Augenblick. Sie kam mit einem kleinen Beutel in der Hand zurück, den sie vor Gilon auf dem Tisch ausleerte. Es war ein kleiner Haufen Kupfer- und Silberstücke.

»Ich weiß nicht, wie lange ich hier bleibe, aber ich möchte mein Zimmer und mein Essen so lange bezahlen. Das sollte reichen.«

Die Zwillinge staunten angesichts der Münzen. So viel Geld auf einem Haufen hatten sie ihr ganzes Leben noch nicht gesehen. Gilon war einen Moment sprachlos.

Als er anfing, die Geldstücke vom Tisch zu nehmen, sagte der große Holzfäller schließlich sichtlich bewegt: »Danke, Kitiara. Das hilft uns sehr.«

Kit hatte die große Geste genossen, und sie wollte wirklich helfen. Aber als sie sah, wie Gilon das Geld zählte, fühlte sie doch einen Stich. Sie war auf der Heimreise nicht gerade sparsam gewesen, indem sie sich unterwegs mehr als nur einmal ein weiches Bett in einem Gasthaus gegönnt hatte. Nachdem sie Gilon jetzt diese Münzen gegeben hatte, war sie praktisch pleite, was bedeutete, daß sie länger in Solace festsitzen würde, als ihr lieb war.

Ach was, dachte Kit bei sich, ich bin schon einmal ohne einen Heller aufgebrochen. Im Notfall kann ich das wieder tun.

Am Abend kletterte Kitiara die Leiter zu ihrer Schlafstatt hoch und warf einen Blick auf ihr altes Quartier. Groß war es ihr noch nie vorgekommen, wenigstens hatte es ihr früher ein bißchen Ruhe beschert. Doch jetzt wirkte es eng und schäbig. Todmüde streckte sie sich auf ihrem Strohsack aus und bemerkte dabei selbst, daß sie in den letzten paar Monaten gewachsen war, denn ihre Füße hingen gut zwei Fingerbreit über den Bettrand.

Von unten hörte Kit, wie Raistlin sich im Schlaf herumwarf und stöhnte. Die Jungen waren länger aufgeblieben als gewöhnlich und waren sehr müde, als sie sich schließlich hinlegten. Raist bekam dann oft Alpträume. Kit hörte, wie Caramon aufstand, um zu Raistlin ins Bett zu klettern und ihn zu beruhigen.

Aus Gilons und Rosamunds Kammer kam ein rhythmisches Schlurfen. Wenn Rosamund in Trance herumwanderte, mußte ihr Gilon nachts mitunter wirklich eine Schlinge um die Hand binden und sie an den Bettpfosten fesseln. Dann lief Rosamund neben dem Bett auf und ab und murmelte die ganze Nacht vor sich hin. Heute war das offenbar wieder einmal der Fall.

Wieder daheim, dachte Kit und seufzte. Trotzdem war sie froh, in Solace zu sein – vorläufig. Sie wollte sich sofort überlegen, wie sie ihren Aufenthalt abkürzen konnte, doch bevor sie eine Lösung fand, übermannte sie der Schlaf.


Das Aufwachen fiel ihr schwer. Kit streckte sich auf ihrer zu kurzen Unterlage. Aus dem Geflüster, das von unten kam, schloß sie, daß Gilon und Raist sich bereits für ihren langen Weg nach Teichgrund rüsteten und daß der Rest der Familie noch schlief. Es war früh – erst kurz nach Sonnenaufgang –, als sie sie aus der Tür schlüpfen hörte.

Kit wartete noch einen Augenblick, bis sie ganz sicher fort waren, bevor sie ein paar Kleidungsstücke nahm und vom Dachboden herunterstieg. Als sie unten ankam, war Caramon schon auf. Auf die Ellenbogen gestützt, lächelte er sie verschlafen an.

»Was ist mit deiner Schule, Caramon? Wann mußt du da sein?«

»Ich muß in einer Stunde los, falls ich gehe. Wenn Mutter einen Anfall hat, bleibe ich meist zu Hause, damit ihr nichts passiert. Was ist mit Frühstück? Vater läßt mir normalerweise was da.«

Kit fand ein Honigbrot, das im Vorratsschrank beiseite gelegt war. Allzu gut war der Schrank nicht bestückt. Sie schmierte sich selbst eine Scheibe und holte noch mehr Essen für sich und Caramon zum Frühstück heraus.

»Was machen wir nach dem Essen?« fragte Caramon gespannt. »Soll ich dir meinen Scheinangriff zeigen?«

»Schling nicht so«, ermahnte Kit ihren kleinen Bruder, der angefangen hatte, sein Frühstück in sich hineinzustopfen.

»Zuerst muß ich auch mal was essen, und bevor ich dann etwas anderes mache, muß ich mich um Cinnamon kümmern, die braucht Futter und Wasser. Vielleicht hinterher.«

»Ich habe dein Holzschwert genommen, solange du fort warst, das, was Gregor dir dagelassen hat«, sagte Caramon, der fröhlich weiterplapperte. »Ich hoffe, da hast du nichts dagegen. Zum Üben ist das nämlich ganz toll. Allerdings bin ich jetzt zu groß dafür – jetzt, wo ich ein echtes Schwert habe.«

Kitiara langte über den Tisch und verpaßte ihm eine Kopfnuß.

»Aua! Was soll das?« fragte Caramon.

»Für deine Dämlichkeit«, antwortete Kit. »Das richtige Schwert läßt du zu Hause, bis du größer bist. Das hat mir mein Vater jedenfalls eingeschärft: Zeig nie ein Schwert, wenn du es noch nicht richtig benutzen kannst. Und soweit bist du die nächsten Jahre noch nicht. In der Zwischenzeit ist ein Holzschwert genau richtig für einen Knirps wie dich.«

»Och«, sagte Caramon zerknirscht.

»Aber, Kitiara, du bist ja wieder da.«

Kit schrak hoch, als sie ihren Namen hörte, und drehte sich zu Rosamund um, die auf der Schwelle zu ihrer Schlafkammer stand. Ihre Mutter war aufgewacht, lächelte und war im Moment bei klarem Verstand. Sie schien nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen und wirkte fast wie eine Greisin.

Weder Rosamunds geisterhafte Erscheinung noch ihre veränderte Gemütslage schienen Caramon besonders zu beeindrucken, der glücklich zu seiner Mutter hinsprang, sie umarmte und küßte.

»Ja, ist das nicht toll? Sie ist gestern zum Abendessen nach Hause gekommen. Sie hat mir ein richtig wertvolles Schwert mitgebracht, Mutter.«

Caramon nahm Rosamund jetzt an der Hand und führte sie zur Kochstelle. Dort ließ er sie los und holte schnell den bequemen Lehnstuhl aus Eschenholz, Rosamunds Stuhl, den Gilon eigenhändig gebaut hatte. Caramon schob ihn ans Fenster, wo die Sonne hereinschien. Rosamund sank in den Stuhl und lehnte den Kopf zurück. Anscheinend hatte sie allein der kurze Weg durch den Raum schon erschöpft.

Kit sah, wie schwach Rosamunds Verfassung war. Heute würde Caramon nicht zur Schule gehen. »Soll ich Teewasser für dich aufsetzen, Mutter?« fragte der Junge.

Rosamund lächelte. »Das klingt gut, Schatz.«

Caramon holte eifrig den Kessel. Kit sah deutlich, daß er ihr beweisen wollte, daß er bereits ganz alleine Tee kochen konnte.

Als Rosamund einen Schluck Tee nahm, zeigte Caramon ihr stolz das Schwert, das Kit ihm mitgebracht hatte. Während er neben ihr kniete, streichelte sie seine goldbraunen Haare. Die ganze entrückte Aufmerksamkeit ihrer Mutter galt dem Jungen. Obwohl Kit wochenlang fort gewesen war, nahm Rosamund ihre Tochter kaum wahr. Je länger Kit unbeachtet dastand, desto mehr ärgerte sie sich über die idyllische häusliche Szene, von der sie sich ausgeschlossen fühlte.

»Und, Caramon?« unterbrach sie scharf. »Wollen wir jetzt mit den Schwertern üben oder nicht?«

»Na klar!« Er sprang schon auf.

»Holst du mein Schwert auch, ja?« bat sie ihn.

Caramon griff unter sein Bett und holte sowohl Kitiaras altes Holzschwert als auch das mit dem kleinen Griff hervor, das Gilon ihm geschnitzt hatte. Während der Möchtegernkämpfer begeistert beide Holzklingen durch die Luft sausen ließ, warf Kit einen Blick auf Rosamund, die mit verletztem Gesichtsausdruck in ihrem Stuhl zusammengesackt war.

»Erst müssen wir nach Cinnamon sehen«, erinnerte Kit. »Ich bring’ dir mal bei, wie man ein Pferd pflegt. Das sollte ein Krieger auch wissen.«

Caramon schoß ohne einen weiteren Blick auf seine Mutter zur Tür hinaus.


Caramon und Kitiara trainierten ein paar Stunden lang. Kit benutzte ihr altes Holzschwert, womit sie sich kindisch vorkam, doch sie würde bestimmt nicht Becks Schwert herausholen, damit Caramon – oder wer auch immer vorbeikommen würde – es sehen konnte. Caramon schwang das Schwert, das er von Gilon hatte. Es war kürzer als ihres, aber stabiler. Beide Spielzeugwaffen waren so scharf, daß es weh tat, wenn sie trafen.

Bruder und Schwester setzten einander unten am Schuppen hart zu. Kit mußte eingestehen, daß Caramon sich enorm verbessert hatte. Was ihm an Technik fehlte, machte er durch Behendigkeit und Entschlossenheit mehr als wett. Sie konnte ihn zwar treffen, aber nicht mehr in die Enge treiben. Der forsche Sechsjährige runzelte konzentriert die Stirn, auf der ihm die schweißnassen Haare klebten, doch er wurde langsam müde. Kit ging es ebenso, aber keiner wollte aufgeben.

»Gehen wir an den See«, machte Kit schließlich ein Friedensangebot.

Nicht weit von ihrem Haus entfernt lag der Krystallmirsee – Altweibersee, wie die Kinder ihn manchmal nannten, weil der Legende nach eine Hexe dort herumspukte. Hin und wieder wurde das alte Weib von einem Fischer gesichtet, der zuviel getrunken hatte, oder von einem Gnom auf Wanderschaft, der sich, wenn er die Geschichte hörte, zwei oder drei Tage lang ans Seeufer setzte und sein Absolut-alles-durchschauendes-Aquaskop ausprobierte.

»Gute Idee«, meinte Caramon, der vor ihr herlaufen wollte. Kit überholte ihn an einer Biegung ohne Mühe.

Das Ufer war teils moosbewachsen, teils sandig, der See still. Am Wasserrand hatten sich Stöcke, Blätter, tote Insekten, Wasserpflanzen und Seerosen angesammelt.

Eine Stunde lang erforschten sie das Ufer, wobei sie häufig stehenblieben, um große Steine umzudrehen und kleinere über die Wasseroberfläche hüpfen zu lassen. Caramon watete hinein, um Krebse zu fangen, die ihm jedoch aus den ungeschickten Händen entwischten. Kit grinste, als er einen von ihnen beschimpfte, dem es gelungen war, ihn in den Finger zu zwicken. Als ihr Bruder rückwärts in Wasser kippte und klatschnaß wieder auftauchte, brach sie in schallendes Gelächter aus.

Oben am Ufer wrang Caramon sein Hemd aus, während Kit faul auf dem Rücken lag und sich wunderte, wie sie das gute alte Solace so bald schon wieder langweilen konnte.

»Kit?«, fragte Caramon, der angestrengt das Wasser aus seinem Hemd drückte.

»Ja?« antwortete sie verträumt.

»Hast du je das alte Weib gesehen?« wollte er wissen.

»Was für ein Weib?«

»Das vom Altweibersee.«

»Ach«, meinte sie mit geschlossenen Augen. »Das ist bloß so eine Geschichte, um kleinen Kindern angst zu machen.«

»Das sagt Raist auch«, gab Caramon kleinlaut zu.

Anschließend gingen sie nach Hause, sahen nach Rosamund, die schlief, und beschlossen, Cinnamon ein bißchen Bewegung zu verschaffen. Während Kit die Stute sattelte, scharrte Caramon ziellos herum und durchwühlte den Schuppen.

»Kit! Was ist das denn? Das hast du mir gar nicht gezeigt. Wo hast du das her? Das ist wunderschön!«

Kit fuhr herum und sah, daß Caramon mit Becks Schwert herumfuchtelte. Wütend riß sie es ihm weg und packte es schnell wieder ein. Dann schob sie es tiefer ins Stroh bis hinter einen Steinhaufen.

»Wo das herkommt, geht dich nichts an«, sagte sie ergrimmt. »Keiner darf erfahren, daß ich das habe. Verstanden? Niemand! Bei deiner Kriegerehre, versprich, daß du es vergißt.« Drohend baute sie sich vor ihrem kleinen Bruder auf.

»Bei was?«

Kit hob die Hand.

»Ja, ja, schon gut, versprochen.«Später gingen sie reiten. Kit saß hinter Caramon und hatte die Arme um ihn gelegt, so daß sie beide die Zügel halten konnten. Nachdem sie die Fuchsstute hinter dem Wald ins hohe Gras gelenkt hatten, ritten sie ein paar Stunden kreuz und quer durch das freie Gelände, wobei sie so lachten, daß sie fast vom Pferd fielen. Wie gut sich der Wind anfühlte!

Als sie vom Reiten zurückkamen, war schon fast der ganze Tag vergangen. Um diese Zeit kam Raist gewöhnlich heim. Caramon erzählte Kit, daß sein Zwillingsbruder an manchen Tagen länger blieb und dann in Teichgrund übernachtete. Eine Reihe von Lehrlingen stammten von weiter fort und wohnten in der Zauberschule, weshalb es gute Zimmer gab. Aber meistens lief Raistlin lieber den langen Weg nach Hause. Als Kit nach dem Grund fragte, erwiderte Caramon mit nachdenklicher Miene:

»Er hat dort nicht viele Freunde. Er hat mir erzählt, daß sie ›der Schlaue‹ zu ihm sagen. Ich glaube, weil er klüger ist als alle anderen. Er ist immer als erster mit seinen Aufgaben fertig und kann sich die Zaubersprüche am besten merken.« Caramon machte eine kurze Pause, sah auf seine Zehen hinunter und trat beim Gehen nach einem Stein. Er runzelte die Stirn.

»Morat mag ihn anscheinend auch nicht besonders. Der Zaubermeister denkt sich immer wieder besondere Aufgaben für ihn aus. Das ist der Grund, warum Raist über Nacht bleibt; wenn er nämlich zu viele Extraaufgaben hat.«

Vor dem Aufstieg zum Haus Majere blieb Caramon stehen, die Fäuste in die Seiten gestemmt. »Ich weiß, ich sollte ihm helfen, aber ich weiß nicht, wie. Ich weiß, ich müßte mich um Raistlin und Mutter kümmern, wenn du nicht da bist. Vater versucht es ja, aber er arbeitet von morgens bis abends, bloß damit wir etwas zu essen auf dem Tisch haben.«

In diesem Augenblick war Kit stolz auf Klein-Caramon. War er nicht in mancher Hinsicht genau wie sie? War sie nicht auch erst sieben gewesen, als Gregor sie mit Rosamund allein zurückgelassen hatte? Und hatte sie nicht mit acht die volle Verantwortung für die Pflege der Zwillinge übernommen?

Da tauchte Raistlin vor ihnen auf. Seine Kleider waren schmutzig und zerrissen. Ein Auge war zugeschwollen, und seine Oberlippe blutete.

»Wer war das?« fragte Caramon herrisch.

Raist schob sich mit zitternder Unterlippe an den beiden vorbei in Richtung Haus, ohne eine Wort zu sagen. Drinnen stürzte sich Rosamund auf der Stelle aufgeregt schluchzend auf ihn. Sie setzte ihn auf einen Stuhl, um seine Lippe und die Kratzer zu säubern. Caramon lief vor der Tür auf und ab und schwor Rache. Kit hielt sich abseits, während sie die Szene besorgt beobachtete.

Anschließend zog sich Rosamund in den Anbau zurück, und Raistlin und Caramon begannen zu streiten.

»Wenn ich bei dir gewesen wäre, wäre das nie passiert«, sagte Caramon, der sich in die Brust warf.

»Mach dich nicht lächerlich. Das ist etwas zwischen mir und – «

»Caramon, reg dich ab«, befahl Kit. »So, Raist, jetzt erzähl uns, was passiert ist. Ich glaube, wir sind uns einig, daß jede Rache von uns allen dreien viel süßer sein wird als alles, was du allein aushecken kannst.« Ihr Ton ließ keine Widerrede zu.

»Ich war auf dem Heimweg von der Schule, kurz vor Solace, da wo die jungen Bäume stehen«, fing Raistlin langsam an. »Ich war gerade aus der hellen Sonne in den Schatten dieses Waldstücks gekommen, und meine Augen hatten sich noch nicht ganz an das Zwielicht angepaßt, darum weiß ich nicht genau, was passiert ist. Aber irgend jemand oder irgend etwas ist in dem Moment auf mich heruntergesprungen, als ich gestolpert bin. Ich glaube, über ein Seil, das quer über den Pfad gespannt war. Ich bin mit dem Gesicht auf ein paar Steine geknallt, davon habe ich die aufgesprungene Lippe.

Bevor ich wieder klar denken konnte, waren meine Hände und Füße gefesselt. Ich habe gesehen, wer mich gefesselt hat – das war Dune Wister. Sein Bruder Bronk war bei ihm. Sie haben sich darüber lustig gemacht, daß ich ein Zauberkundiger bin. Dann haben sie meine Taschen durchsucht. Ich hatte natürlich kein Gold oder Silber, aber sie haben die Beutel genommen, die du mir für meine Zauberzutaten gegeben hast, und haben statt dessen Fledermausmist hineingetan. Dann sind sie lachend weggerannt, und ich habe ziemlich lange gebraucht, um mich zu befreien.«

Raist sah ganz kurz so aus, als wenn er gleich weinen würde, doch dann unterdrückte er die Tränen standhaft.

»Diese Schweine!« fuhr Caramon auf.

»Ruhe!« fauchte Kitiara.

»Dune und Caramon sind in der Schule in einer Klasse«, fuhr Raist fort. »Dune ist genau wie sein Bruder, ein fetter Raufbold. Jedesmal, wenn er uns sieht, zieht er über Mutter her.« Raistlins Stimme wurde etwas gedämpft.

»Erzähl ihr vom letzten Mal«, drängte Caramon.

»Letztes Mal«, berichtete Raistlin nach einem Blick auf seinen Bruder, »war ich vorbereitet. Wir haben in Teichgrund bis jetzt noch nicht viele Zauber gelernt, bloß ein paar einfache Illusionen. Für die eine braucht man nur getrocknete Käferflügel, die ja leicht zu bekommen sind. Darum hatte ich welche dabei. Und als Dune dann anfing, etwas über Mutter zu sagen, hat Caramon ihn festgehalten und ich hab’ den Zauber gesprochen. Jedesmal, wenn er den Mund aufmachte, um etwas zu sagen, kamen Viecher raus.« Raistlin und Caramon grinsten bei der Erinnerung daran.

»Viecher?« wiederholte Kit.

»Na, Käfer und Ameisen, Tausendfüßler und Fliegen. Dune konnte nicht mehr den Mund aufmachen, ohne Viehzeug auszuspucken. Der Spruch sollte ein paar Stunden anhalten; darum glaube ich, daß es ihm an dem Tag bestimmt keinen Spaß mehr gemacht hat, andere zu ärgern.«

Trotz seiner Kratzer und der geschwollenen Lippe wirkte Raistlin stolz. Caramon grinste jedoch nicht mehr. »Wir sollten es auf meine Weise beilegen«, erklärte er wild. »Wir sind drei gegen zwei. Bronk und Dune werden es nicht wagen, Raist noch einmal anzuspringen.«

Raistlin sah seinen Zwillingsbruder finster an, doch Kit kam ihm zuvor.

»Ein guter Kopf ist mehr wert als ein Dutzend gestandene Krieger«, sagte sie mit Nachdruck. Das war einer von Gregors Wahlsprüchen, den die Zwillinge schon öfter von Kitiara gehört hatten.

»Kommt her«, sagte sie, während sie ihre kleinen Brüder nah zu sich heran zog. »Ich habe eine Idee.«

Die Sonne war gerade aufgegangen, als Kit den Zettel unter der Tür durchschob. Sie hoffte, daß Bronk – der Älteste – als erster zur Arbeit aufstehen würde. Wenn Aurelie damals vor ein paar Monaten recht gehabt hatte, würde Bronk einer Einladung von Kitiara nicht widerstehen können, selbst wenn sein bißchen Verstand ihm sagen sollte, daß die Umstände verdächtig waren.

Mein Herz hat schneller geschlagen, als ich dich neulich sah. Wir treffen uns bei Sonnenuntergang am Ende des Wegs zum Krystallmirsee.

Voller Sehnsucht, Kitiara.

Weil Raistlin immer noch über Schmerzen klagte, ging er heute nicht nach Teichgrund. Gilon zog bei dieser Ausrede die Augenbrauen hoch, denn Raist war selbst mit hohem Fieber immer ganz versessen auf die Schule gewesen. Aber Gilon hatte seine eigenen Sorgen, und Raists Schauspielerei überzeugte ihn.

Nachdem Rosamund den Zwillingen fürsorglich Frühstück gemacht hatte, war sie erschöpft, und sie döste in ihrem Lieblingsstuhl ein.

Kit, Raist und Caramon liefen den ganzen Tag geheimnistuerisch rein und raus. Nachdem sie sich ein letztes Mal flüsternd abgesprochen hatten, verschwand Kit am Spätnachmittag mit einem Bündel unterm Arm. Keiner von ihnen kam zum Abendbrot nach Hause, so daß Rosamund sich große Sorgen machte.

»Keine Bange«, sagte Gilon, als er nach Hause kam. »Die hecken sicherlich nur einen dummen Streich aus.« Er strich seiner Frau beruhigend über die weißen Haare. Doch auch Gilon machte sich Gedanken.

Kit hatte sich einen Aussichtspunkt auf einem Hügel gesucht, von dem aus man den Pfad zum See überblicken konnte. Dort hielt sie Wache. Wie erwartet tauchte Bronk eine gute Stunde vor Sonnenuntergang auf, um die Gegend mißtrauisch nach Fallen abzusuchen. Er ging gründlicher vor, als sie erwartet hatte, ließ sich dann aber auf einem Baumstumpf am Rande des Sandufers am See nieder.

So ein Pech. Eine Weile zuvor hatten die Zwillinge an der anderen Seite von genau diesem Stumpf eine Leine festgemacht, die ins Wasser lief. Kit wollte nicht, daß Bronk womöglich am Stumpf herumzustochern begann, deshalb zog sie schnell ihre Tunika und die Hose aus und rollte dann das Bündel aus, das sie von zu Hause mitgebracht hatte.

Im frischen Wind flatterte ein hauchdünnes geblümtes Kleid, das Rosamund früher mal getragen hatte. Kit betrachtete das Kleid etwas mißmutig, schlüpfte dann jedoch hinein. Die lebhaften Farben hoben sich von ihren dunklen Haaren ab.

Bronk bohrte mit der Stiefelspitze müßig im Sand herum. Kit blickte den Pfad nach Solace hoch. Keine Spur von den Zwillingen, doch sie hatte keine Wahl. Sie mußte mit der Farce beginnen.

Während sie darauf achtete, daß Bronk sie nicht sah, schlich Kitiara eilig zur Rückseite des Hügels, auf dem sie Wache gestanden hatte, und betrat dann den Weg. Zum Glück bemerkte er sie gleich und hörte mit dem Scharren im Sand auf.

Sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Ich bin so froh, daß du gekommen bist, Bronk«, sagte sie gedämpft. »Ich hatte nicht damit gerechnet, daß der Weg hierher so finster sein würde.«

Bronk mißverstand ihren Seufzer als Flirtversuch. Als sie näher heranglitt, konnte Kit sehen, daß sein Mund offenstand. Er war eindeutig überrumpelt.

»Tja, ich, äh, ich… was sollte die Geheimnistuerei, Kitiara?« stammelte er, während er sich in die Brust warf, um möglichst männlich zu erscheinen.

»Ach«, setzte Kit an, »es ist einfach so, daß ich dich schrecklich lange nicht gesehen habe.«

»Du warst fort«, sagte Bronk und klang etwas beleidigt. Nervös blickte er sich um. »Alle haben sich gefragt, wo du warst. Keiner wußte was Genaues. Nicht einmal deine Brüder, glaube ich. Wo bist du denn gewesen?«

»Ist das so wichtig?« fragte sie und senkte den Kopf. Sie versuchte es mit leichtem Schniefen. »Ist sowieso alles vorbei.«

»Was ist vorbei?« wollte er wissen.

»Ist das so wichtig?« wiederholte Kit geheimnisvoll. Schnief, schnief.

Bronk kam näher und legte ihr unbeholfen einen Arm um die Schultern.

Wo waren Caramon und Raist? Wie lange mußte sie es noch mit diesem Esel aushalten und ihn an diesem Baumstumpf herumstehen lassen?

»Na schön«, meinte Bronk selbstzufrieden, »es freut mich, daß du deinen Fehler einsiehst. Ich hatte immer gedacht, daß wir… also, daß du und ich… ich meine, auch wenn ich deine blöden Brüder nicht mag, hab’ ich immer gedacht, daß wir zwei Freunde sein könnten. Mehr als Freunde.«

Das war eine für Bronk ausgesprochen lange und fast ausgefeilte Rede gewesen. Und er wirkte danach erschöpft und dazu verwirrt, als hätte er mehr verraten, als er ursprünglich vorgehabt hatte. Wieder schossen seine Augen nervös herum. Dann drückte Bronk Kit vorsichtig an sich.

»Was soll das heißen, ›mehr als Freunde‹?« fragte sie naiv und klimperte mit den Wimpern. Wo waren ihre verdammten Brüder? Aber Bronk, den nur sein nächster Zug beschäftigte, bemerkte die angespannte Haltung ihrer Schultern nicht.

Sein Arm legte sich fester um sie. Kitiara lächelte ihn an und hoffte dabei, er würde nicht merken, daß sie die Zähne zusammenbiß.

Bitte! Viel länger konnte sie das nicht aushalten.

In diesem Moment hörten sie vom Weg her Jungenstimmen.

»Wer ist das denn?« fragte Bronk sichtlich verstimmt.

Die Stimmen wurden lauter, bis Kit und Bronk ein paar Worte verstehen konnten.

»Das nimmst du sofort zurück«, schimpfte Caramon.

»Mein Bruder würde niemals – «

»Vielleicht glaubst du es ja, wenn du es selber siehst.« Das war Raist.

Bronk hatte seine Hand von Kits Schultern genommen und sah sie erneut argwöhnisch an. Als er schließlich gewahr wurde, daß er wirklich Dunes Stimme hörte und dazu die Zwillinge, regte er sich auf.

»He, was soll das?« fragte er Kitiara mit einem Schubs gegen die Schulter.

Dune kam um die Ecke. Er war zwischen Caramon und Raistlin eingeklemmt, die ihn regelrecht vorwärts schoben. Als er seinen Bruder neben Kit stehen sah, riß er die Augen auf.

Dune war ein einfältiger kleiner Kerl, der seinen großen Bruder vergötterte. Caramon und Raistlin hatten ihm erzählt, daß Bronk heimlich Kit den Hof machte. Dune konnte nicht glauben, daß sein Bruder um das Mädchen warb, über das Bronk so viele gemeine Sachen gesagt hatte. Mit einer Wette hatten die Zwillinge den Jungen zum Krystallmirsee gelockt, um den beiden angeblichen Turteltauben aufzulauern und das Verhältnis zu beweisen.

»Bronk!« schrie Dune entgeistert.

»Das ist eine ganz üble… verfluchte…« Bronk spie noch ein paar Wörter aus, doch die waren nicht mehr zu verstehen.

Kit hatte vorgehabt, alle nah ans Wasser zu locken, doch jetzt hielt sie es für richtig, gleich zu handeln, solange Bronk noch durcheinander war. Sie huschte um den Stumpf und zog an dem versteckten Seil.

Nichts.

Sie zog noch einmal fester. Diesmal merkte sie, wie am anderen Ende etwas nachgab.

Kitiara gab Raist ein Zeichen, woraufhin der zurückblieb. Er stand in seiner besten Zauberpose bereit.

Nach ein paar leisen Sätzen von Raist begann die Oberfläche des Sees dicht bei dem Ufer, an dem sie standen, zu blubbern und zu brodeln. Das merkwürdige Geräusch erregte Bronks und Dunes Aufmerksamkeit. Auf der Stelle ließ das Interesse der Brüder an ihrer Privatfehde nach. Sie erstarrten und blickten wie gebannt auf den See.

»Was ist das?« flüsterte Bronk Kit ängstlich zu.

Gut. Keiner dachte mehr an Raistlin.

Dunkle Rauchschwaden und hohe Flammen loderten vom Sandufer hoch. Die Wasseroberfläche kochte, und langsam erhob sich eine riesige Gestalt.

Im Rauch und im Zwielicht war schwer zu erkennen, was die Gestalt wirklich darstellte. Etwas, ein Wesen, menschenähnlich, aber viel größer, dem nasse Tentakel aus schleimigen Pflanzen von den Seiten hingen. Plötzlich glühte ein orangerotes Feuer aus den leeren Augenhöhlen, und seine Arme begannen sich zu bewegen, als würde das schreckliche Ding ans Ufer kommen.

»Das ist das Weib!« flüsterte Caramon Dune ins Ohr.

»Das Weib!« schrie Dune entsetzt. »Das ist das Weib!«

Schreiend vor Angst, rannten sich Bronk und Dune fast gegenseitig über den Haufen, während sie den Pfad hochrasten. Die am See Zurückgebliebenen konnten ihr Kreischen noch minutenlang hören, ehe es in der Ferne verklang.

Kit, Raist und Caramon brachen lachend im Sand zusammen. Dann lenkte sie ein lautes Zischen aus dem Wasser ab. Als sie aufblickten, sahen sie, wie die schauerliche Gestalt langsam in sich zusammenfiel.

»Ich hab’ mich schon gefragt, wie lange diese Schafblasen die Luft wohl halten würden«, meinte Raist, der mit einem Mal nachdenklich wurde. »Als wir das Ding in den Käfig stopfen und versenken mußten, hatte ich Angst, die Luft würde rausgehen und es würde nicht hochkommen, wenn Kit den Deckel wegzog.«

»Du hattest Angst?« rief Kit japsend vor Lachen aus. »Bronk hätte mich um ein Haar geküßt!«

»Hast du gesehen, wie sie davongerannt sind?« fragte Caramon mit glühendem Gesicht und strahlenden Augen. »Wird eine ganze Weile dauern, bis einer von denen uns wieder ins Gesicht sieht.«

»Es wird eine ganze Weile dauern, bis sie sich gegenseitig wieder ins Gesicht sehen können«, fügte Raistlin ernst hinzu.

»Natürlich«, mußte Caramon unbedingt noch hinzufügen, »hätte ich sie auch plattmachen können, wenn ihr zugelassen hättet, daß ich die Sache auf meine Art regele.« Er nahm eine verletzte Haltung ein. »Aber das war natürlich lustiger«, gab er kurz darauf zu. »Gute Arbeit, Raist.«

»Das ›Monster‹ hast du gebaut«, sagte der.

»Das Ding da lassen wir hier«, meinte Kit, die aufgestanden war, um die Reste ihrer Schöpfung anzusehen. »Bronk und Dune kommen bestimmt tagsüber zurück, um die Sache zu untersuchen. Dann können sie sehen, wovor sie davongelaufen sind – Birkenrinde, ein leeres Bierfaß, Schafblasen und alte Lumpen. Das war die Hexe vom Altweibersee.«

Wieder lachten sie.

»Morgen erzählen wir es überall, stimmt’s?« rief Caramon begeistert. »Das wird ihnen eine Lehre sein.«

»Nein«, sagte Raist.

Caramon wunderte sich, doch Kit nickte. Sie verstand.

»Sollen sie sich doch fragen, warum wir es niemandem erzählen«, sagte Raist weise. »Sollen sie sich doch fragen, wann wir damit anfangen.«

Auf dem ganzen Rückweg zur Hütte lachten sie, während sie noch einmal ihren fabelhaften Streich an Dune und Bronk durchspielten. Zu Hause war sogar Kit entzückt, denn Rosamund hatte Vanillepudding gekocht.

Fast seit dem Moment ihrer Rückkehr nach Solace brannte Kitiara vor Ungeduld. Doch während die Tage kürzer wurden und der Herbst nahte, blieb Kit weiter im Haus Majere. Ehe sie sich versah, war schon wieder der Winter angebrochen, dann der Frühling, dann ein weiterer Sommer.

Kit wollte unbedingt wieder fort, doch sie hatte kaum Geld und kein rechtes Ziel. Es gab nichts Neues über ihren Vater, und sie war so weit von Silberloch entfernt, daß sie nicht erwarten konnte, irgend etwas Neues von Ursa zu hören. Sie wußte ja auch, daß der Söldner nie wieder in diesen Teil der Welt zurückkehren wollte.

Meistens kümmerte sie sich um Caramon und Raistlin, doch die beiden beschäftigten sich nur mit ihrer Schule und waren inzwischen so selbständig, daß Kitiara sich kaum um sie zu kümmern brauchte.

Rosamunds Gesundheitszustand hatte sich erneut verschlechtert. Die meiste Zeit hatte sie keine Ahnung, daß Kit wie früher oben in ihrem kleinen Kabuff lebte. Rosamund war so schwach, daß sie teilweise wochenlang bettlägerig war. Wenigstens konnte man sie so leicht pflegen. Auf Gilons Bitte hin kam Bigardus mehrmals in der Woche ins Haus.

Kits alte Freundin Aurelie Damark hatte sich zur Frau entwickelt und einen festen Freund gefunden, Ewen Low, einen Kadetten der Miliz. Wenn die beiden jungen Mädchen sich trafen, kicherten und tratschten sie wieder wie früher, doch Aurelies Mutter sorgte dafür, daß Kit möglichst wenig eingeladen wurde.

Der nächste Winter kündigte sich an. Als das Wetter kälter wurde, hockte Kit häufiger bei Otik, um sich die Reisenden anzusehen, die durch Solace zogen.

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